»Nun, Sie konnten es ja nicht wissen«, erwiderte die Gräfin mit einem giftigen Blick auf Bleibtreu.
Madame Silva stimmte ein: »Aber natürlich, Mister Barker, wie könnten wir Ihnen nicht verzeihen?«
General Partérre war eindeutig verärgert über die Unterbrechung. »Hoffe, wir können jetzt in Ruhe essen. Kann nicht verstehen, wie man ein solches Problem damit haben kann, Fleisch zu essen. Habe im Krieg gelernt, zu nutzen, was man hat. Man gewinnt nicht mit Nettigkeiten. Und Tod gehört zum Leben, sollte Sie doch wissen. Lebt schließlich davon.«
»Ebenso wie Sie, n’est-ce pas?«, antwortete Miro ihm leichthin. »Man könnte sagen, dass der Tod auch das Geschäft des Militärs ist, oder?«
Der General sah von seinem Teller auf und blickte Miro an.
»Ah oui, kein Patriot, war ja klar.« Er sah abfällig zu Becky hinüber, dann zurück zu ihrem Mann. »Dafür einfältig, was? Tod war immer schon das größte Geschäft der Geschichte. Krieg ebenso. Leute sterben. Zum Wohl des Landes. Waren wohl einer von denen, die sich zuhause hinter Frauenröcken versteckt haben, n’est-ce pas?!«
Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, wenn denn jemand sich getraut hätte, eine fallen zu lassen.
Becky schloss kurz die Augen. Sie hatte so gehofft, dass es nicht dazu kommen würde.
Miros Gesicht wurde zu einer blassen Maske. »Sie liegen falsch, Monsieur. Ich war in den Schützengräben, an der Front. Ich habe gesehen, was geopfert wurde. Ich habe die gekannt, die geopfert wurden. Es waren Freunde, die verstümmelt auf den Schlachtfeldern lagen und dort verbluteten. Waren Sie jemals an vorderster Front, mon général?« Er hatte seine Stimme nicht erhoben, aber sein Ton war scharf wie ein Bajonett. »Haben Sie den Hunger gespürt, wurden Sie verwundet, ohne dass irgendwo Medikamente waren, um Ihre Schmerzen zu lindern? Wurden Ihnen Gliedmaßen ohne Betäubung amputiert? Mussten Sie in frostigen Gräben sitzen und jeden Moment damit rechnen, dass Sie oder Ihr Freund neben ihnen von Gewehrfeuer getroffen werden? Sind Sie durch die blutgetränkten Felder gewatet nach einem Gefecht und haben nach Überlebenden gesucht?«
Becky legte Miro ihre Hand auf den Arm. Sie wollte ihn damit beruhigen, wusste aber, dass dieses Thema bei ihm zu tief ging. Er hatte ihr nie im Detail davon erzählt, wie es im Krieg gewesen war. Ebenso wenig wie ihre Brüder. Alle, die gekämpft hatten, schienen sich geschworen zu haben, die Einzelheiten von denen fernzuhalten, die das Glück gehabt hatten, sie nicht zu erleben. Oder vielleicht wollten sie auch einfach vergessen. Becky war sich nicht sicher. Was sie wusste, war, dass es wie eine schwelende Wunde in allen gärte, die dabei gewesen waren. Soviel Hass, dachte sie bei sich, ich weiß nicht, ob wir das je vergeben werden können. Aber ich wünschte mir wirklich, dass wir es könnten.
»Warum sollte ich?« Der General schnitt vollkommen ungerührt ein Stück Roastbeef ab und führte es zum Mund. »Hatte andere Aufgaben, wichtige Aufgaben. Haben uns den Krieg gewinnen lassen. Haben die verdammten Deutschen besiegt, weil wir bereit waren etwas zu opfern.«
»Ja, zu viele Menschenleben auf beiden Seiten«, erwiderte Miro bitter.
»Haben getan was nötig war. Der Krieg ist vorbei. Wir haben gewonnen. Trotz Leuten wie Ihnen.«
Die Worte des Generals schienen nicht nur Miro und Becky zu treffen.
