First Class Flüge und Bruchlandungen …. Christa Schmeide. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Christa Schmeide
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783737503648
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das Gedränge im Wagen, der Mann, der ihr seinen Sitzplatz anbot – alles war in diesem Augenblick weit weg. Selbst das laute Rattern der Bahn konnte sie nicht aus ihren Gedanken reissen.

      Sie sah den Pullover wieder vor sich – diesen roten Feinstrickpullover mit V-Ausschnitt, den sie vor einigen Wochen in einem Wäschehaufen zwischen den Hemden ihres Mannes entdeckt hatte. Robert und sie waren gerade dabei gewesen, sich für ein gemeinsames Abendessen im «Marko’s» schick zu machen. Das Restaurant am Rheinufer gehörte zu den besten Adressen Kölns und war seit Jahrzehnten im Besitz der Familie­ Falcone. Roberts Familie führte insgesamt drei Lokale in der Stadt. Vor drei Jahren war Robert nach Abschluss der Hotelfachschule als Restaurantleiter im «Le Chef» an der Zülpicher Strasse eingestiegen und hatte die 16 Gault-Millau-Punkte seitdem erfolgreich verteidigt. Claire bewunderte ihn dafür. So gut organisiert er das Restaurant leitete, so chaotisch war er allerdings privat. Und trotzdem wunderte sich Claire über den ihr unbekannten Pullover im Wäschehaufen.

      «Wo kommt der denn her?», fragte sie ihn arglos und hob das Wäschestück in die Höhe. Robert stand mit nacktem Oberkörper im Badezimmer und rasierte sich. Das Rasiermesser kam auf seinem eingeseiften Kinn zum Stillstand. Ihre Blicke trafen sich im Spiegel. Ohne sich umzudrehen, zuckte er mit seinen muskulösen Schultern und fuhr wortlos mit der Rasur fort.

      «Also meiner ist das nicht», hakte sie nach.

      Im Spiegel konnte Claire sehen, wie er seine Augenbrauen langsam hochzog. Zwei steile Falten bildeten sich auf seiner Stirn. Ein Kribbeln breitete sich unter ihrem seidenen Morgenmantel aus. Er sah hinreissend aus.

      «Ach, was du schon wieder hast! Den hat doch Mama letzte Woche für mich gekauft», nuschelte er.

      «Ist der nicht etwas klein für dich?» Sie lächelte ungläubig. Ihr fiel ein, dass Roberts schmächtiger Freund Carsten kürzlich einen roten Pullover getragen hatte, als er bei ihnen zum Abendessen eingeladen gewesen war. Vielleicht hatte er ihn versehentlich in der Wohnung liegen gelassen. Andererseits überschüttete Roberts Mutter Marina ihre beiden Söhne tatsächlich mit unzähligen Geschenken – darunter wahllos zusammengekaufte Kleider, Uhren oder Lederwaren. Da konnte man schnell mal den Überblick verlieren. «Zieh ihn doch bitte mal über», forderte sie Robert auf.

      «Du siehst doch, dass ich mich gerade rasiere», sagte er, während er sich mit kaltem Wasser den restlichen Schaum aus dem Gesicht spülte.

      «Ach bitte, jetzt bist du doch fertig», wandte sie ein.

      «Na gut, wenn es sein muss.» Er trocknete sich das Gesicht mit einem Frotteehandtuch ab und nahm Claire den Pullover aus der Hand. Doch schon über den Oberarmen spannte der rote Stoff verdächtig. Roberts breite Schultern setzten dem Anziehversuch schliesslich ein jähes Ende.

      «Dass Mama aber auch nie etwas Passendes kaufen kann!», schimpfte er und befreite sich mühsam aus dem engen Feinstrick. Dann warf er den Pullover in die Badewanne.

      «Doch nicht in die Badewanne», seufzte Claire.

      Robert ignorierte ihren Protest und zog sie zu sich heran. «Was Mode anbelangt, kann ich mich eben nur auf mein Schokoauge verlassen», raunte er ihr ins Ohr.

      Claire lächelte und verdrehte verlegen die Augen. Seine warmen Hände waren bereits unter ihren Morgenmantel gewandert.

      Mit klammen Händen und eiligen Schrittes schob Claire den Buggy durch die Neuenhöfer Allee. Anna war inzwischen eingeschlafen. War Robert ein Lügner? Gehörte der rote Pullover in Wahrheit der Frau mit dem Lockenkopf?

      «Bestimmt», dachte Claire. Robert hatte mit dieser Frau geschlafen. Und das in ihrer Wohnung!

      Was würde nun aus ihr und aus Anna werden?

      Würde sie mit achtzehn bereits alleinerziehende Mutter sein?

      Warum liebte Robert sie nicht mehr?

