Edda – oder der faule Apfel im Zwischenraum. Gabriele Plate. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gabriele Plate
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745097658
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verschlossene Schubladen waren kein Grund für sie, nicht an deren Inhalt zu gelangen, falls sie diesen benötigte.

      Zuerst kam das Lügen und das Vergehen der Fälschung aufs Tablett, dann der aufgebrochene Schreibtisch, sein Heiligtum. Danach stürmte der Ex-Kriegsgefangene über Edda. Er wurde immer wieder hervorgeholt. In ihrer Fantasie, ein hungriger Geist, der gierig die grüne Patina von ihren vergammelten Stullen kratzte. Den Vortrag über den Hunger, und was das Brot auf dieser Welt bedeute, kannte Edda auswendig. Und wieder lamentierte er sich in Rage. Raus an den Bach, Weidenruten schneiden!

      Drei oder vier brachte sie zur Auswahl zurück. Lang genug, kurz genug, dick genug, schmal genug. Die Stöckchen wurden wie gehabt, vom Vater auf ihre Tauglichkeit hin geprüft. Sie funktionierten alle, nun war er an der Reihe zu wählen. Sein Körper, seine Hände, seine Stimme, seine unantastbare Autorität, wie in ein Kraftpaket gepackt. Edda beugte sich, aber sie sah nie sein Gesicht bei diesen Züchtigungen. Nur ein Fleck, pappschachtelartig, starr und grau. Die Angst vor dem Schmerz beherrschte sie. Berauschte ihn? Die Konfusion diese Pappschachtel zu achten, gar zu lieben, zog ihre Bahnen. Wie nahe können sich Liebe und Schmerz sein, sich gegenseitig auf die Füße treten? Edda fuhr stehend auf dem Fahrrad zur Schule. Fünfunddreißig Minuten hin und fast eine Stunde zurück, bergauf.

      „Es tut mir ja selber weh, ich tue das wirklich nicht gern“, hörte Edda ihn zu ihrer leise weinenden Mutter sagen, „aber nur so, kann ein anständiger Mensch aus ihr werden.“

      Die Eltern waren sehr mit sich und der Firma beschäftigt. Edda genoss die Zeiten ohne das Familienoberhaupt, Vater war oft unterwegs. Ungestörtes Toben, Spielen und Träumen heilten. Die Wildnis heilte, öffnete weit die Tore zu einer anderen Welt, zu ihrer Wahrheit. Das forderte ihr Instinkt. Freiheit atmen und das Wissen horten, dass es Freiheit gibt. Kein noch so barscher Ton konnte dieses Wissen in ihr vernichten. Auch die Angst war schwächer als der Sog dieser Freiheit, die von Kreativität begleitet, gestärkt wurde. Alles andere blieb zurück. Sie wurde in Klarheit viele Male neu geboren.

      Edda schwänzte die Schule und schrieb sich selbst die Entschuldigungen auf der Schreibmaschine, von nun an mit Mutters Unterschrift. Eine Unterschrift, die keiner der Lehrer kannte. Der Druck ihres Erzeugers war stark und unerbittlich, jedoch nicht permanent vorhanden. Er vergaß sie einfach wochenlang, um dann mit aller Macht, wenn er sich ihrer erinnerte, ein Stück Erziehung nachzulegen.

      Schon als Edda noch so klein war, dass sie während der Autofahrt vorne im Fußraum des Beifahrers genug Platz hatte zum Spielen, wurde sie von seinen Schlägen auf den Po nicht verschont. Er schlug nie unkontrolliert ins Gesicht, oder etwa auf den Kopf. Das Gesäß war die Zielscheibe seiner äußeren Strafe. Manchmal rutschte es versehentlich auf die hinteren Oberschenkel ab. Besonders wenn Edda beim Lügen erwischt wurde, ließ er kein Wieso und Warum gelten. Sie kannte lange Zeit den feinen Unterschied zwischen Fantasie und Wahrheit nicht, wo steckte die Lüge? Beim Stehlen von Süßigkeiten am Kiosk, gab es auch kein Pardon. Es fanden sich immer wieder neue und alte Möglichkeiten ihr zu zeigen, dass es so nicht ging.

      Vor dem Essen wurde gebetet, Mutter bestand darauf, obwohl sie kein bisschen gläubig war, im Gegenteil, es gibt keinen Gott behauptete sie. Edda war da ganz anderer Meinung. Da Mutter als kleines Kind schon Vollwaise geworden war, bestand sie auf dieser Ansicht. Beinahe das Einzige, woran sie sich jedoch im glücklichen Zusammenhang mit ihrer Mutter erinnern konnte, waren kurze Gebete bei Tisch und vor dem Schlafengehen. Es kam ihr nicht auf das Gebet an, sie wollte nur dieses Gefühl der Geborgenheit an ihre Töchter weitergeben, auch wenn die Welt drumherum ein häuslicher Kriegsschauplatz war.

      „Komm Herr Jesus und sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“, sagte sie feierlich. Es war immer das gleiche Gebet. Vater faltete die Hände nicht, er las seine Zeitung und setzte sich erst an den Tisch, wenn das Gebet und die alberne Händehalterei mit einem “Amen, und Guten Appetit“ beendet war. Eines Tages faltete Vater doch seine Hände und grölte sein Gebet.

