»Der Bengel wollte unser Pferd Lulu stehlen«, griente Bento. »Nur gelang es ihm nicht, denn der Gaul ist ziemlich schlau.«
»Ja, aber nur, weil meine Stiefel zu klein geworden waren und ich grauenvolle Blasen an den Füßen hatte!«, rechtfertigte ich mein unredliches Handeln.
Mein Vater nickte ihnen zu. »Danke, dass ihr euch so gut um Ragnor gekümmert habt. Bitte, setzt euch zu uns an die Tafel!« Dann wandte er sich an meinen Onkel und den älteren Mann: »Bitte, rückt ein wenig auf, damit die Herrschaften mit uns speisen können.«
Sie nickten, rückten ein wenig zusammen, sodass wir uns zu ihnen mit auf die Bank setzen konnten. »Greift zu!«, forderte Skryrmir die Artisten auf, was Luigi und Bento sofort beherzigten. Nur Galatea hielt sich von den Speisen fern, trank jedoch Met, der ihr sehr zu munden schien.
Mein Vater setzte sich wieder und drückte mich freudig. »Was bin ich froh, dich lebend zu sehen. Ich befürchtete schon, deine Mutter würde mich nie wieder in ihr Bett lassen. Denn als ich dich in Uppsala ließ, stieß sie diese fürchterliche Drohung aus!«, schmunzelte Skryrmir.
»Uppsala?«, zog Galatea fragend eine Braue hoch. »Ragnor, erzähltest du uns nicht, du seist von zuhause weggelaufen?«
»Entschuldigt, aber das war eine reine Notlüge. Hättet ihr erfahren, dass ich aus dem Heiligtum in Uppsala entfloh, wärt ihr vielleicht auf die Idee gekommen, mich dort wieder abzuliefern. Und ich werde dort nicht mehr hingehen!«
»Ganz schön clever, das Bürschchen«, brummte Luigi und wischte sich mit dem Unterarm das herabtropfende Fett von den Lippen. Vor sich hatte er einen riesigen Stapel Fleisch aufgeschichtet, den er systematisch abarbeitete.
Ich meldete mich wieder zu Wort: »Papa, ich frage noch einmal. Wieso bist du mir nicht böse und warum dachtest du, ich sei tot?«, fragte ich meinen Vater.
Dieser lächelte mich an und wurde sogleich wieder ernst. »Weißt du, warum wir hier alle versammelt sind? Und ich rede nicht nur von meinen hier anwesenden Brüdern und Vettern, sondern gleichsam von den Gefolgsleuten und all denen, die vor der Burg auf das morgige Ting warten.«
»Nein, mir wollte niemand etwas darüber sagen«, zuckte ich die Achseln.
»Aus gutem Grund, schließlich könntest du für König Gødrik spionieren. Und weißt du, wer dieser grauhaarige Herr ist, der neben deinem Onkel Ásgrímur sitzt?«
»Nein, den habe ich noch nie gesehen«, gab ich zu und kraulte weiterhin die beiden Hunde Hati und Skoll, die sich unglaublich freuten, mich zu sehen.
Skryrmir machte eine Geste mit der Hand: »Darf ich vorstellen? Das ist Prinz Halfdan, der Bruder des toten Königs Sigurd und somit der Onkel des jetzigen König Gødrik.«
»Aha, hallo«, sagte ich und konnte nicht allzu viel mit dieser Information anfangen.
Halfdan nickte mir freundlich zu und ich fragte mich, wieso er mit den Haraldingern gemeinsam an einem Tisch saß.
Mein Vater klärte mich auf. »Wir wollen Gødrik dazu zwingen, abzudanken und an seiner Stelle Halfdan als neuen, dänischen König einsetzen. Zudem gehört er bald als dein Schwager zur Familie, denn er wird deine Schwester Sigrun ehelichen.«
Zugegeben, ich interessierte mich nicht besonders für Politik. Für mich war es vor allem viel zu kompliziert, um zehn Ecken zu denken, da alles miteinander auf seltsame Weise verknüpft schien, worüber ich absolut keinen Durchblick besaß. Ich empfand jedoch Mitleid mit der armen Sigrun, die in ihrem jugendlichen Alter gezwungen wurde, wenn andere gerade ihre erste Verliebtheit erlebten, einen alten, welken Tattergreis zu heiraten. Sicherlich würde Sigrun ziemlich entsetzt sein, wenn sie ihren Bräutigam zum ersten Mal zu Gesicht bekam. Zudem fragte ich mich, was sie ohne ihren Zwillingsbruder machen sollte, wo die beiden doch seit ihrer Geburt unzertrennlich waren. Trotzdem musste sich Sigrun den Wünschen unseres Vaters fügen. Das stand völlig außer Frage.
»Äh, und warum wollt ihr den Dänenkönig stürzen?«, fragte ich, und kam mir schrecklich unwissend vor.
