Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum. Gabriele Plate. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Plate
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745097658
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konnte eine ganze Familie schließlich nicht in einem Trümmerfeld leben lassen. Keiner der Beamten wusste wie das Haus vorher ausgesehen hatte, wie viele Stockwerke oder Quadratmeter Wohnfläche genau, es vor dem Zusammenbruch gegeben hatte. Nichts dergleichen war aus den alten Papieren ersichtlich. Die Erkundigungen beim Katasteramt waren ergebnislos. Gerade in diesem Teil der Luftaufnahmen konnte man nichts Genaues sehen, da das alte Haus aus der Vogelperspektive zum Teil von den Buchenkronen verdeckt war. So wurde es dreifach größer wieder aufgebaut, genau nach Vaters Plan. Es hatte drei Bäder, eine Sauna mit Schwimmbecken und ein Kaminzimmer in teutonischen Maßen. In seinen Räumlichkeiten hätte ein Stab Pioniere, samt Familienangehörigen, Platz gefunden. Vielleicht war es genau das, was Vater bedacht hatte. Außerdem schien es zum größten Teil aus Fenstern zu bestehen. Acht Monate im Jahr wollte die Zimmertemperatur, trotz Heizung, nicht über 17 Grad hinaufklettern.

      Aber so weit war es noch lange nicht. Zunächst wurde ein großer Bauwagen auf das Grundstück gestellt. Darin waren sechs Betten untergebracht, im Zweierpack übereinander montiert und im hinteren Teil des Bauwagens befestigt. Im vorderen Teil fand der Rest statt. Mutter wurde bald aus diesem Teil des Albtraumes erlöst, wie sie die Situation nannte.

      Eines Tages entdeckte die ergebene Magd, dass der Herr des Hauses mit einem anderen Hemd am Leibe zurückkam, als es am Morgen beim Verlassen seines Clans der Fall gewesen war. Ein frisch gebügeltes Oberhemd. Auch seine Rasur war makellos, sichtlich keine Stunde zurückliegend. Es wurde so lange gebohrt, bis sich herausstellte, dass er schon seit Monaten seine Sekretärin bestieg und ihr luxuriöses Bad benutzte. Vater wurde des Verrats angeklagt. Mutter mietete ein kleines Apartment in der nächsten Kleinstadt, und Edda musste eine Weile das Geräusch der klappernden Absätze am Abend, bevor Mutter das Kinderbett erreichte, um ihr den Gutenachtkuß zu geben, vermissen.

      Nach einigen Monaten, Edda war schon ins nächste Schuljahr gerutscht, was einem kleinen Wunder glich, waren endlich einige Zimmer im neuen Haus bewohnbar. Die kleine angemietete Wohnung wurde nun als Büro genutzt, und Mutter residierte wieder Tag und Nacht bei ihrer Familie. Man hatte sich schnell an die enormen Räumlichkeiten gewöhnt.

      Vater hatte am ersten Abend des Einzugs seiner Beethovenphase Ausdruck verliehen. Er ergötzte sich an der Überschaubarkeit einiger dieser Werke, ließ sich, je nachdem wie der Meister es den Noten befahl, in Hochstimmung oder sentimentale Rührung versetzen. Er verlangte klare Gefühle beim Musikgenuss, keine Experimente, und er ahmte dabei gerne die Bewegungen eines Dirigenten nach. Sein Musikgeschmack duldete keinen Anspruch an freies Empfinden oder Erstaunen in der Aufnahme unvorhergesehener Tonfolgen.

      Eddas große Schwester hatte eine LP geschenkt bekommen. Vater kam nach Hause, stürzte an den Plattenspieler und entfernte den Tonarm manuell mit einem Ratsch von der Schallplatte. „Was macht diese Negermusik in meinem Haus“, bellte er.

      Er war kein romantischer Mensch, doch bestimmte Musik und Heldenhaftigkeit rührten ihn. Er umarmte, um geliebt zu werden. Er half, um Bewunderung zu ernten und er verbrachte Heldentaten, um gerühmt zu werden. Er schien nichts zu vollbringen, einfach nur um der Sache willen.

      Vater litt immer noch unter dem Nichtsieg des Vaterlandes. Zumindest grub sich das so, aus seinen Reden entnommen, in Eddas Bewusstsein. Es war überaus erstaunlich, dass er sich mit Sieg oder Untergang einer Nation identifizierte, da er gewiss nicht für das kollektive Empfinden geschaffen war. Sein Ego war unverwüstlich.

      Er klaubte gerne Gegebenheiten aus der Vergangenheit heraus, drehte daran herum und konstruierte ein neues Gerüst für die Gegenwart. So schlüpfte er aus diesem Neubau als der Gute, der Schlaue oder Unschuldige hervor. Er fingerte in dunklen Löchern der Vergangenheit, knetete und roch, bis sie sich erhellten. Danach wiederholte er gedanklich oder verbal viele Male den neuen, für ihn günstigeren Umstand, bis er ihn am Ende selber glaubte. Das war der entscheidende Punkt, er glaubte wirklich an das, was er sich zurecht gedacht hatte.

      Es muss ein mühsames Schleppen gewesen sein, aber er krallte sich an diesem Gewicht fest, als sei es das gewesene Selbst. Er konnte eine Person verurteilen oder bevorzugen, auf Grund seines Fantasiegeflechts. Die Familie versuchte mit dieser seiner Eigenart Schritt zu halten. Sie versuchte ihr Bestes.

