Eigentlich eine Sünde – in einer Fünfzimmer-Altbauwohnung in einem klassizistischen Haus, mit Stuck und Parkett und einem Balkon mit Sandsteinbrüstung eine WG aufzuziehen! Sylvia hatte obendrein überall Dübel eingeschlagen, und Ferdi hatte den Boden in seinem Zimmer gründlich ruiniert. Hatte er da Wasser ausgegossen oder was? Das Parkett warf sich, das musste raus, es war nicht mehr zu retten.
Er schleifte Müllsack und Korb zur Wohnungstür, die würde er nachher mitnehmen. Lauras Zimmer war noch am ehesten benutzbar – sie hatte es völlig leer und picobello geputzt hinterlassen. Hier hatte er seine Matratze ausgerollt und seinen Kleidersack an die Tür gehängt.
Am schlimmsten war die Küche. Laura hatte zwar in dieser einen Woche verzweifelt geschrubbt, aber die Einrichtung war hässlich, zusammengewürfelt und abgewohnt. Typisch WG – der große, schäbige Tisch in der Mitte. Wahrscheinlich hatten sie da über den Putzplan diskutiert oder gestritten, wer sich nicht genug einbrachte – nannte man das nicht so? Marc kannte WGs nur aus Büchern.
Schließlich – wer zog schon in eine WG, wenn er nicht entweder auf alternative Lebensformen stand oder total pleite war? Und pleite war er noch nie gewesen, dazu verstand er wirklich zu viel von der Börse.
Bloß gut, dass er fast alles online erledigen konnte; dieses Chaos konnte er keinem Mandanten vorführen. Sein Laptop piepte, ein Zeichen dafür, dass sich an der NYSE etwas tat. Er eilte hin, bewegte die Maus und studierte den Bildschirm. Aha – interessant... Er dachte einige Minuten lang nach, berechnete die Möglichkeiten und kaufte und verkaufte dann schnell einige Positionen. Gut, damit hatte er mal wieder in einer Viertelstunde ein lässiges Monatsgehalt verdient. Dann konnte er ja mit der Rumpelkammer noch etwas weitermachen, die sollte nämlich mal sein Arbeitszimmer werden. Eine Rumpelkammer mit Blick auf den Balkon – Ferdi war wirklich ein Idiot! Ob der in London auch in der Abstellkammer hauste und das beste Zimmer mit Gerümpel füllte? Bei den horrenden Mieten dort konnte er sich wahrscheinlich überhaupt bloß eine Abstellkammer leisten, in einem minderen Viertel wie Clapham oder Elephant and Castle. Aber Ferdi wollte ja unbedingt in London arbeiten...
Wenn er die Rumpelkammer cremeweiß streichen ließ und den Stuck in hellem Beige... dazu das aufpolierte Parkett, eine helle Büroausstattung, Birke und Stahl vielleicht, einen cremeweißen Ledersessel... oder streng in Schwarzweiß? Nun, das hatte noch Zeit. Frühestens in zwei Wochen war die Wohnung bereit für die Maler und den Parkettfritzen. Und die Bäder, die im matten Charme der Sechziger prangten – himbeerrosa Kacheln, fast jede zweite gesprungen! – mussten ebenfalls gründlich saniert werden. Währenddessen würde er weiter in Lauras Zimmer hausen, dort musste fast nichts gemacht werden.
Er warf zwei potthässliche leere Bilderrahmen in die nächste Mülltüte und ging sich die Hände waschen. Also gut, die Rumpelkammer würde das Arbeitszimmer. Sylvias Zimmer daneben die Bibliothek – oder umgekehrt? Na, mal sehen. Sylvias Zimmer war allerdings um die Hälfte größer. Repräsentativer, das musste man schließlich auch bedenken. Ferdis Zimmer als Wohnzimmer, das von Holger als Schlafzimmer. Ja, das war eine gute Aufteilung, das bessere Bad war direkt gegenüber.
Er setzte sich auf seine Matratze. Und Lauras Zimmer? Das war irgendwie übrig geblieben. Komisch. Gästezimmer? Das andere Bad war direkt daneben... Nein, wozu denn? Wer übernachtete denn schon bei ihm? Sollte er sich wirklich wieder einmal eine Frau anlachen, würde sie ja wohl in seinem Bett schlafen!
Kein Gästezimmer. Wenn es immerzu leer stand, war das irgendwie auch deprimierend. So sehr musste er es sich ja auch nicht unter die Nase reiben, dass ihn niemand besuchte. Andererseits – wollte er überhaupt Besuch haben?
Dann blieb Lauras Zimmer eben erst einmal leer.
