Am Abgrund. Georg Sonnleitner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Georg Sonnleitner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742774330
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sein – stockbesoffen wie er war.«

      »Er hatte ein blaues Auge und seine Nase war gebrochen«, sagte Ralph.

      »Worauf willst du hinaus..?« - Stefan hob den Kopf und sah Ralph gelangweilt an.

      »Ich habe dich gesehen, Stefan«, sagte Ralph mit dünner Stimme.

      Stefan schnaubte verächtlich. Er wandte sich wieder seinem Laptop zu.

      »Das ist Körperverletzung!« sagte Ralph mit zitternder Stimme.

      »Seltsam. Ich hab dich gar nicht gesehen dort«, sagte Stefan.

      Ralph schüttelte entrüstet den Kopf.

      »Er hat mich angegriffen, was sollte ich machen..?!«

      »Hari trinkt schon mal einen über den Durst. Aber er ist ein friedlicher Typ...«

      »Er ist ein Versager, sonst gar nichts..!«

      »Psychopath..!« - Ralph’s Stimme überschlug sich. »Es gab Zeiten, da habe ich dich bewundert.«

      »Du nervst mich schon seit damals. Hast du endlich erkannt, dass ich nicht der bin, für den du mich hältst.«

      Stefan mochte Ralph nicht, seitdem er ihn das erste Mal sah, da waren sie noch Kinder. Im Laufe der Jahre entwickelte sich diese Abneigung in Gleichgültigkeit. Ralph, der ein gutmütiger Mensch war, ärgerte sich, mit welcher Brutalität und Kaltschnäuzigkeit Stefan sein Umfeld behandelte.

      Ralph wollte gerade etwa darauf sagen, da bemerkte er jemanden am Selbstbedienungsthresen und hob kurz die Hand. Ein nervöses Lächeln zuckte über sein wütendes Gesicht.

      »Was will ein Mädchen wie Anna mit einer Flasche wie dir?«, sagte Stefan ohne sich umzudrehen. Ralph sah ihn fragend an.

      »Du hättest deinen dämlichen Gesichtsausdruck sehen sollen«, sagte Stefan. »Zugegeben, Anna sieht nicht schlecht aus und hat auch was im Kopf.

      Was mich wieder zu meiner Frage bringt: was will sie mit dir..?«

      Stefan grinste Ralph herausfordernd an. Doch Ralph schüttelte nur den Kopf und zog ab.

      Mit Genugtuung sah Stefan Ralph nach. Dann wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. Er hatte diesen Schlappschwanz noch nie leiden können. Diesen Schwächling.

      Immer wieder hielt Stefan seiner Mutter vor, dass sie ihm das eingebrockt hatte.

      VIER

      Als Kind konnte Stefan mit Gleichaltrigen nichts anfangen. Ihr kindischer Spieltrieb und ihr ständiger Drang nach Aufmerksamkeit teilte er nicht im geringsten. Stefan war ein stilles Kind, das sich am liebsten mit sich selbst beschäftigte. Er war immer schon ein Einzelgänger, der sich stundenlang in seinen Büchern vergrub. Am wohlsten fühlte er sich, wenn sein Vater währenddessen im Nebenraum seinen Geschäften nachging. Die Tür war meist offen, sodass er seinen Vater hörten konnte, wenn er telefonierte.

      Seine Mutter war es, die ständig darum bemüht war, Spielkameraden für Stefan zu finden – gegen den Willen des Jungen. Ein Geschätspartner und guter Freund von Stefan’s Vater war Heinrich Meissner. Ihm gehörte eine kleine Forsthütte im Falkenstein Nationalpark. Diese ursprüngliche Naturlandschaft voll dicht bewaldeter Steilhänge, die durchzogen waren von tiefen Schluchten und Wasserfällen lag eine knappe Stunde von Freistdt entfernt und war ein beliebtes Ausflugsziel. Stefan’s Vater Roman Zauner war ein begeisterter Wanderer und liebte die Natur. Er kam gerne an den Wochenden in den Nationalpark und wanderte auf einem der vielen Wege entlang des Welz-Flusses, der sich seinen Weg durch die gewaltigen Gesteinsmassive bahnte. Als er beim Essen eines Tages erzählte, dass Heinrich Meissner einen Sohn in Stefan’s Alter hatte, war dessen Mutter sofort begeistert. Sie drängte darauf, dass die Geschäftspartner die beiden – damals 10-jährigen - Burschen das nächste Mal mitnehmen in den Nationalpark.

      Es war ein sonniger Tag im Herbst, als sich die beiden Männer mit ihren Söhnen aufmachten vom Parkplatz am Fuße der Schlucht. Stefan konnte Meissner’s Sohn Ralph von Beginn an nicht ausstehen. Seine quirrlige Art und sein ständiges Geplapper über die Waldhütte seines Vaters gingen Stefan auf die Nerven. Die beiden Väter gingen vorne und tauschten sich über ihre Arbeit aus, dann plauderten sie über die Zeit ihrer Kindheit, wie sie unbeschwert die Wälder erkundeten.

