Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum. Gabriele Plate. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Plate
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745097658
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Frau, wahrscheinlich bleibt er bei seinen Leuten“, meinte Edda skeptisch.

      Diese Schwester weckte ihren Wissensdurst in viele Richtungen, doch durften keine Maßnahmen dabei ergriffen werden, die nach pädagogischen Tricks rochen, dann blockierte Edda jede Aufnahme. Sie achtete ihre Schwester sehr, aber bedingungslos gehorchen wollte sie ihrem Vorbild nicht. Ein Gehorchen gab es für sie nur unter Zwang, unter Androhung von Strafe. Das hieß, unter körperlicher Züchtigung. So gehorchte sie, zumindest augenscheinlich, nur dem Vater.

      Edda war eine der treuesten Ungenügend Kandidaten bei Frau Dr. Kohlmann, ihrer Englischlehrerin. Diese war fassungslos über Eddas Unwissen, und wie sie annahm, mangelndes Sprachtalent. Im Flur zeigte sie einem Kollegen Eddas Arbeit und raunte ihm zu, dass dieses Mädchen leider ein hoffnungsloser Fall sei. „Sie kann nicht einmal erfassen was ein Verb ist, und das im Wiederholungsjahr“, stöhnte die geforderte Pädagogin.

      Die Gute, wie konnte sie auch wissen, dass Eddas schlechte Noten, ihre Lernblockaden, wenig mit mangelndem Auffassungsvermögen zu tun hatten, sondern eher mit drohender Strafe. Wer wusste das schon, zu jener Zeit, als Zucht und Ordnung die Eckpfeiler der Erziehung bildeten.

      Es war am Tag nach Eddas Konfirmation gewesen. Ihre älteste Schwester, die für ein Jahr nach London gegangen war, erschien zu diesem Fest mit ihrem frisch Verlobten, um ihn der Familie vorzustellen. Ein junger Professor, schweigsam und blass, mit einer dunklen Hornbrille. Sie hatten gemeinsam mit Edda einen Spaziergang unternommen, bei dem ihre Schwester versuchte eine Biene aus den Fängen einer Spinne zu befreien. Der Verlobte hinderte sie daran. Mit Grabesstimme ließ er verlauten, dass auch sie, das Elend auf dieser Welt zu sein und ungerecht behandelt zu werden, nicht aufhalten könne. „Lass sie leiden“, sagte er drohend und beobachte mit verklärtem Blick das sich windende Insekt, das unter fürchterlichem Gebrumm im klebrigen Faden eingerollt, noch leicht zappelnd ausgesaugt wurde. Er steckte die Nase gierig bis an das Spinnennetz, nahm seine Brille ab, um besser ins Detail blicken zu können. Die Schwester wandte sich wie versteinert ab. Wenige Stunden nach diesem Zwischenfall hörte Edda ihren Vater aus dem Wohntrakt toben. Außer sich vor Zorn schrie er auf seine Älteste ein. „Du kannst von mir aus jeden Mann auf dieser Welt heiraten, und wenn es ein Neger sein sollte, ein Chinese von mir aus, aber kein Jude. Niemals! Nur über meine Leiche!“

      Die Schwester und der Nichtchinese flogen noch am selben Tag zurück nach London. Sie trennten sich sehr bald danach, aber nicht wegen Vaters Leiche. Der Verlobte hatte ihr auf der Rückreise mitgeteilt, dass er sie liebe, o b w o h l sie eine Deutsche sei, er aber niemals seine Kinder glücklich umarmen könne, wenn sie deutsches Offiziersblut in den Adern hätten. Den Vater, mit seinem Hass in der Ferne, hätte ihre Schwester ertragen können, aber keinen Ehemann mit Hass auf ihre Kinder.

      Eddas Erröten erreichte seinen Höhepunkt, als ein bildschöner Seemann, als Maschinist, von ihrem Vater in der Baufirma eingestellt wurde. Ferien, welch ein Glück, sie konnte täglich bei ihm sein, erlernte das Messerwerfen und Maschinenbetrachten, Motor raus, Motor rein, alle Schläuche, Kabel, Schrauben und das Drumherum. Er war geduldig, erklärte alles. Sie las sämtliche Hornblower-Bände, erlernte das Morsealphabet und die Flaggenzeichen der internationalen Seefahrt und ließ es ihn wissen. Sie glaubte unauffällig an seiner Seite kleben zu können, wenn sie sich wie ein Junge anzöge und benähme, darin hatte sie Erfahrung. Sie wollte, dass er sie tätowiere, das selbe Zeichen wie er. Auch auf der Brust. Dazu kam es nicht. Der Seemann hatte natürlich einen Vollbart, und er hatte blaue Augen, wie Vater. Aber er brüllte nicht, nie, und er hatte eine warme Stimme mit dem Akzent ihres geliebten Schleswig-Holstein. Ihre Hingabe zu schwarzen, mit Altöl getränkten Händen, hielt die ganzen Sommerferien an. Der bärtige Maschinist hatte alle Hände voll zu tun die Pubertierende auf gebührendem Abstand zu halten.

      Edda wuchs heran, die Weltentfremdung lauerte. Das Leben sei ein Problem, bei dem man Übung bekommen sollte, hatte sie von ihrer Großmutter erfahren, der Mensch gewöhne sich schließlich an alles, auch an sein Leben.

