„Nein!“
Der andere Soldat lachte hämisch und streckte ihm das Bild hin. Schnell griff er danach und schob es in seine Tasche. Es wäre eine Katastrophe gewesen, hätte er es verloren.
„Möchtest du mein Mädchen sehen?“
Ehe er reagieren konnte, hatte sein Gegenüber, eine Hand immer noch zur Seite gestreckt, in seine Uniformjacke gegriffen und ein anderes Bild hervorgezogen. Eine adrette Dunkelhaarige strahlte ihm entgegen. „Schön“, sagte er. Sie war nicht sein Typ, aber warum sollte er den anderen Mann enttäuschen?
„Das ist sie, Mann.“ Der andere Soldat schnalzte mit der Zunge. „Und küssen kann sie…“ Er lachte erneut. „Ich bin allerdings nicht sicher, ob sie nicht vielleicht auch woanders küsst. Na ja, wählerisch zu sein, ist zur Zeit nicht die Option, oder?“
Nun musste auch er lachen: „Nein, da hast du Recht.“
„Und deine? Küsst sie woanders?“
„Sie bekommt ein Kind“, entfuhr es ihm.
„Von dir?“
Er antwortete nicht.
„Ist es dir peinlich?“
„Es ist nicht einfach, wie du selbst sagst.“
Der andere Soldat langte erneut in seine Uniformjacke und zog schließlich eine Zigarette hervor: „Zur Nervenberuhigung. Gutes Kraut. Nicht so ein Zeug, wie ihr es raucht.“
Er griff zu: „Du hast ja noch nie eine anständige Zigarette geraucht.“ Er fummelte in seiner Tasche, bis er seine Zigaretten fand, so dass er nun auch eine anbieten konnte.
Der andere Soldat nahm sie ihm ab: „Ich werde mich überzeugen.“
„Ich auch.“
Für einen Moment schauten sich die beiden Männer in die Augen, und er sah nichts anderes als Neugierde und Freundlichkeit im Blick seines Gegenübers. Er war der Gegner! sagte er zu sich. Aber dort stand ein Mann, Anfang Zwanzig. Ein Mensch. Einfach nur ein Mensch.
„Alles Gute“, sagte er schließlich.
„Das wünsche ich dir auch…“
„Ich danke dir für das Bild. Ich würde dir ja die Hand geben…“
„Aber das könnte missverstanden werden, nicht wahr?“
„Stimmt. Beim nächsten Mal also.“
„Genau, in besseren Zeiten.“
Er streckte sich. „Danke noch einmal für das Bild.“
„Gern geschehen.“
Sie drehten sich langsam voneinander fort und gingen, jeder für sich, halb nach vorn, halb nach hinten sichernd, zu ihren jeweiligen Kameraden. Er sah, wie der andere Soldat seinen Kameraden erreichte, und beide verschwanden nur Sekunden später hinter der nächsten Biegung.
„Und?“ fragte ihn der Leutnant.
Der junge Soldat wirbelte herum. Sein Kamerad war längst bei den anderen Zugmitgliedern, so dass er alleine mit dem Offizier war: „Ich habe ein Bild meiner Freundin verloren, Herr Leutnant.“
„Ich habe es gehört.“
Es durchlief ihn heiß.
„Ich habe auch gehört, dass Ihre Freundin ein Kind bekommt.“
„Ich…“ Er überlegte fieberhaft. Wenn bekannt würde, dass er der Vater war, wäre dies ein unglaublicher Skandal. Was würde es für Folgen haben, dass er mit dieser jungen Frau ein Verhältnis hatte?
„Sie sind mir keine Rechenschaft schuldig, wenn Sie sich das fragen.“ Der Leutnant starrte geradeaus, dorthin, wo die gegnerischen Soldaten verschwunden waren.
„Ich bin Ihnen dankbar, wenn Sie das derartig betonen, Herr Leutnant.“
„Sie sagten, dass die Situation schwierig ist. Bei mir sind Gerüchte aufgelaufen, Sie betreffend, dass Sie Rassenschande betreiben. Sollte ich nach dem Namen und der Herkunft des Mädchens auf dem Foto fragen?“
Erneut durchlief es ihn heiß.
