»Danke – danke! Ich habe diesen Brief schon seit einer Stunde erwartet. – Danke – danke!«
Der Postbote entfernte sich wieder. Der Studienrat wog den Brief nervös in der Hand. »Hanna Bender, bitte, fahren Sie fort!«
Es war Pommerle, als klapperten ihr die Zähne. Sie sah, wie Sammtner das Schreiben öffnete und sich in dessen Inhalt vertiefte. »Fang’ doch noch mal von vorne an«, raunte ihr eine Klassenkameradin zu.
»Des Menschen Seele gleicht dem Wasser:
Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es,
Und wieder nieder zur Erde muß es,
Ewig wechselnd.«
Da saß Pommerle schon wieder fest. Sie blickte gespannt auf den Studienrat. Der Brief schien von höchster Wichtigkeit zu sein. Undeutlicher als zuvor begann Pommerle, möglichst dumpf wieder den ersten Vers zu sagen.
Karin kicherte. »Wenn du das noch zweimal machst, und er merkt nichts, bist du gerettet.«
Der erste Vers wurde zum dritten Male wiederholt. Gerade als Pommerle fertig war, faltete der Studienrat das Schreiben zusammen und hob den Kopf. Da erinnerte sich Pommerle der letzten vier Zeilen und schmetterte mit erhobener Stimme:
»Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser!
Schicksal des Menschen, wie gleichst du dem Wind!«
Das bekannte Zitat wußte Pommerle seit langem. Was würde nun der Studienrat sagen?
»Sehr gut, Hanna Bender. Ich wiederhole, Sie können sich ein Beispiel daran nehmen, Maria Bergell.«
Pommerles Herz begann zu hämmern. Es widerstrebte ihr, ein unverdientes Lob hinzunehmen. Schon öffneten sich ihre Lippen, um alles zu gestehen. Da wurde sie von Karin auf ihren Platz niedergezogen.
»Sei nicht dämlich, Pommerle, du lernst es ein anderes Mal!«
»Peinlich ist es!«
»Quatsch, Pommerle! Wer immer so gewissenhaft lernt wie du, kann sich einmal einen kleinen Schwindel leisten.«
Aber Pommerle litt während der ganzen Stunde an der Unwahrheit, und immer wieder kam ihr der Gedanke, dem Studienrat alles zu erzählen. Aber Karin und Ilse Torlege ahnten, was in Pommerle vorging. Als die Stunde beendet war, hatte Pommerle das abermals durchgesprochene Gedicht längst gelernt und hielt es nun selbst nicht mehr für nötig, ihr begangenes Unrecht einzugestehen.
»Jetzt kann ich es auch«, sagte Maria. »Ihr seht wieder einmal, wie zwecklos es ist, seine Freizeit zu opfern. Es genügt, wenn man in der Klasse aufpaßt. Und wenn ich wirklich diesen Gesang der Geister nicht kenne – was schadet das? Ich habe ohnehin für Geister nichts übrig! Ich halte mich lieber an Menschen von Fleisch und Blut!«
Am heutigen Tage hatte Pommerle Mühe, aufmerksam zu sein. Immer wieder mußte sie an Jules Einladung zur Hochzeit denken. Hinzu kam die Neugierde. – Welche Freude würde ihr Ilse Torlege in der großen Pause zu melden haben? Die Klassenkameradin machte dauernd Andeutungen, daß es sich um etwas Besonderes handle, etwas, was Pommerle noch nie erlebt habe.