Walther Kellermann mischte sich nun ein: »Vorbei? Als wäre der Krieg vorbei! Sie, Sie Franzmann, es hat ihnen nicht gereicht, unsere Männer zu töten, Sie wollen uns ausbluten lassen. Nicht nur unsere Soldaten, nein, auch alle anderen in Deutschland sollen bluten und immer weiter bluten. Sie nehmen uns unsere Fabriken, unser Geld, unsere Frauen, wenn Sie können, damit uns nichts bleibt, noch nicht mal eine Zukunft!«
Walther Kellermann hieb seine Hand mit einer Wut auf den Tisch, die alle zusammen zucken ließ. »Sie treiben uns alle, jeden einzelnen Deutschen in den Ruin, und wieso? Weil unser Kaiser einen Krieg wollte und ihn verloren hat. Reicht es nicht, ja reicht es denn nicht, dass wir so viele Menschen verloren haben, die wir geliebt haben? Müsst ihr uns auch noch die Möglichkeit nehmen, unser Land wieder aufzubauen?«
»Bitte, meine Herren, Politik ist nun wirklich kein Thema zum Dinner, immerhin sind Damen anwesend«, versuchte Barker vergeblich, die aufgeladene Stimmung zu entspannen.
»Sie waren auch im Krieg, nicht wahr, Mister Barker? Was sagen sie dazu?« Die Frage kam von Ben, der sich bisher eher nicht am allgemeinen Gespräch beteiligt, sondern mehr mit Annett unterhalten hatte.
»Nun, das stimmt, Mister ...« Barker wirkte überrascht.
»Truman, Ben Truman.«
»Ich war tatsächlich freiwillig dort und habe versucht, mit Hilfslieferungen das Elend etwas zu lindern. Aber das ist nichts, was ich beim Dinner diskutieren würde. Meine Herren, vielleicht sollten wir das lieber später mit einer Zigarre im Salon besprechen und jetzt über Erfreulicheres sprechen ...«
So charmant diese Bitte auch vorgetragen war, es war klar, dass Barker nicht bereit war, etwas zu diesem Thema beizutragen. Offensichtlich spricht auch er nicht über seine Erfahrungen im Krieg, dachte Becky. Aber sie war ihm dankbar, dass er versuchte, die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken. Immerhin mussten sie es noch einige Tage gemeinsam an Bord des Luftschiffes aushalten.
»Nichts lieber als das«, antwortete Miro brüsk.
»Ich verzichte nur zu gern auf Diskussionen mit Franzmännern und Mördern«, erklärte Kellermann.
»Walther, die Kinder«, erinnerte Rosemarie Kellermann ihren Ehemann. Er nickte knapp und verstummte, sichtlich aufgewühlt.
Barker schien erleichtert und suchte angestrengt nach einem neutralen Thema. Aber die Stimmung war drückend, so wie in den langen Tagen des Krieges, als die Zuhause Gebliebenen verzweifelt auf jeden Brief, jede Nachricht gewartet hatten, dachte Becky. Als wir auf ein schnelles Ende hofften, das nie kam. Etwas, das auch für dieses Dinner zu gelten schien.
Nur allzu gern hatten die Passagiere den Vorschlag des Kapitäns angenommen, noch einen Kaffee im Palmen-Salon zu trinken. Alle waren aufgestanden, so schnell es die Etikette zuließ, bemüht, das drückende Schweigen und den Ärger hinter sich zu lassen.
Der Salon lag auf der Backbordseite des Luftschiffes zwischen den Kabinen und der Außenhaut mit ihren Panoramafenstern. Am hinteren Ende stand ein kleiner Flügel. Darüber hing eine Malerei, die einen Zeppelin zeigte, der majestätisch über einen schneebedeckten Gebirgszug schwebte. Im Vordergrund sahen Hirten zu der silbern schimmernden Zigarre hinauf und ein Vogelschwarm zog seine Bahn.
Der Salon wurde von einer hüfthohen Balustrade begrenzt. Sie trennte den inneren Bereich mit kleinen Tischen und dem Flügel sowie einer kleinen Bar von dem Panoramagang, der die Gelegenheit bot, an den Fenstern entlang zu flanieren oder auf schmalen Bänken aus dem allgegenwärtigen Aluminium die Aussicht zu genießen. Zahlreiche Palmen in großen Blumentöpfen standen zwischen den Tischen und gaben dem Salon seinen Namen.
Jetzt spiegelten sich die Tische in den Fenstern, was den Raum um einiges größer erscheinen ließ, als er war. Gleichzeitig empfand Becky dadurch ein Gefühl von Abgeschiedenheit, als würde die Spiegelung sie von der Welt da draußen abschneiden, denn von der Arbeit in der Halle sah man nun nichts mehr, da dort die Lichter bis auf das Nötigste gedimmt worden waren.
Becky spürte Miros Hand leicht an ihrer Taille, als er zu ihr, Quebec und Annett sagte: »Wollen wir uns dort vorne hinsetzen?«
Doch Annett, die einige Schritte vor Ihnen lief, steuerte bereits ungewohnt forsch auf einen Tisch in der Nähe