„Wenn ich Ihnen etwas raten darf: Seien Sie vorsichtig. Seien Sie sehr vorsichtig. Und sprechen Sie nie wieder über diese Frau. Haben Sie verstanden?“
„Jawohl, Herr Leutnant. Danke, Herr Leutnant. Ich habe verstanden.“
„Alles Gute Ihnen und Ihrer Freundin.“ Die letzte Bemerkung war nur gemurmelt, kaum verständlich, und schon hatte sein Vorgesetzter sich abgewendet, um zum Rest des Zuges zurückzukehren. Nachdenklich folgte er. Egal was kommen würde, war dieser Tag doch lehrreich für ihn gewesen, denn er hatte Menschlichkeit im Krieg erlebt, ein überaus seltenes Gut für einen Soldaten in vorderster Linie.
Er blickte noch einmal zurück, dort, wo die generischen Soldaten verschwunden waren. Menschlichkeit würde er in nächster Zeit kaum finden. Er würde weitere Grausamkeiten des Krieges erleben, nun nicht als Heranwachsender, sondern als Soldat. Er würde beschossen werden, er würde zurückschießen, und vielleicht würde er verwundet werden oder sogar sterben. Und möglicherweise würde er andere Menschen töten.
Krieg ist so grausam… Er hatte eine in etwa gleichaltrige Cousine, die vor ein paar Tagen bei einem Bombenangriff auf die Heimat vor einem Haus verbrannt war. Er hatte sie nie besonders gemocht, nur hatte er gehört, dass die verkohlte Leiche von ihrer viel jüngeren Schwester gefunden worden war. Er selbst hatte bisher Glück gehabt. Er hatte zwar einige Bombenangriffe erlebt, doch nie waren die Bomben direkt über ihm abgeworfen worden. Sie hatten nur immer in den Luftschutzbunkern gesessen und in atemloser Stille gehofft, dass es andere treffen möge. Dass sie das Leid der anderen nicht sehen mögen.
Seine kleine Cousine, sie hatte nicht so viel Glück gehabt. Was mochte in dem kleinen Kind von sechs Jahren vorgegangen sein, als es die noch rauchende Leiche ihrer großen Schwester gefunden hatte?
Was mochte in so vielen Menschen vorgehen, die ihnen nahestehende Personen verloren? Bisher hatte seine Familie Glück gehabt. Seine Cousine war das einzige Opfer, doch irgendwie zweifelte er daran, dass das so bleiben würde.
Der junge Soldat legte seine Hand auf sein Herz, dort, wo er das Foto wieder verstaut hatte. Dieser andere Mann, dieser Feind, er hatte ihm gezeigt, dass es Menschlichkeit gab. Und sein Feldwebel, er hatte verhindert, dass sie den Soldaten, der fälschlicherweise zu ihnen gesprungen war, niedergeschossen hatten. Er schluckte schwer. Nur weil dieser eine Soldat zur falschen Seite gesprungen war, hatte er vermutlich vielen Männern das Leben gerettet. Nur weil diese Situation so bizarr war, weil sie gelacht hatten, hatte das Morden und Töten für einen Moment innegehalten.
Er blickte zum Himmel. Keine Wolke war dort mehr zu sehen, und das Blau strahlte im Sonnenlicht.
„Kommen Sie jetzt endlich!“ hörte er seinen Leutnant rufen.
„Ja… Jawohl, Herr Leutnant.“ Schnell eilte er den anderen hinterher.
Solange man lebte, solange gab es auch noch Hoffnung…
Traumurlaub
Startschwierigkeiten
Es war alles bereit für einen wunderschönen Urlaub. Das Semester war beinahe vorbei, und die Möglichkeit zur unendlichen Entspannung erschien nun immer mehr am nicht mehr allzu fernen Zeithorizont. Endlich hatte Matthias seine Freundin Caroline überzeugen können, nicht am Meer zu relaxen, sondern in seine geliebten Berge zu fahren. Und nicht nur das. Sie würden zu viert sein, da sie ein befreundetes Pärchen, Sebastian und Julia, begleitete.
Was sind wir für ein Haufen! dachte Matthias. Caroline, Sebastian, er selbst, drei Studenten ohne viel Geld. Nur Julia war bereits in Lohn und Brot. Aber sie hatten gespart, bekamen ein Sponsoring von den Eltern, und so war die Entscheidung auf ein schönes Hotel mitten in den Bergen gefallen. Definitiv nicht preiswert,