      „Lieber Gott im Himmel, schenk mir ein Kind mit Pimmel, ich hab schon vier mit Fotzen, es ist zum Kotzen.“ Niemand am Tisch fiel in seine Lachsalven ein, auch nicht “seine“ Hausgehilfin. Mutter zeigte sich brüskiert. „Ich will solche Schweinereien nicht hören, nicht bei Tisch und schon gar nicht vor den Kindern.“

      Sie wusste nicht, was Edda alles schon von ihm gehört hatte, der Pimmel war dagegen ein Waisenknabe. Das war noch in der Zeit, als Edda sich bereit erklärt hatte, nach Vaters Wunsch, Kapitän zu werden und ihre Stimme auf dunkel trainierte.

      Papa war ein Ehrenmann, so hatte sie erfahren. Ein Ehrenmann ist jemand, der nie lügt und immer Recht hat. Und wenn er brüllte wie ein Tier, das sie nicht kannte, hatte er wohl auch Recht. Selbst wenn die roten Striemen auf ihrem Hintern anschwollen. Sie wusste ja längst, es sollte ein ordentlicher Mensch aus ihr werden. Ein guter Mensch! Doch immer wieder wunderte sie sich, warum dieses Werden so schmerzhaft sein musste. Er küsste ihren angeschwollenen, roten Po und schmierte anschließend eine dicke, klebrige Schicht Penaten Wundcreme darauf. Edda schlief auf dem Bauch.

      Vor vielen Jahren, als sie noch das Herunterziehen einer Türklinke nur auf Zehenspitzen bewältigen konnte, hing sie oft glücklich in einer Wolldecke, wie ein junges Känguru. Zwei Enden der Wolldecke waren an die Lenkstange eines Tretrollers geknotet, die beiden anderen Zipfel hinten am Gepäckträger, der dort in niedriger Sitzhöhe befestigt war. Das ergab eine leichte Schräge in ihrem Wollbeutel. Ihr federleichter Körper baumelte dann zwischen den Beinen ihrer großen Schwester. Jede Unebenheit ließ ihren kleinen Hintern etwas unsanft auf das Trittbrett des Rollers sacken, sie bemerkte es kaum. Ein roter Roller, mit Luftreifen sogar. Sie lag mit angewinkelten Beinen und geöffneten Augen in diesem Nest und fühlte sich geborgen. Die Decke umschloss ihren kleinen Körper, eine etwa zwei Handbreit weite Öffnung über ihrem Gesicht, erlaubte ihr den Blick in die Welt. Ihre Welt der Gegenwart. Dieses Wollschlitzfeld erlaubte ihr alles zu sehen, alles, was ihr lieb und wichtig war. Das Gesicht ihrer großen Schwester, ihre vom Antreten des Rollers wippenden blonden Zöpfe, der blaue Sommerhimmel und mit ihm verflochten, vorbei sausende Baumkronen.

      Edda hantierte viele Jahre mit diesem Erleben. Beim Gedanken daran, fühlte sie erneut diese Sondermischung aus Freude, Abenteuer, Vertrauen und Geborgenheit, auf einer Fahrt ins Ungewisse. Es konnte sogar ihre Angst dämmen, konnte gegen Einsamkeit antreten oder erdrückende Situationen mildern. Das Bild der Erinnerung mit dieser Schwester, die sie durch die Welt lenkte und auf dem Trittbrett stehend mit ihr einen Berg hinunterraste, wirkte heilsam auf Edda. Diese Lieblingsschwester symbolisierte Sicherheit für sie, von frühester Kindheit an. Seit sie denken konnte. Natürlich war dieses Wesen das schönste Mädchen auf der Welt, einfühlsam, klug und unendlich geduldig. Ihre hilfreichen Erklärungen zu „Lindners Wissen der Biologie“, oder spannende Erzählungen zu „Grzimeks Serengeti“ zogen sich über Jahre hin, und etwas später widmete sie sich Eddas Fragen der Pubertät. Selbst Annäherungen zur Negermusik, zu der auch Jaques Lucies, Play Bach gehörte, standen mit auf der langen Aufklärungsliste dieser Wunderblume. Ihre Schwester wusste auf alles eine Antwort, die immer sorgsam gewählt und aufrichtig war. Antworten, die ein kindlich verletzbares Gedankengerüst nicht erschütterten, sondern es erweiterte, trotz oft unvermeidlich beängstigender Wahrheiten. Etwas, was ihre Mutter nicht verstand, diese neigte eher zur Kassandra-Version.

      „Was ist relativ, ist das gut oder schlecht?“, fragte Edda ihre große Schwester.

      „Also, stell dir vor, ein Möwe-Mann von der Nordseeküste Schleswig-Holsteins ist seine Sippe leid, also macht er sich auf den Weg an die Ostsee, um sich nach einer Frau umzusehen. Eine, die er nicht kennt, die er noch nie gesehen hat. Dazu hat er Lust. Er fliegt etwa nur eine Stunde, und schon ist er an einem anderen Meer. Eine neue Welt für ihn, das große Abenteuer. Aber eine Stunde ist relativ. Da er etwa nur fünf Jahre lebt, ist das für ihn ein recht langer Flug. Ein Mensch lebt durchschnittlich etwa achtzig Jahre, falls kein Krieg dazwischen kommt. Das ist wievielmal mehr, wie oft passt die Fünf in die Achtzig?“

      Auf diese Weise rückten ihr Grundregeln der Mathematik näher. Edda zählte schnell an den Fingern nach und sagte, „sechzehnmal“, sie wollte unbedingt hören wie die Geschichte weiterging. „Der Möwe-Mann ist also nur eine Stunde unterwegs, aber für ihn sind das, relativ zu seiner Lebensdauer gesehen, etwa sechzehn