Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum. Gabriele Plate. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Plate
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745097658
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als suchten sie gegenseitige Anlehnung, benahmen sich jedoch wie gleiche Pole. Ein Zustand der inneren Zerrissenheit, des Drucks der eingeschlossenen Abstoßung.

      Sie hatte versucht den einen oder anderen Charakter zu verbannen, aber jeder einzelne erschien zu sehr ein Teil ihres Seins. Weniger unmöglich wäre es gewesen sich selbst einen Arm oder ein Bein abzubeißen. Es war ihr höchstens ein zeitlich begrenztes Verdrängen möglich. Das war bisher immer verwirrend ausgegangen und mit einem Verlustgefühl zu vergleichen.

      Wenn sie durch irgendeine Begebenheit wieder an dieses Übel erinnert wurde, verglich sie sich mit einem Krabbenbrötchen, in das man gerade hineinbeißen will. Doch etwas riecht schlecht, stopp! Mindestens eines dieser Schalentiere scheint verdorben zu sein, faulig, ungenießbar. Ihre Frage lautete, sucht man nun das Faulige, wirft es hinaus und genießt das, was an Gutem übrigbleibt, oder befördert man den ganzen Leckerbissen in den Müll!

      Dieses innere Reißen hemmte ihre Persönlichkeitsentwicklung gewaltig, ließ sie von einer Ecke in die andere springen, im Dreieck wie im Kreis. Sie würde in der Psychiatrie landen, wenn sie nicht bald einen Halt fände.

      Der eine Charakter vertrat den des Vaters, bohrende Kraft! Er, der mit der fragwürdigen Überlegenheit eines Platzhirsches agierte und meist alle Anwesenden an die Wand drängte, powerte, forderte und den Angelpunkt bestimmte. Immer! Er konnte flirten, dass die Fetzen flogen, aufgebauscht vom brüchigen Selbstbewusstsein des Egomanen, mit Geiz und Eifersucht gewürzt. Ein verschlungenes Wurzelwerk der inneren Unruhe. Doch auch seine positiven Seiten vertraten ihn in ihr. Die des Abenteurers, des mit unerschöpflicher Fantasie geladenen Ingenieurs, des talentierten Zeichners, des eindrucksvollen Schriftstellers, und Erfinder war er auch.

      Den zweiten Geist in Edda, bekleideten die Eigenschaften ihrer Mutter. Diese lehnte Wichtigtuerei ab, sowie jede Art von Gewalt. Ihr Charakter glänzte durch aufopferungsvolle Hilfsbereitschaft, sie war großzügig, besorgt, zugewandt und liebevoll zu nennen. Die oft übermäßige Besorgnis wirkte schädlich in ihrer Gegenseite. Wenige Tropfen davon genügten, um alles in oberflächliche Harmonie zu verfärben, um für Augenblickliche der verbalen Zuneigung oder Anerkennung, den großen, lebenslangen Verrat an sich selbst zu begehen. Immer wieder.

      Für den dritten Charakter war noch eine winzig kleine Ecke frei geblieben. Frei, für ein Sich-Selbst. Dieser Selbstcharakter kämpfte, als läge er noch noch in den Geburtswehen, als sei er nicht konkret und müsste noch erfunden werden. Schweigend erstaunt über so wenig Raum, rief er leise das „All Eins“ zur Hilfe. Er hatte zunächst nur den roten Faden entdeckt, ohne sich als Macht zu zeigen, schweifte oder schleifte an diesem Rot entlang, wie an dem Hauch einer Grundidee und versuchte sich den beiden anderen zu nähern. Ohne verschlungen zu werden. Denn er ahnte in ihnen lebenswichtige Wurzeln, die nicht abgetrennt werden durften. Dieses Sich-Selbst benahm sich den beiden Hausbesetzern gegenüber, wie aus einer Glocke der Passivität heraus. Das täuschte, denn es besaß eine erstaunliche Flexibilität in Form und Ausdruck. Immer wieder meldete es sich aus scheinbar vergessener Weite. Es konnte auch mit Abstand von Front zu Front hüpfen, um dem fordernden Ziel nach Einheit, Berichterstattung zu liefern. Sie waren ermüdend konträr diese Drei, es fand sich kein Gefüge darin, noch nicht.

      Vaters Marotten in ihr häuften das Ringen, sie waren umwerfend hemmungslos und behinderten den Absprung zu eigenen Gefilden der bewussten Entwicklung. Sie erlaubten dem inneren Frieden keinen Zutritt, kannten keine Erfüllung, brodelten in Schuldzuweisungen und Konkurrenzgebaren. Unter diesem Einfluss hatte Edda sich weit vom Herzen der Welt entfernt, sie wusste nichts von der ewigen Stütze der unendlichen Bedingung, sie lebte gegen ihre Ahnung. Aus Gewohnheit! Jede ihrer Bemühungen, in Richtung Erkennen, erstickte in egozentrischem Gerangel, das vom Drängen ihrer Ängste genährt wurde. Doch ein positiver Erbteil des Vaters ermöglichte ihr in Ansätzen den Ausweg. Die Fantasie!