»Siehst du, Ragnor. Jetzt nähern wir uns dem Punkt, der hoffentlich deine Fragen beantwortet«, nickte mein Vater. »König Gødrik hat etwas unaussprechlich Frevelhaftes getan. Offensichtlich erfuhr er von deinem Onkel Úlfur, dass ich dich zur Ausbildung im Heiligtum bei der Priesterschaft ließ. Und da er sich meine Gefolgschaft und die, der restlichen Haraldinger sichern wollte, beabsichtigte er, dich von dort aus entführen zu lassen. Nur sandte er ein paar Hohlköpfe, denen diese Sache ganz gewaltig aus dem Ruder lief. Eigentlich sollten sie dich mitten in der Nacht aus deinem Bett entführen. Nur brannte hinterher die Blockhütte mitsamt den Novizen nieder, weil angeblich ein Idiot die Fackel achtlos wegwarf. Wir vermuten hingegen, es steckte Absicht dahinter, denn die Kinder waren eingesperrt. Irgendjemand hatte von außen den Riegel vorgeschoben. Höchstwahrscheinlich, um sicherzugehen, keine Augenzeugen davonkommen zu lassen. Und da diese Mordbrenner wussten, dass du dunkelrotes Haar hast, haben sie den Jungen mitgenommen, auf den diese Beschreibung zutraf. Leider wehrte er sich über Gebühr und so sahen sie sich gezwungen, ihn zu bändigen. Dabei packten diese rohen Schlächter das arme Kind viel zu grob an und es kam, wie es kommen musste. Plötzlich war es tot. Und da sie den Toten nicht mitnehmen konnten, schnitten sie ihm das Haar ab, welches wenig später bei deinem Onkel Ásgrímur als Druckmittel eintrudelte. Ásgrímur hatte jedoch von einem unserer Spione erfahren, was mit dem Besitzer des Haares geschehen war. Darum fuhr dein Onkel zu den Inseln, um mir die niederschmetternde Nachricht deines Todes zu überbringen. Zudem organisierte er das Ting und zog Halfdan auf unsere Seite. Denn auf Gødriks Befehl hin, hatten die Schergen das Heiligtum entweiht, was wir absolut nicht hinnehmen werden. Ein König, der nicht den Gesetzen der Götter gehorcht, hat das Recht auf seinen Status verwirkt! Wir werden ihn stürzen, selbst wenn wir nun wissen, dass du glücklicherweise nicht tot bist. Morgen wird darüber abgestimmt, ob wir Gødrik einen kleinen Besuch abstatten und belagern werden. Und falls wir dafür stimmen, und alle Zeichen deuten darauf hin, wird er von uns so lange unter Druck gesetzt, bis er abdankt. Denn er kann nicht an allen Fronten gleichzeitig Krieg führen. Im Süden bedrängt ihn der alte Karl, und wir kesseln ihn aus Richtung Nord, West und Ost ein, anschließend ziehen wir den Sack zu. Das ist der Stand der Dinge!«, endete mein Vater seinen Bericht.
Mein Onkel Ásgrímur zog mich zu sich und drückte freundschaftlich meine Schulter. »Ragnor, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie froh wir sind, dich lebend zu sehen. Nur eins verstehe ich nicht. Wie konntest du Gødriks Schergen und dem anschließenden Inferno entkommen?«
»Freilich fand ich es von Anfang an unfair, dass ausgerechnet ich ein Priester werden sollte. Dabei will ich wie du, oder so wie Papa, ein richtiger Krieger werden. Außerdem quälten mich Traumgesichte, die mir ständig zeigten, dass Svenja nicht mehr da ist. Und als mir ein gewisser Wulfric Knutson erzählte, ich sei eventuell in Gefahr, stand mein Entschluss zur sofortigen Flucht bei Vollmond fest.« Ich wandte mich meinem Vater zu. »Papa, kennst du einen Wulfric Knutson? Er meinte, er würde dich kennen. Er lebt auf Jütland, ganz in der Nähe von Úlfur«, versuchte ich ihm auf die Sprünge zu helfen.
Mein Vater grübelte eine Weile. »Hm, nein, nicht dass ich wüsste. Da läutet bei mir rein gar nichts. Wie sieht Wulfric Knutson denn aus?«, wollte er wissen.
»Keine Ahnung. Er ist weder jung, noch alt. Ach ja, ihm fehlt, genauso wie dir, ein Auge.«
Mein Vater wurde plötzlich wieder kreideweiß und sagte daraufhin zu diesem Thema überhaupt nichts mehr.
Um das Schweigen zu überbrücken, setzte mein Onkel Ásgrímur stattdessen die Unterhaltung mit mir weiter fort. »Augenscheinlich ist dein Plan aufgegangen, wie?«, fragte er und zauste mir das Haar.
»Leider nicht sofort. Nach meinem allerersten Fluchtversuch