Endlich erreichten sie ihr Ziel: Hólmgarðr, (Neugarten) dem heutigen Weliki Nowgorod, im Lande der Rus.
Hackbart erhob sich feierlich von seinem Sitz. »Gepriesen sei Odin!«, warf er die vom Rudern schwielig gewordenen Hände in die Luft. »Ich werde verrückt! Ich rieche gebratenes Schweinefleisch! Endlich wieder etwas Ordentliches zu essen! Herrlich, ich freue mich, wieder in einem Bett zu schlafen. Und vor allem, wieder ein Weib zu besteigen! Diese Reise war eine Strapaze! Ich habe bestimmt schon Gewicht verloren!«
»Gewiss, mein Freund mit den schweren Knochen! Du hast Gewicht verloren«, lachte Úlrik. »Dir ist nämlich gerade eben beim Aufstehen eine schwere Schinkenhaxe aus der Tasche gefallen!« Dröhnendes Gelächter ertönte.
Sie vertäuten das große Langschiff und luden ihre Waren aus. Jeder nahm so viel mit, wie er tragen konnte. Zuvor losten sie jedoch per Strohhalm aus, wer als Erster die Wache beim Boot übernehmen musste. Dann trennten sie sich vorerst, mit dem Auftrag, einen möglichst vorteilhaften Preis für ihre Waren herauszuschlagen. Das allerdings, so Skryrmirs Auflage, ohne dabei die Fäuste sprechen zu lassen.
Der Stammesfürst, in Begleitung seines Bruders, ließ das rege Treiben des riesigen Marktes von Hólmgarðr auf sich einwirken. Überall herrschte geschäftiges Treiben. Menschen fremder Herkunft kreuzten ihren Weg. Die, mit den schmalen Augen und hohen Wangenknochen, kamen aus dem Osten. Aus dem Westen stammten die slawischen Völker, die seltsame Götter anbeteten. Teilweise hatten diese fremden Götter sogar mehrere Gesichter. Sie trugen alle eigentümliche Namen: Svarog, Dažbog, Perun, Veles. Die Elb-und Ostslawen beteten wiederum völlig andere Götter an: Radegast, Svantovit, Triglaw und Jarovit. Dazu kamen noch diverse Elementargeister.
Dunkelhäutige Menschen sahen sie ebenfalls. Einige trugen sogar obskure Tücher um die Köpfe gewickelt.
»Die haben sich bestimmt den Schädel gestoßen. Ist garantiert nur ein Verband«, vermutete Hackbart. »Boah, sieh dir nur diese Pelze an und wie weich die sind!«, zeigte er auf einen Stapel, den ein Pelzhändler präsentierte. »Was ist das hier?«, deutete er auf ein seidiges dunkles Fell.
»Zobel«, antwortete der Händler.
»Woher hast du es?«, erkundigte sich der Dicke.
»Aus dem Gebiet rund um die Newa. Das, mein Freund, bleibt allerdings unter uns!«
»Hör mal, wem sollte ich das weitererzählen, wir sind hier völlig fremd! Was willst du für… Wie viele brauche ich, um für meinen Umhang einen ordentlichen Pelzkragen zu machen?«
»Äh, du bist ein großer Mann! Du wirst sicherlich zehn davon benötigen. Greif zu, ich mach dir einen annehmbaren Preis!«, versprach der Händler. Schnell schlossen sie das Geschäft ab.
Der Markt war schier atemberaubend. Nie zuvor sahen sie so viele verschiedene Stände, die so mannigfache Waren anpriesen. Der Lärm wirkte beinahe unerträglich, der durch die verschiedenen Rufe in diversen Sprachen verursacht wurde, weil jeder seine Ware feilbot. Je lauter, desto besser. Die Luft war durchdrungen von tausend Düften. Nicht nur von angenehmen. Lebendige Tiere standen ebenfalls zum Verkauf.
Trotzdem lief ihnen das Wasser im Munde zusammen und so probierten sie Honig, Brot, Wurst und Käse. Nebenbei schlossen sie ein vorteilhaftes Geschäft mit einem Fischhändler ab, der sein Glück nicht fassen konnte, qualitativ so hochwertigen Stockfisch zu bekommen. Er beschnüffelte die Ware wie ein Zollhund. »Wie viele Fässer davon habt ihr mitgebracht? Und sind sie ebenso von dieser Qualität?«, fragte er gierig.
»Genug Fässer, um uns alle reich zu machen«, grunzte Hackbart mit vollem Mund, der sofort das Feilschen übernahm. Beiläufig verdrückte er quasi im Vorbeigehen ein halbes Spanferkel. Dieser Handel nahm beinahe lebensbedrohliche Formen an, weil der Dicke mit der angebissenen Schweinshaxe herumfuchtelte. Verbissen wollte jeder für sich einen größtmöglichen Vorteil herausholen. Endlich wurden sie sich einig, spuckten in die Hände und schlugen ein. Gutgelaunt begleitete Hackbart seinen neuen Geschäftspartner und dessen Karren zum Langschiff.