      Stefan stapfte hintendrein, während Ralph um ihn herum tollte wie ein verspielter Welpe, der das erste Mal Ausgang hatte. Überdreht hüpfte er herum und lag Stefan mit seiner sägenden Stimme in den Ohren. Stefan sprach kaum etwas und sah Ralph auch nicht an – in der Hoffnung, dass der Quälgeist irgendwann merkten würde, dass Stefan sich nicht für ihn, noch für den Wald oder diese Scheiß-Forsthütte interessierte. Doch Ralph schien das nicht aufzufallen. In einem endlosen Schwall plapperte er ohne Unterlass. Als sie die Hütte erreichten, die auf einer Anhöhe im Wald an einem kleinen Bach lag, machten sich die beiden Männer daran, Holz für die Feuerstelle vor der Hütte zu sammeln. Erst als die Sonne hinter den schroffen Felsen der Schlucht verschwand, wurde Stefan klar, dass sie in der Hütte übernachten würden. Der Rückweg wäre zu gefährlich in der Dunkelheit.

      Stefan war sehr wütend. Vor allem auf seinen Vater, der ihm das Ganze erst eingebrockt hatte. Ralph’s gute Laune stieg indes noch weiter. Gemeinsam gingen die beiden Jungen Feuerholz sammeln. Ständig belehrte Ralph Stefan über die Besonderheiten der Umgebung, die er wie seine Westentasche kannte. Jede Pflanzen und jeden Vogel nannte er beim Namen. Ralph führte sie zu den besten Stellen, um Holz zu sammeln. Stefan kochte innerlich wie ein Vulkan, der gleich ausbrechen würde. Er entfernte sich immer wieder von Ralph, preschte nach vorne oder blieb trödelnd zurück, um endlich Ruhe zu haben. Als Ralph ihn ermahnte, doch bei ihm zu bleiben, damit er sich nicht verläuft, platzte Stefan der Kragen. Er beschimpfte ihn wüst und stieß ihn weg. Ralph fiel hin und stürzte einen steilen Abhang hinunter. Der schmächtige Junge überschlug sich mehrmals und blieb am Fuß der Böschung liegen. Ohne sich nochmal umzusehen, stürmte Stefan davon. Er dachte nicht nach, was mit Ralph sein könnte, war nur froh, diese Nervensäge endlich losgeworden zu sein. Stefan war sicher, sich den Weg zur Hütte gemerkt zu haben. Als er so durch den Wald ging, grübelte er doch darüber nach, was wohl mit Ralph passiert war und was er seinem Vater und Herrn Meissner über den Verbleib seines Jungen sagen sollte. Eine Weile stieg das Gelände an und als er auf eine Lichtung kam, hielt er inne und sah sich um. Die Umgebung sah nach allen Seiten gleich aus. Panik befiel ihn, und die Dunkelheit des Waldes schien sich gerade in diesem Moment auszubreiten und alles zu verschlucken. Unheimliche Geräusche ließen ihn zügig aufsteigen. Immer wieder stolperte er in der Finsternis über Wurzeln und Dickicht. Und er schlug sich die Knie auf an spitzen Felsen. Stefan wusste, dass er längst vom Weg abgekommen war, denn sie waren nie über solch steiles und unwegsames Gelände gegangen. Doch folgte er der Logik, dass er von ganz oben einen besseren Ausblick haben würde und das Feuer vor der Forsthütte ausmachen könnte. Und so stieg er immer weiter hinauf und versuchte eine lichte Stelle auszumachen. Doch der Wald wurde immer dichter. Die nächtliche Kälte fiel über ihn her, kroch in seine Glieder. Dann wurde der Untergrund steiniger und die Bäume weniger, einen Grat oder ein Ende des Hanges konnte er nicht erkennen. Schließlich hockte er auf einer Anhöhe inmitten von dicken Baumwurzeln und groben Gesteinstrümmern. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit; trotzdem konnte er kaum etwas erkennen. Weder rauf noch runter. Einige Male rief er ins Schwarz der Nacht hinaus, so laut er konnte. Die kalte Nachtluft erstickte ihn und aus seiner Kehle kam bloß ein heiseres Krächzen. Die Arme eng um seinen Körper geschlungen, kauerte er sich auf den harten Boden, verlassen und verloren.

      Schließlich beschloss er, den Hang wieder hinabzusteigen. Als Stefan einen Fuß auf loses Geröll setzte, rollten die Steinbrocken weg und er rutsche haltlos ab. Er überschlug sich und prallte gegen Felsen.

      Fast zwei weitere Stunden war Stefan damals noch durch den Wald geirrt. Zitternd vor Kälte stolperte er durch die Nacht. An Dornen des Dickichts zeriss er sich die Kleider und an den scharfkantigen Felsen holte er sich tiefe Schrammen.

      Noch nie in seinem Leben hatte sich Stefan so verloren gefühlt wie in dieser Nacht. Schließlich kauerte er sich auf dem Waldboden nieder und begann bitterlich zu weinen. Sein Ärger