      Unermüdlich zeigte sich die Fantasie, bis in die Fingerspitzen, als brodelte sie mit den Blutsubstanzen in ihr. Sie bediente eine kaum überschaubare Front der Talente, die sich in Eddas Genen manifestiert hatten. Darin versank sie oft, ohne sich zu besinnen. Dann war sie ganz zu sich umgeschaltet, die anderen hatten keine Chance mehr, sie konnten schreien und toben, Edda achtete nicht mehr darauf. Sie war unerreichbar, mit dem zarten Händedruck ihres Selbst im Gepäck. Dieser Zustand gab ihr das Gefühl der Vereinigung, dann war sie Allem nahe, in Einsamkeit.

      Es entknäulte sich dabei eine aus der Mitte der Stagnation gebettete Unruhe, enthüllte sich wie eine geschichtete Kugel aus einer Kugel heraus und aus der nächsten Kugel. Sie entrollte sich aus dem ihr jeweilig zugängigem Ventil des Verlangens, um Kurven und spitze Winkel herum, durch das Labyrinth der Ferne, ihrer Gegenwart entgegen. Edda erreichten die Sphären des freien Schaffens. Der Bewegung des Keims ähnlich, ohne den Zeitfaktor zu beachten, wie unbedingtes Geschehen ohne Bewusstsein, Kraft des Segens.

      Nur für Augenblicke erreicht gepaartes Schaffen eine Höhe, welche einmal ertastet, dem Leben für immer vom Ewigen flüstert. Und dann will sie besungen werden, klar und sichtbar in Noten verpackt, in verständlichere Formen gepresst, in Farben getaucht, benannt, erkannt und berochen werden. Darum der Drang zur Wiedergabe des Erlebens ohne Namen. Es gelingt nur am Rande, drückt gerade eben nur das Periphere aus, trifft nicht die Mitte, keine Farbe, kein Formenspiel kommt ihr nahe genug.

      Himmel, wie grau ich dich nur darstellen kann, in deinem Blau. Wie niedrig erkannt, in deiner Höhe. Wie leer du erscheinst, in all deiner Fülle. Und ich mich und uns, zwischen alldem, als Hülle empfinde. Als Werkzeug, das zur Bereitschaft geboren den Blick erhebt und nach Weisung lechzt. Sich krümmt, empfängt und mit Wonne gebären lässt. Sich von allem Außen entfernt, sich vom Spiel des Schaffens des Augenblicks ernährt.

      Das, und genau das fühlte Edda. Ihr Sich-Selbst hatte sich bemerkbar gemacht. Wortlos!

      Fausto und das „All Eins“

      Da lief ihr Fausto über den Weg, mit einer Hand das Bierglas haltend, mit der anderen die Zigarette. Eine Komposition, die sich in ihr Dasein drängte und blieb, mit Fausto und ohne ihn.

      Zuerst achtete sie auf seinen wohlklingenden Bariton, der aus dem Stimmengewirr der Thekensteher über allem zu schweben schien und an ihr Ohr klang, direkt neben sich, als sei rundherum nur Stille. Edda drehte sich zu ihm um, sah seinen Blick, und seine besetzten Hände erschienen ihr wie eigenständige, vollendete Formeinheiten. Sie begann sich augenblicklich nach ihm zu sehnen. Ein Sehnen, das nie endete, mal heftiger, mal überschaubarer, das aber stets präsent war und mit ihm in Verbindung stand. Die Kapsel, in der ihr Herz jahrelang um sich selbst rotiert war, zersprang in tausend unauffindbare Teile.

      Er wirkte auffällig gelassen, vermittelte Edda eine Art Gleichgewicht, in das sie am liebsten sofort eingetaucht wäre. Sie traute ihm, nach diesen wenigen Sekunden des ersten Eindrucks, weder unkontrollierte Wutausbrüche, noch übermäßig erkennbare Leidenschaft zu, und sie witterte eine besondere Art von Wissen. Auch das suchte sie. All das gedachte Edda, schon nach den ersten Momenten dieser wortlosen Bekanntschaft im Kneipengetümmel, genauer herauszufinden, herauszufiltern und zu genießen.

      Wie oft sah sie ihn später davongehen. Ruhig, wortlos, mit leichtem Schritt, als ginge er barfuß über festen Moosboden, durch einen von Lichtstreifen durchfluteten Birkenwald. Besonders wenn er erschüttert oder traurig war, verwandelte er sich in diesen waffenlosen Indianer. Sie fühlte sich dann völlig hilflos seiner Ruhe gegenüber und erkannte nur die Schönheit dieser Traurigkeit im Ganzen, die ihr seine gelassene Haltung in solchen Situationen bot. Er reagierte nicht „normal“, nicht wie andere Menschen auf innere Erschütterungen reagierten. Es gab dann zwar noch ein wortloses Verständnis zwischen ihnen, aber Edda empfand es, gegen alle Notwendigkeit des Alltags, als nicht lebbar. Er zog sich immer wieder zurück, und sie versuchte, beinahe unermüdlich, ihn auf seiner anderen Ebene zu erreichen.

      Er hockte wie hilflos vor seiner Schreibmaschine, im Schatten der spanischen Sonne, im äußersten Süden Europas und zerkaute den Faden für ein neues Drehbuch. Er hatte sich gedanklich ihrer erstaunlichen Unbedarftheit angenommen, wodurch sein legendäres Gleichgewicht nun doch ein wenig aus den Fugen geraten war. Diese Unbedarftheit, so nannte er es später, wenn sie sich von ihren Gefühlen leiten ließ, flatterte bis in seine Träume hinein. Sie umschlang das Siegel reiner