Trotzdem – er wusste immer noch nicht, warum sie ihn auf den ersten Blick so quer gefressen hatte. Was hatte er ihr denn getan? Dass er den Zustand bemängelt hatte, in dem die anderen ihre Zimmer hinterlassen hatten, konnte es ja wohl nicht gewesen sein – die waren objektiv verdreckt gewesen. Von dieser kollektiven Rumpelkammer ganz zu schweigen.
Wenn er an diesen kulleräugigen Blick dachte – eigentlich mochte er solche Frauen ja überhaupt nicht. Taten immer so naiv und großäugig und waren dann ganz ausgekocht, wenn es ums Abzocken ging. So was kannte er schon. Nein, wirklich nicht. Da halfen braune Kulleraugen gar nichts.
Seine Traumfrau sah überhaupt ganz anders aus. Mehr so der Typ Grace Kelly: blond, kalt, überlegen. Eine Dame eben. Mit Stil. Diese Laura... in zerrissenen Jeans und einem Sweatshirt mit saublöder Aufschrift... was hatte darauf gestanden? Bücher schenken tausend Leben. Wahrscheinlich ein Werbegeschenk aus der Unibuchhandlung. Nein, eine Frau, die in Werbegeschenken herumlief, war nichts für ihn. Und – wie hatte sie ihn genannt? Einen Taschenrechner auf zwei Beinen? Nein, einen zweibeinigen Taschenrechner. Frechheit! Er verbannte sie aus seinen Gedanken, in denen sie ohnehin nichts zu suchen hatte, und füllte die nächste Mülltüte. Was die Leute alles aufhoben! Das hätte man doch alles sofort und ohne nachzudenken in den Müll werfen können?
Freitag, 15.4.2005: 21:45
„Die Frau tut mir aber trotzdem Leid“, beharrte Joe, als sie in Mönchberg im Benediktsweg parkten.
„Gute Gegend“, lobte Spengler und öffnete seine Tür. „Ja, mir auch. Jetzt steht sie da mit drei kleinen Kindern. Aber glauben Sie, dass dieser Achim so ein Verlust war? Betrogen hat er sie schließlich auch.“
„Und grob angepackt. Haben Sie die blauen Flecken an ihren Armen gesehen?“
„Sicher. Vielleicht ist sie so besser dran. Allerdings könnte sie so auch ein ganz nettes Motiv haben, nicht?“
„Chef, das ist nicht ihr Ernst! Diese kleine Frau?“
„So klein ist sie nicht, sie wirkt nur so auf uns. Und man braucht nicht viel Kraft, um einem Angetrunkenen ein Messer hineinzurennen. Morgen fragen wir sie mal nach ihrem Alibi.“
„Die Frau hat gerade ihren Mann verloren!“
„Eben. Vielleicht war das genau ihr Ziel? So, und jetzt die Schwester.“
„Verdächtigen Sie die etwa auch?“
„Wer weiß? Aber erst mal hoffe ich, dass sie uns etwas über den teuren Verblichenen erzählen kann.“ Er klingelte, und Joe wartete neben ihm.
Nichts. Spengler klingelte noch einmal. Wieder nichts. Nur in der Ferne das Zuschlagen einer Autotür und das Fiepen einer Fernbedienung. Und noch weiter weg das Geräusch eines vorbeifahrenden Zuges.
„Treibt sich rum, die Gute“, kommentierte Joe.
„Schönberger, bitte! Es ist Freitagabend. Verkneifen Sie sich die moralinsauren Anwandlungen. Vielleicht ist sie im Theater oder bei einer Dichterlesung.“
„Dann wäre sie aber ganz schön aus der Art geschlagen, wenn man sich den Bruder vor Augen hält. Auf jeden Fall ist sie nicht da.“
Sie wandten sich ab und stießen fast mit einer Frau zusammen, die sie nicht bemerkte, weil sie in ihrem Lacktäschchen nach dem Schlüssel kramte. Irritiert sah sie schließlich auf. Um die dreißig, registrierte Joe. Gut zurechtgemacht, aber in der Basis eher unscheinbar. Blond, blauäugig, ein bisschen rundlich. Sie kam ihm vage bekannt vor, aber ihm fiel nicht ein, woher.
„Wollen Sie etwa zu mir?“
„Wenn Sie uns sagen, wie Sie heißen?“, fragte Spengler zurück. Ihr Gesicht verschloss sich. „Wer sind Sie denn überhaupt?“
„Kripo Leisenberg. Wir suchen Frau Wenzel.“
„Das bin ich“, gab sie zu, harmlos erstaunt. „Was ist denn passiert? Hab ich falsch geparkt oder was? Ist – o Gott, ist bei mir eingebrochen worden?“ Sie wollte zur Haustür stürmen, wurde aber von ihrem wadenlangen Rock etwas behindert. „Warten Sie doch! Bei Ihnen ist nicht eingebrochen worden. Es geht um Ihren Bruder.“