»Ich habe eigentlich schon sehr vieles erlebt«, philosophierte Pommerle. »Als kleines Mädchen wurde ich von dem guten Professor Bender vom Ostseestrande nach Hirschberg geholt, aus dem Fischerkinde Hanna Ströde ist eine Hanna Bender, ein Pommerle, geworden. Ich durfte meine liebe Ostsee wiedersehen, ich durfte mit meinen neuen Eltern nach der Schweiz reisen. Vor fünfzehn Monaten bin ich mit Gartenbaudirektor Olfert von Erfurt im Auto durch schöne Gegenden gefahren, habe den herrlichen Park von Schwetzingen und andere sehenswerte Gärten bewundern dürfen. Immer habe ich Gutes und Liebes erfahren, jeder bereitete mir Freuden. Nun kommen noch neue Freuden hinzu. Ich bin vom Glück begünstigt. Ich werde eine tüchtige Gärtnerin werden, weil ich dazu Lust und Talent habe. – Was sagt Schiller? – ›Mir grauet vor der Götter Neide; des Lebens ungemischte Freude ward keinem Irdischen zuteil‹!«
»Was quasselst du schon wieder, Pommerle? Wovor graut dir?«
»Ach, Karin, ich bin heute voller Glück und Freude.«
»Ich glaube, du bist in deinen Jule restlos verliebt!«
»Nein, verliebt bin ich nicht. Aber ich liebe ihn wie einen Freund und Bruder, und auf die Hochzeit freue ich mich furchtbar!«
»Ilse sagte mir, sie habe nachher eine Freude für mich.«
»Für dich auch?«
»Ich kann’s mir schon denken. Wahrscheinlich kommen ihre Brüder Herbert und Wolf aus Breslau herüber. Du weißt, die beiden Studenten. Für den Herbert schwärme ich doch!«
»Natürlich kommen sie zu Weihnachten heim. Das wäre für die Familie Torlege eine Freude, aber nicht für mich.«
»Du bist ein merkwürdiges Mädel, Pommerle. Wir mit unseren sechzehn Jahren haben doch die Berechtigung, für Studenten zu schwärmen. Dir hat eben Jule den Kopf verdreht, einen anderen willst du nicht. Sogar den langen Anton läßt du abblitzen.«
Pommerle lachte. »Mir sind die Blumen lieber als die Jungen.«
»Lieber Gott, du kannst doch keine Tulpenzwiebel heiraten! Ich halte es für richtiger, schon mit sechzehn Jahren ein bißchen was fürs Herz zu haben. Das möbelt auf. Und die erste Zeit der jungen Liebe beginnt mit sechzehn Jahren. Also, richte dich danach.«
»Meinetwegen«, meinte Pommerle, »vielleicht kommt mal einer, den ich auf den ersten Blick liebe. Vorläufig habe ich noch keinen gefunden.«
»Weil dich alle lieben! Aber du bist kühl wie eine Gletscherjungfrau. Da nennt dich unser Bürgermeister nun das reizendste Mädchen von Hirschberg, aber dein Herz ist und bleibt kalt.«
Wieder lachte Pommerle. »Mein Herz ist nicht kalt, mein Herz ist voll von Glück und Freude. Wer hat es denn so gut wie ich? Wenn du meinst, man braucht etwas zum Lieben – oh, ich liebe meine Eltern, euch alle, viele gute Bekannte, meinen Garten, die Vöglein in der Luft und die Steine, über die mein Vater schreibt!«
»Pommerle, du bist ein Schaf!«
Endlich kam die große Pause. Karin und Pommerle neigten sich zu Ilse Torlege. Sie waren recht neugierig auf die Freude, die ihnen winkte.
»Also hört zu«, begann Ilse, »es wird etwas ganz Großes! Meine Eltern haben beschlossen, einen Maskenball zu geben. Platz genug haben wir in unserer Villa.«
»Einen Maskenball?« riefen Pommerle und Karin wie aus einem Munde. »Herrlich – göttlich!«
»Jawohl, es dürfen nur Masken herein. Jeder versteckt sein Gesicht unter einer Larve! Das gibt einen Spaß! Man kann allen denen, die man nicht leiden kann, ein Schnippchen schlagen. Ich habe mir das Fest von den Eltern zu Weihnachten gewünscht, und meine beiden Brüder, die in Breslau studieren, haben ebenfalls um das Maskenfest gebeten.«
»Wann ist es denn? – Bald?«
»Nein, Pommerle! Der Maskenball wird in die Faschingszeit gelegt.«
»O weh«, meinte Pommerle nachdenklich. »Zu Ostern ist Versetzung. Meine Eltern meinen, man dürfe sich in den Monaten vorher nicht zu sehr zerstreuen.«
»Du brauchst doch wegen der Versetzung keine Sorgen zu haben, Pommerle! Du bestehst ganz bestimmt. Und da wir alle abgehen, ist es nicht so schlimm.«
»Wann soll der Maskenball steigen?« drängte Karin. »Wahrscheinlich im Januar. Ich wollte es euch aber schon jetzt sagen, damit ihr euch zu Weihnachten ein schönes Kostüm wünschen könnt. Ich will mich ganz besonders hübsch machen. Also überlegt beizeiten, als was ihr gehen wollt.«
»Wer wird denn eingeladen?« forschte Karin.
»Die Eltern haben mir gesagt, ich kann zwei meiner besten Freundinnen einladen, und die seid ihr. Eure Eltern werden auch eingeladen, denn unsere Familien kennen sich seit vielen Jahren. Dann kommt Direktor Monno von der Zellwollfabrik mit seiner Frau, unser Bürgermeister und ein Freund meines Bruders Herbert.