Skryrmir unterhielt sich derweil noch ein wenig mit Milan, dem Sohn des Fischhändlers, der die Aufsicht über den Stand während seines Vaters Abwesenheit übernehmen musste. Als der Nordmann ein paar Leute johlen und klatschen hörte, wurde er neugierig. »Was geht da vor? Warum ist da so ein Aufruhr? Sind das da hinten etwa Vaganten?«, fragte er.
»Nein, die Hunnen. Das musst du einfach gesehen haben!«
»Hör mal. Wenn der dicke Riese zurückkommt, richte ihm aus, ich sei dort drüben beim Platz«, sagte er dem Jungen.
»Sage ich ihm. Du bist ja nicht zu übersehen, er wird dich schon finden!«, grinste Milan.
»Kommt drauf an, wann er zurückkommt. Womöglich nötigt er deinen Vater noch dazu, mit ihm eine ordentliche Menge Met zu trinken. Danke, Milan, war nett, dich kennenzulernen!«, drückte er ihm einen Bernstein in die Hand.
»Danke! Das Vergnügen liegt ganz auf meiner Seite, Nordmann!«, freute sich der Junge.
Mit einem prickelnden Gefühl der Neugierde, machte sich Skryrmir auf, um zu sehen, was dort auf der Wiese vorging.
Auf der Lichtung, umringt von Publikum, ritt ein Junge auf einem ziemlich kleinen, wendigen Pferd und führte dabei seine atemberaubende Reitkunst vor. Er ritt völlig freihändig auf seinem trittsicheren Pferd, welches er allein durch den Druck seiner Schenkel lenkte. Nebenbei schoss er mit einem Bogen einen Pfeil in die Luft, den er mit einem weiteren Pfeil wieder herunterholte. Die Leute waren schier begeistert, jubelten und klatschten. Skryrmir war völlig von den Socken. Nie zuvor hatte er jemanden so schnell einen Pfeil nach dem anderen ziehen sehen. Pferd und Reiter bildeten eine perfekte Einheit. Nach diesem Kunststück ritt der junge Reiter in einen Parcours, in dem zwölf Zielscheiben kreisförmig aufgebaut waren. In hohem Tempo ritt er eine Volte, drehte sich im Sattel in die jeweilige Schussrichtung und zielte dabei auf die Zielscheiben. Jeder Pfeil traf ins Schwarze, kein einziger ging fehl. Das Publikum raste vor Begeisterung. Nur der Kerl, der vor Skryrmir stand, spuckte verächtlich in den Sand, zeigt auf den Jungen mit der Pelzkappe und knurrte: »Scheiß Hunnen. Sie sind wahre Teufel. Nicht umsonst heißt es, sie hätten die Pest im Schlepptau!«
Skryrmir grinste. Das Gleiche behauptete man auch von den Nordmännern, die mittlerweile als »Geißel der Menschheit« tituliert wurden. Jeder, der ihnen unterlegen war, konnte und wollte kein gutes Wort über sie verlieren.
Der junge Mongole ritt unterdessen weiter, ohne zu ermüden. Seinem wendigen braunen Pferd schien diese Tour de Force ebenso wenig auszumachen. Der Gaul hatte nicht einmal Schaum vor dem Maul. Skryrmir beschloss, dass sie unbedingt solche Pferde brauchten. Sie sahen zäh aus, nahmen gerade die Hälfte des Platzes ein, den ein Fjordpferd benötigte, und wahrscheinlich fraßen sie nur ein Viertel von deren Futter.
Der Hunne hielt mit einem Affenzahn auf eine Strohpuppe zu. Sie war mit einer Kettenrüstung bekleidet. Er preschte heran, schoss - und verschwand wie der Blitz. Das Publikum hielt den Atem an, als es gewahr wurde, wie der Pfeil das Kettenhemd durchbohrte, die Strohpuppe perforierte und auf der anderen Seite des Kettenhemdes mit der Spitze wieder heraus brach. Skryrmir bekam eine Kopfgänsehaut, als er begriff, welche Durchschlagskraft dieser Pfeil haben musste. Nur konnte es nicht allein am Pfeil liegen, so viel war ihm klar. Sofort warf er einen abschätzenden Blick auf den Bogen, mit dem der junge Reiter so meisterhaft umzugehen verstand. Ja, er musste das wahre Geheimnis sein! Der Bogen. Ungewöhnlich stark an den Enden nach außen gebogen, glich er nicht den Bögen der Nordmänner, oder dem Langbogen der Angeln. Zudem schien er nicht