Über den Genuss des Essens wurde nicht gesprochen. Man aß es, weil man hungrig war und viel Geld dafür ausgegeben hatte. Schnitzel-Sauerbraten mit Bohnen und sonstigen Resten würde niemals ein Leckerbissen werden. Immerhin, der Platz am Schwimmbad hob die Nachteile auf, und der Blick auf die Viertausender war unbezahlbar.
Ein ganz spezielles Hotel
Ereignisreiche Wochen gingen zu Ende, und irgendwann kam der Tag des Abschiedes. Das Quartett verließ sein Domizil mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Sie hatten sich arrangiert zu viert, aber die lange Zeit zusammen hätte auch zu einem dauerhaften Lagerkoller führen können. Noch ein letztes Mal an den Flipper, ein letzter Blick auf das Panorama, ein letzter Koffer, den sie zum Auto transportierten (mittlerweile schien die Reisegruppe die Fahrstühle verlassen zu haben. Offenbar hatte jeder in der Nacht doch eine andere Unterkunft ausfindig gemacht.). Und Matthias dachte sogar an die Windjacken!
Der Honda wirkte voller als bei der Hinfahrt, obwohl sie nichts gekauft hatten. Allein die Krücken begleiteten sie als neue Errungenschaft. Sebastian und Julia kauerten auf dem Rücksitz, eingezwängt, Matthias erstmals auf dem Beifahrersitz. Natürlich war es heiß. Sie schwitzten. Matthias konnte seine langen Beine nicht ausstrecken, da irgendein Kosmetikkoffer und eine große Tasche vor ihm standen. Bereits nach wenigen Sekunden wusste er, dass er, wenn er diese Fahrt überstünde, nahezu alles überleben könnte.
Sie hatten beschlossen, die Fahrt zurück in zwei Etappen zu gliedern, besuchten zunächst Freunde, verlebten einen schönen Abend. Dann aber, am zweiten Tag, stand ihnen die längere Tour bevor. Einmal quer durch Deutschland war angesagt, in einem übervollen Auto. Julia litt, spürte Schmerzen im Fuß, versuchte, dies geheim zu halten, aber ihre stetig sinkende Laune machte ihren an sich guten Vorsatz zunichte. Caroline und Matthias wechselten sich im Fahren ab. Sie kamen zwar zügig voran, doch in Hessen war Schluss. Die Fahrer waren müde, erschöpft, die Beifahrer auch. Die Reisenden redeten kaum noch miteinander.
Sie beschlossen, von der Autobahn abzufahren, kurz bevor sie die Grenze zur DDR erreichten. Auf gut Glück fuhren sie durch kleine Orte, blieben schließlich – es war schon spät – vor einem Gasthaus stehen. Es war ein Gasthaus wie jedes andere auch. Sie hatten es einfach gewählt. Oder es sie.
Vor ihnen checkte gerade eine dänische Familie mit zwei Kindern ein. Der Hotelier hatte einen schweren Sprachfehler, so dass sie ihn und sein Gebabbele nur teilweise verstanden. Eine uralte Frau schlich im Hintergrund herum. Es war wohl seine Mutter.
Ob wir noch etwas zu essen bekommen können? fragten sie. Der Hotelier grübelte und kratzte sich am Kopf. Ja, das wäre schon noch möglich. Dann müsse er noch mal in die Küche, er könne ihnen eine Schlachtplatte anbieten… Die alte Frau setzte sich bereits in Bewegung Richtung Gaststube.
Die Zimmer waren bizarr. Matthias und Caroline hatten zwei Betten mit Stahlgestell und echten Bettfedern. Diese quietschten bei jeder geringfügigen Bewegung, und in Matthias‘ Kopf reiften Bilder, was wohl die dänische Familie von ihnen halten würde, wenn er auf den Betten herumspränge und Caroline dazu akustische Lautmalereien ausstoßen würde… Egal, sie hatten Hunger.
Sie verließen den Raum mit den hundertjährigen Betten und den vier verschiedenen Tapeten, kamen in der Gaststube zusammen. Es war düster in diesem Zimmer, aber eigentlich ganz urig. Lassen wir uns nicht die Laune vermiesen! riefen sie sich in Erinnerung, es ist unser letzter Abend, und eigentlich, auch wenn wir von der Fahrt müde sind, eigentlich haben wir uns doch erholt, oder?
Der Hotelier schien nicht nur einen Sprachfehler zu haben, er war offensichtlich auch gehbehindert. Er fand nicht den direkten Weg von der Theke bis zu ihnen, sondern nahm einen kleinen Abstecher zu diversen anderen leeren Tischen auf sich. Die alte Frau schlich aus der Gaststube, kam wenig später mit einer jüngeren Frau zurück, die die Bedienung übernahm.
Die Schlachtplatte war grandios. Saftig, lecker und unglaublich fett! Aber die Vier hatten Hunger, aßen alles auf. Dann gingen sie zu Bett, müde von der Fahrt. Die Toilette befand sich auf dem Flur, die Dusche ebenfalls. Dafür war es aber preiswert, und so nahmen sie auch eine Tapetenkollektion aus den 1950er Jahren und quietschende Betten aus der Zeit der frühen Kaiser in Kauf. Sie sahen aus ihren Fenstern, wie die Bedienung das Haus verließ und rasch über den Platz wechselte, wo sie in einem anderen Hotel verschwand.
Caroline und Matthias schauten sich an, und gleichzeitig traf sie die Erkenntnis: Der Hotelier war keineswegs geh- oder sprachbehindert! Er war einfach sturzbesoffen! Und eine Kollegin der Konkurrenz hatte geholfen, damit die Gäste überhaupt noch etwas zu essen bekamen.
Am nächsten Morgen traf sich das Quartett zum Frühstück. Angewidert stieß Caroline aus der in die Jahre gekommenen Gemeinschaftsdusche den anderen, und Julia sah aus wie der schiere Tod. Lächelnd berichtete Sebastian, dass ihr die Schlachtplatte nicht bekommen sei, und so hatte sie eine der Toiletten die Nacht über längerfristig für sich reserviert. Immerhin war der Hotelier wieder da, und seine gesundheitlichen Schwierigkeiten vom Vorabend waren wie weggeblasen.
Den Urlaub beschlossen die Vier mit der beschwerlichen Rückfahrt durch die DDR. Sie waren nicht alleine auf der Transitstrecke, mussten ewig an der Grenze warten, vor Berlin erneut. Sie redeten kaum noch ein Wort. Jeder wollte nur noch nach Hause und ins eigene Bett.
Matthias‘ Eltern empfingen ihren Sohn glücklich und erkundigten sich: „Na, wie war’s?“
Müde winkte Caroline ab, während Matthias sein Gepäck entlud. Der Erlebnisbericht würde wohl noch bis morgen warten müssen, aber er war sicher, dass dann, mit dem Abstand einiger Stunden, schon alles in einem viel helleren Licht erscheinen würde.
Und vielleicht, in ein paar Jahren, dann würde dieser Trip von Katastrophe zu Katastrophe mit Sicherheit ein Highlight unter den Urlaubserlebnissen sein. Eigentlich war sich Matthias sicher, dass es so kommen würde. Plötzlich musste er schmunzeln, und er dachte bei sich: Warten wir es mal ab…
Der schwere Weg zurück
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