Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel. Ulla Rogalski. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulla Rogalski
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783844272680
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Brief aus England bekommt Frau Haag dann neue, unwesentlich bessere Fotos der Tischchen. Ein hilfsbereiter Seniorenheim-Betreiber ist eben kein Profi-Fotograf!

      Jetzt sammelt Frau Haag bei ihren England-Besuchen mit Akribie Daten und Informationen von Bertha. Sie versucht mit ihr den Inhalt ihres „Allerheiligsten“, ihrer Hutschachtel durchzugehen, in der die über 85-Jährige Persönliches aufbewahrt. Man sieht die Listen der Dinge durch, die ab 1985 an das Victoria & Albert Museum beziehungsweise deren „Archives of Art and Design“ gegangen sind, und die begleitende Korrespondenz des Museums. In Heidelberg wird der bruchstückhafte Lebenslauf mit der Schreibmaschine aufgelistet. Im Sommer 1990 stirbt Bertha Sander in Justins, wo Ted und Jane Francis, das Betreiber-Ehepaar des kleinen Altenheimes, sich intensiv und liebevoll um sie gekümmert haben. Berthas Testament entsprechend erhalten die Erben ihre Anteile. Die besagte Hutschachtel aber geht an Icki Franziska Haag in Heidelberg, zuletzt wahrscheinlich Berthas engste und einzige Vertraute.

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      Berthas Rosentapete und andere Entdeckungen

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      „Berthas Rosentapete“, „ihre“ Zeichnung und die Signatur von D. Peche

      Immer wieder war und ist von Berthas schöner Rosentapete die Rede. Frau Haag schwärmt regelrecht davon und kann sie mir im Winter 1990/91 endlich im Original zeigen. Denn Abschnitte davon stecken in der von Bertha geerbten Hutschachtel. Also sichten wir gemeinsam den Inhalt und schauen die Informationen durch, die Icki Haag inzwischen gesammelt hat. Zur Rosentapete fällt ihr noch der Zahnarzt und Freund Dr. Hans Thünker ein. Er ist Witwer von Berthas Schulkameradin Elisabeth, genannt Li. Beide haben Bertha vor und nach dem Krieg in London besucht. Auch nach dem Tod seiner Frau korrespondierte Thünker, der mit seinem Spitznamen „der Mopp“ unterschreibt, regelmäßig mit Bertha. Die beriet einst das Brautpaar bei der Ausstattung seiner ersten Wohnung und ließ im Flur an Wand und Decke die gepriesene Rosentapete verkleben. Um Erinnerungen und Überlieferungen zu sammeln, lädt Frau Haag zu einem „Bertha-Hutschachtel-Abend“ ein. Außer dem agilen Dr. Thünker kommt noch Heidi Schneider. Deren Mutter arbeitete mit Berthas Mutter Clara in der Reformkleider-Bewegung zusammen und ihre Schwester ging mit Bertha in eine Klasse. Auch Frau Schneider selbst hatte später Kontakt zu Bertha in London. Froh sei die über jeden Kontakt nach Deutschland gewesen, auch wenn sie jemanden nur indirekt kannte und ja selbst nach ihrer Emigration nie mehr nach Deutschland kam. Frau Schneider glaubt, dass sie sich im Exil heimatlos und einsam gefühlt habe. Außerdem ist sich der kleine Freundeskreis einig, dass Bertha sehr unglücklich gewesen sein muss.

      Bald nach der anregenden Gesprächsrunde findet Hans Thünker in seinem Haushalt noch einen Rest der besagten Rosentapete. Er ist musteridentisch mit zwei Tapetenabschnitten aus der Hutschachtel, von denen einer rosé- und einer schwarzgrundig ist. Dann offenbart sich ein überraschender Tatbestand: Berthas Rosentapete ist nicht Berthas Entwurf. Die Schrift auf der Druckkante am schwarzgrundigen Tapetenrest ist angeschnitten, zeigt aber klar: „WIENER WERKSTÄTTE <DIE ROSE> ENTWURF. D. PECHE.“ Nun kommt schon wieder die Wiener Werkstätte ins Spiel, aber in diesem Fall ist nicht Bertha die Schöpferin des Entwurfes.

      Die Wiener Werkstätte und „D. Peche“

      Die Wiener Werkstätte ist ein Begriff in der Kunstgeschichte und auch Peche ist mir bekannt. Zwar habe ich während meines Innenarchitektur-Studiums nie von ihm gehört, aber gerade in den letzten Jahren hat mir ein Kunsthistoriker, der über Peche gearbeitet hat, dessen einzigartiges Schaffen sehr ans Herz gelegt. Auch Nachbarin Haag hat den Namen Peche schon gehört — vielmals und von Bertha. Die habe in ihren späten Jahren noch immer wie ein junges Mädchen von einem charmanten und genialen Mann dieses Namens geschwärmt. Bei der Wiener Werkstätte ist natürlich ein „D. PECHE“ zu finden, er heißt mit Vornamen Dagobert, wurde 1887 geboren und starb bereits 1923 im Alter von nur 36 Jahren. Daher ist sein Name in der Kunstgeschichte auch nicht so präsent wie die von Josef Hoffmann und Koloman Moser, die 1903 die Wiener Werkstätte gründeten. Ziel der Werkstätte war die Erneuerung des Kunstbegriffes im Bereich des Kunstgewerbes und der Einrichtung, so wie es die „Arts and Crafts“-Bewegung in England bereits zuvor auf ihre Art praktiziert hatte. Seit 1911 entwarf Peche Stoffe für die anspruchsvolle Wiener Institution, 1915 wurde er zum Mitglied berufen. Josef Hoffmann kürte den stilistisch eigenwilligen und hochbegabten Architekten zu seinem Nachfolger. Nach Peches frühem Tod wurde Hoffmanns Werk selbst von der neuartigen dekorativen Eleganz Peches beeinflusst.