      Würde er sie und Anna aus der Wohnung werfen?

      Vielleicht könnten sie eine Weile bei ihrem guten Freund Lorenzo unterkommen.

      Claires Herz raste.

      Sie schnappte nach Luft.

      Es fühlte sich an, als würden die vielen Fragen und Gedanken sie erdrücken.

      Als sie die herbstlich gefärbten Bäume des Beethovenparks erblickte, verlangsamte sie ihr Schritttempo. Nur noch wenige Meter trennten sie nun vom Eingang ihres Mietshauses. Im Erkerfenster ihrer Wohnung im zweiten Stock war Licht zu sehen. Robert war also zu Hause. Claires Panikgefühl verstärkte sich.

      Sie wollte von ihm hören, dass alles nur ein dummes Missverständnis war, dass er sie liebte – auch wenn sie manchmal ein tollpatschiges, naives Ding war und in der Küche nicht gerade brillierte.

      Aber was, wenn er zugab, sie betrogen zu haben?

      Wäre dies das Ende ihrer Ehe?

      Sollte sie die beiden Fotos in ihrer Tasche vielleicht einfach vergessen? Es wäre so verlockend – und doch so schwer. Sie konnte eitle, dumme und sogar freche Menschen ertragen. Aber Lügner und Betrüger wie ihren leiblichen Vater hatte sie noch nie ausstehen können.

      Beim Aufschliessen der Haustür blickte Claire ins nasse Gesicht ihrer Tochter. Die Kleine atmete tief ein und aus. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt. Die zarten Lieder mit den langen dunklen Wimpern waren geschlossen. Tränen brannten in Claires Augen.

      «Papa ist ein Dummkopf», flüsterte sie und schüttelte den Kopf.

      Jetzt erst stieg Wut in ihr auf.

      Robert hatte nicht nur sie betrogen, sondern auch Annas Zukunft aufs Spiel gesetzt.

      «Dieses Ferkel!», zischte Claire, als sie mit Anna wenig später die Wohnung im zweiten Stock betrat. Schmutzige Männerschuhe hatten ein hässliches Muster auf dem Flurboden hinterlassen. Claires Wut kochte weiter hoch. In der Ferne hörte sie Roberts tiefe Stimme. Er schien im Wohnzimmer zu telefonieren.

      Sprach er mit seiner Geliebten?

      Claire trug das schlafende Kind in sein Zimmer. Sie betrat eine heile Welt aus provenzalischen Eichenmöbeln und hellen Stoffen. Über dem Kinderbett hing ein lustiges Bärchen-Mobile. Doch die Idylle konnte Claire nicht besänftigen. Sie zog Anna einen grünen Strampelanzug mit Bärchenmotiv an und legte sie ins Bettchen. Danach ging sie in den Flur zurück.

      Robert telefonierte noch immer.

      Claire betrachtete sich kurz im Flurspiegel. Sie blickte in grosse, ernste braune Augen. «Schokoauge» war Roberts liebster Kosename für sie. Süss war an ihrem Anblick allerdings nichts mehr nach diesem schrecklichen Nachmittag. Ihr Haar klebte noch immer unvorteilhaft am Gesicht, und der präzise gezogene Lidstrich war verschmiert. Mit den Fingern beseitigte Claire eilig die schwarzen Spuren um ihre Augen. Dann trug sie etwas roséfarbenen Lippenstift auf und schüttelte die Haare durch.

      Besser.

      Sie atmete tief durch und strich sich das feuchte Mini-Kleid glatt.

      Als Claire das geräumige Wohnzimmer betrat, stand Robert­ am Erkerfenster, ihr den Rücken zugewandt. «Das habe ich ihr schon tausend Mal gesagt! Aber sie kriegt es einfach nicht auf die Reihe», schimpfte er ins Telefon. Es schien sich um eine geschäftliche Angelegenheit zu handeln. Claire sah, wie sich seine breiten Schultern unter dem weissen Hemd strafften. Ihre Wut war längst wieder Angst und Nervosität gewichen.

      «Ich kann das nicht mehr akzeptieren», fuhr Robert fort. «Das ist total unprofessionell! – Ja, mach das. Und lasst es ordentlich krachen heute Abend. Beim nächsten Mal bin ich dann auch wieder dabei. Tschüss.» Er beendete das Gespräch und liess den Hörer auf die Gabel fallen.

      Dann drehte er sich um.

      Seine Miene hellte sich auf. «Kleines! Ihr seid schon zurück? Hast du mir ein Stück Schokoladentorte von Reichard mitgebracht? Ich muss gleich wieder los.» Er ging auf sie zu, um sie zu küssen.

      «Nein. Aber ich habe dir deine Fotos mitgebracht», sagte Claire und zog die Nacktbilder hinter ihrem Rücken