      Sie gewöhnte sich an Vieles. An ihre Familie zum Beispiel, obwohl sie manchmal stutzte und erstaunt war, ein Teil davon zu sein. Sie hatte den Umstand, Vaters körperlichen Züchtigungen ausgesetzt zu sein wann immer er es für nötig befand, endlich als Unumgänglichkeit erkannt. Zu ihrer Furcht vor ihm, gesellte sich tief eingefleischter Respekt, als sei sie damit geboren, als sei es eine Charaktereigenschaft. Nicht zu hinterfragende Macht stülpte sich über zarteste Wahrnehmungen. Ein teuflisches Gemisch, ein teuflischer Kampf. Die väterlichen Wutausbrüche, vom Jähzorn angeheizt, schienen von tyrannischem Überblick geleitet, er genoss sich selbst dabei, berauschte sich an seiner jämmerlichen Macht. Er hantierte mit festgeschraubten Vorstellungen von Falsch und Richtig. Vorhersehbare Vorstellungen. Es war demnach nicht schwierig, sich nach seinen Gesetzen zu richten, was auch dem Rest der Familie gelang. Edda vergaß sich und alle Gesetze wenn sie spielte, sie ging selten straffrei aus. Ihr Stolz war auf eine andere Ebene geflohen, doch nicht besiegt. Er winkte Edda verschwörerisch zu, bei jedem väterlichen, „keine Widerrede, und damit basta“, bei jedem Hieb. Auch ihr Trotz hatte überlebt, eine explosive Ladung in diesem höher gelegenen Versteck.

      Als sie also endlich glaubte, schwingende Weidenstöckchen gehören unabwendbar in ihr Leben, hörte diese Unart des Vaters plötzlich auf. Das hatte seine Zeit benötigt, bis fast zu ihrem vierzehnten Lebensjahr. Der Auslöser war möglicherweise die spindeldürre Edda im anthrazitfarbenen, taillierten Konfirmationskleid. Sie trug zum ersten Mal in ihrem Leben Nylonstrümpfe und dazu schwarze, elegante Schuhe mit leichtem Absatz. Edda tänzelte mit klappernden Silberreifen an den Handgelenken vor ihrer staunenden Familie auf und ab. Man entschied, dass sie doch etwas Weibliches an sich habe. Ihre Mutter hatte sie mit etwas Lippenstift und einem feinen Lidstrich beinahe entstellt. Vaters Traum vom Sohnersatz schwand dahin. Immerhin hatte er doch beschlossen, dass sie Seemann werden sollte, Kapitän. Edda spielte zu dieser Zeit immer noch am liebsten auf den Bäumen und in schlammigen Bachbetten. Ein Sack Gips war ihr von jeher lieber gewesen als eine Puppe. Von diesem Tag des taillierten Kleides an, ging Vater sanfter mit ihr um, erklärte sie unausgesprochen zu seiner momentanen Lieblingstochter. Die übrigen Familienmitglieder kapitulierten vorläufig, es war sinnlos um seine Gunst zu buhlen und gegen Edda anzueifern. Sie war nach Vaters Wunsch geraten, da konnte niemand mithalten. Als Edda wenig später, wegen ungenügender Leistungen das Gymnasium verlassen musste, meldete Vater sie kurzerhand, ohne ein Wort der Drohung, ohne die Weidenrute, an einer kostspieligen Privatschule an. Der Schulbeginn war im Herbst. Bis dorthin lagen einige freie Monate vor ihr, sie war mit vierzehn nicht mehr schulpflichtig. Befreit von der Schule, ein paradiesischer Zustand. Vater nahm sie mit zu seinen zahlreichen Baustellen, damit sie etwas Praxis vom Bauwesen bekäme. Jetzt sollte sie nicht mehr zur See fahren, sondern Bauingenieurin werden. Edda gewöhnte sich an diese Fahrten, sie machten ihr großen Spaß.

      Sie gewöhnte sich auch an die ständige Heulerei ihrer Mutter und wusste sie inzwischen mit Abstand zu trösten. Es erschütterte Edda nicht mehr, wenn ihre Mutter wegen seiner Sekretärin oder irgendeines anderen „dreisten Weibsbildes“ weinte. Sie war großartig im Sich-Gewöhnen geworden.

      Doch eine Unart ihres Vaters wollte sich einfach nicht der Gewöhnung beugen. Das war seine Brüllerei. Vater war laut, egal wo er auftrat, man hörte ihn von Weiten. Seine Stimme war nicht direkt unangenehm aber zum Herrschen verkommen. Sie übertönte alles. Edda rannte oft aus dem Haus, nur um diesem Geschrei zu entgehen. Auch am Telefon schrie er, als wäre dieser Apparat unnötig und sein Stimmorgan müsse die Kilometer überbrücken. Besonders Eddas Mutter brüllte er an, wenn sie den Jammerton über ihn schwappen ließ, aber er brüllte auch, wenn er nicht wütend war. Seine Stimmlage war offensichtlich in der Kriegszeit steckengeblieben, als wetterte sie immer noch gegen Geschützgetümmel an, oder gegen müde Rekruten auf dem Kasernenhof.

      Doch dann entdeckte Edda, dass ihr Vater auch eine normale Stimme besaß, kräftig zwar, aber ohne zu schreien. Im Auto, wenn er mit ihr auf stundenlangen Fahrten zu den Baustellen unterwegs war, sprach er in angenehmeren Tonfall, sogar, wenn er sich dann begeistert äußerte. Er erzählte vom Krieg, von dem wunderbaren Kameradenleben damals, von seinen Abenteuern auf dem Schlachtfeld und von den guten und den bösen Toten. Er erzählte von seinen zahlreichen Heldentaten. Edda kannte diese Geschichten bald auswendig. Auch in einige vergangene und aktuelle Liebesaffären weihte er sie ein, plauderte darüber