      Lebenslang geliebtes Muster

      Nun ist klar, „Berthas Rosentapete“ wurde von dem österreichischen Architekten Dagobert Peche für die Wiener Werkstätte entworfen. Bertha hat dieses Muster offenbar sehr geschätzt und gerne verwendet. Ihre alten Bekannten können sich alle nicht erinnern, ob Bertha jemals über die Urheberschaft gesprochen hat. Sie alle kennen bis zu diesem Zeitpunkt diese Tapete nur als „Berthas Rosentapete“.

      Der Signatur auf der Spur

      Als ich mich jetzt mit Peche näher beschäftige, seinen einzigartigen Stil studiere, sein opulentes Schaffen aus wenigen Jahren Revue passieren lasse, kommt ein Gefühl auf, dass etwas mit Berthas in London gezeigter Sessel-Zeichnung nicht stimmt. Die wunderschöne Zeichnung, deren zeichnerische Qualität mich 1986 so beeindruckte, zeigt eine große Nähe zu Peches Werk. Man glaubt hier fast, den eleganten Strich des Frühverstorbenen zu erkennen — wenn sie nicht die Experten des ehrwürdigen Londoner Museums eindeutig Bertha Sander zugeschrieben hätten. Beim Schwelgen in Peche-Arbeiten und Durchblättern von vertiefender Lektüre wird klar: Der Österreicher hatte nicht nur zeichnerisch einen besonderen Stil, auch seine Handschrift wirkte wie Kalligraphie — und er erfand für sich eine besondere Art und Weise, seine Werke zu signieren. Meist band er seine Signatur mit in die Zeichnung ein. Es ist ein langer senkrechter Strich mit einem flachen Bogen, also ein extrem schlankes P. Das steht auf einem Stern mit einem kurzen waagerechten Strich darüber, auf dem zwei Ziffern symmetrisch als Jahreszahlen balancieren. Wer dieses spezielle Zeichen nicht kennt, wird es schwerlich als Signatur erkennen und einem Urheber zuordnen. Es ist eindeutig: Bei „Berthas“ Sesselzeichnung markiert sie zart die Mittelachse und schwebt über der Rückenlehne: Dagobert Peches Signatur. Also kann die Zeichnung Bertha nur gehört haben, sie stammt definitiv nicht aus ihrer Hand. Warum war Bertha der Wiener Werkstätte so nahe und ihr so verbunden — sie, die in Köln wohnte und arbeitete? Da ist die Erklärung schnell bei der Hand: Sie hat, laut eigenen Angaben, in Wien für die Künstlergemeinschaft gearbeitet, was später auch ein Zeugnis belegen wird. Das wirft wieder neue Fragen auf: Wie kam es dazu, was hat sie da gemacht und wie kam die Peche-Zeichnung in ihren Besitz? Nach der Ernüchterung über die tatsächliche Urheberschaft der schönen „Bertha-Funde“ gibt es noch genug spannende Fragen.

      1991 gehe ich zweimal auf Recherche-Reise nach London. Gesichtet wird erst einmal der Bertha-Sander-Nachlass in den „Archives of Art und Design“. Sie gehören zum Victoria & Albert Museum. Dort sind Nachlässe von interessanten Künstlern, Designern, Unternehmen und Vereinigungen aus dem 20. Jahrhundert untergebracht. Mit Voranmeldung kann man sie zu Studien- und Forschungszwecken an Ort und Stelle einsehen. Um als Privatperson zugelassen zu werden, muss man zu jener Zeit noch ein Empfehlungsschreiben einer wissenschaftlich arbeitenden Institution vorlegen können. In den „Archives“ sichte ich die Bestände der Bertha Sander — sie sind sehr umfangreich. Listen werden anlegt, Texte handschriftlich (nur Bleistifte sind erlaubt) abgeschrieben, ein paar Dokumentationsfotos werden aufgenommen. Jetzt sehe ich erstmals die wunderschöne Sesselzeichnung im Original, die vor Jahren mein Interesse für Bertha geweckt hat. Sie liegt allerdings nicht in den „Archives“, sie wird im berühmten Museum selbst, in der Grafischen Sammlung des Hauses, „Print Room“ genannt, aufbewahrt. Im Original und in Farbe wirkt die Zeichnung noch faszinierender. Wenn sie nur von Bertha wäre — dann hätte ich eine Entdeckung gemacht und könnte eine richtig gute Geschichte schreiben. Aber da steht nun einmal „Eigentum der Wiener Werkstätte“ und da ist Peches Signatur. Eine ähnliche Farbskizze ruht auch noch zwischen Berthas Arbeiten in den „Archives“, ebenfalls mit dem „Werkstätte“-Stempel. Der Kurator des „Print Room“, der 1986 die Ausstellung „Designs for Interiors“ zusammenstellte und damit Bertha zu später Freude verhalf,