      Vaters Einfälle

      Eddas Vetter, ein Psychiater, den sie viele Jahre später einmal darauf ansprach, erklärte ihr, dass dieser Vater die Verdrängungskunst perfekt beherrsche. Das müsse so sein, sonst könne er die Kriegslasten nicht tragen. Eine schwere Krankheit, die besonders bei den Überlebenden des Krieges seiner Generation sehr verbreitet ist. Auch eine jahrelange Therapie würde, nach so langer Zeit, in den wenigsten Fällen Erfolg haben. Der Kranke, so müsse man ihn wohl nennen, ist oft so schwer traumatisiert, dass er irgendwann, früher oder später, unter totalem Realitätsverlust leide, nicht zuletzt um sich zu schützen. Er hocke in seiner ausgepolsterten Höhle als der einzig Gute und sähe nur noch Feinde und schlechte Menschen, da er selber zu intensiv und lange, schlecht und Feind gewesen sei. Arroganz käme auch noch dazu, weil diese Überlebenden sich unbewusst für unsterblich hielten.

      „Es wird leider noch eine Weile dauern bis sie aussterben. Ein wahres Übel der Menschheit, diese Alten, diese Kriegsveteranen.“

      Er sah Eddas entsetztes Gesicht und fügte hinzu, diesen Satz nicht als Arzt ausgesprochen zu haben, sondern als direkt Betroffener eines dieser Verrückten in seinem nahen Familienkreis.

      Edda erfand ihre Sprache für das Wortlose schon sehr früh, viele Jahre bevor sie an den Waldrand gezogen waren. Sie war noch kein Schulkind gewesen, als ihr der Keuchhusten den Kleinkindspeck raubte. Sie war besorgniserregend dünn geworden und hustete oft noch so stark, dass sie sich erbrach, obwohl die akute Krankheit schon seit Monaten überstanden war. Schon beim ersten Hustenreiz kotzte sie los. Das nervte Vater ungeheuerlich, doch je mehr er befahl mit dem blödsinnigen Keuchen aufzuhören, umso öfter keuchte und kotzte Klein Edda ihm vor die Füße. Dem dringenden Rat des Arztes folgend, schickte man sie nach Bad Kreuznach in ein Kinder Erholungsheim. Edda war knappe Fünf und hatte das Gewicht einer gesunden Dreijährigen. Der Zug war beladen mit ängstlichen Kindern, welche alle ihr Namensschild um den Hals gebunden auf der Brust trugen. Zwei Schwestern vom Roten Kreuz begleiteten diese Fracht. Edda war noch nie von ihrer Familie getrennt gewesen. Sie war eine der Jüngsten im Heim, in dem großen Schlafsaal war sie aber das einzige Kind, dem ein Gitterbett zugewiesen wurde. Sie konnte natürlich hinausklettern, die Seitengitter waren hier nur zum Schutz gegen das Herausfallen gedacht.

      Da sie den Esstisch nicht verlassen durfte, bevor ihr Teller Wirsing Eintopf leer gegessen war, wurde sie gleich am ersten Tag der Buhmann. Sie saß stundenlang vor diesem Teller, sprach mit den Fliegen, die vergnüglich an den glibberig weißen Speckwürfelchen saugten, die sie spielerisch um den Tellerrand drapiert hatte. Natürlich gab es zur Strafe keinen Nachtisch für sie, die Kalorienbomben für die Kinderschar. Eddas Gewicht fiel weiter.

      Kinder hatten in diesem Haus an Gewicht zuzulegen, es war die oberste Pflicht der Schwestern, darauf zu achten. Die Gewichtszunahme wurde jede Woche dokumentiert. Keine Gewichtsabnahme! Aus diesen Zahlen ergab sich die Notwendigkeit dieses Establishments, sie rechtfertigten die Subventionen.

      Alle Kinder aßen freiwillig, nur Edda nicht. Man versuchte sie zu nudeln. Eigentlich aß sie gerne, aber niemals viel, außerdem gab es hier nur Speisen, die sie nicht mochte. Man hielt sie zu zweit fest, und eine dritte Person schaufelte ihr die kalten Speckbröckchen ihres Tellerrandes in den gewaltsam geöffneten Mund. Speck macht fett, das wusste jeder.

      Edda schluckte, hustete und kotzte. Nach einigen weiteren Versuchen, die Nahrung gewaltsam einzuverleiben, entschied man, dass sie ungehorsam sei und sich für den beliebten Nudelakt nicht eigne. Ihre Tasse Milch wurde von nun an mit flüssiger Sahne angereichert. Man gab ihr nur noch dick belegte Käsebrote mit viel Butter zu essen und doppelte Portionen Schokoladenpudding. Sie aß, allerdings einsam am Katzentisch, an den die bösen, ungehorsamen Kinder verbannt wurden.

      Im Schlafsaal war sie ein willkommenes Spielobjekt geworden. Die älteren Mädchen standen abwechselnd auf, zogen Edda die Bettdecke vom Hintern und versteckten sie, mal auf der Fensterbank, mal unter irgendeinem Bett oder in der hintersten Ecke des großen Raumes. Dann rannten sie zurück in ihre Betten und kicherten ausgelassen.