Ihre Mutter seufzte. „Na gut, meine Kleine. Schön, dass du so tapfer bist. Das hast du bestimmt von mir.“
Leonie betrachtete ungläubig den Hörer. „Ja, Mama. So wird´s sein.“Als das Gespräch endlich vorbei war, atmete sie auf und ließ den Kopf auf die Sofalehne sinken. Unglaublich. Ihre Eltern litten beide an totalem Realitätsverlust! Mama als tapfere Frau? Sie nörgelte ununterbrochen – Papa zahlte zu wenig, sie war arm und krank und ungeliebt... Sie hatte netto fast dreitausend im Monat, schließlich waren die Großeltern nicht gerade arm gewesen, sie war pumperlgesund (Leonie zwang sie einmal im Jahr zu einem Check) und sie hatte ungefähr dreimal so viele Freundinnen wie ihre Tochter und obendrein den einen oder anderen Verehrer, der ihr die Hand küsste, sie mit Gnädige Frau ansprach und sie in die Oper ausführte. Heiraten wollte sie natürlich nicht mehr, denn dann müsste Papa nicht mehr zahlen, und das gönnte sie ihm nicht.Papa war auf seine Art auch nicht besser. Eine gescheiterte Existenz, die aber gar nichts dafür konnte. An seiner misslichen Lage waren schuld:a) seine Eltern. Er war das Produkt einer hastigen Kriegsehe zwischen zwei Teenagern; der Vater war kurz nach der Trauung gefallen, und Oma Lieselotte war mit dem umtriebigen Sohn schlicht überfordert gewesen.b) seine Exfrau. Wie hatte sie einfach schwanger werden können, so dass er sie heiraten musste?c) Leonie. Ohne ihr Auftauchen hätte er nicht heiraten müssen und hätte den Kopf frei gehabt, um die ganz, ganz große Karriere machen zu können.d) diverse missgünstige Konkurrenten. Sie erfanden bahnbrechende Dinge einfach früher als er und ließen sie sich auch noch schützen, sie machten ihn bei seinen Chefs madig, sie redeten ihm ein, dass eine frühzeitige Pensionierung viel Geld und viel Freizeit bedeutete und sagten gemeinerweise nicht dazu, dass man dann doch etwas weniger bekam als bei termingerechtem Ruhestand und dass so ein Rentnerdasein, auch gut abgesichert, langweilig war.
Last but not least war natürlich auch seine Derzeitige an allem schuld. Leonie grinste vor sich hin. Die arme Thea! Eigentlich eine nette Frau, nur mit einem grässlichen Männergeschmack, wenn sie immer noch bei Papa blieb, der nichts tat als zu jammern, wie gemein das Schicksal mit ihm umgesprungen war – bloß, weil Thea gut verdiente und er selbst ungefähr einen Tausender im Monat an Mama zahlen musste.
Seitdem Leonie mal der Kragen geplatzt war und sie ihm gesagt hatte, dass es ihm immer noch besser gehe als den zahllosen Hartz IV-Empfängern und dass er damals ja bloß Kondome hätte benutzen müssen, um sich den ganzen Ärger zu ersparen, galt sie bei ihm als undankbares Gör und hatte Hausverbot. Mit Thea telefonierte sie ab und zu, auf Papa konnte sie gut verzichten. Dass er ihr nach dem Abitur verboten hatte zu studieren, weil er sich das angeblich nicht leisten konnte, hatte sie ihm wiederum nie verziehen. Natürlich hatte sie doch studiert, sie konnte das schließlich mit ihrem Schmalspurtrading locker selbst finanzieren. Offenbar hatte er keine Ahnung, wie viel Geld sie wirklich besaß, sonst wäre er bestimmt netter zu ihr gewesen.Und würde sie pausenlos anpumpen. Besser so!Wieso hatte sie eigentlich so durchgeknallte Eltern? Ein, zwei Geschwister wären nett, mit denen könnte man sich lustvoll über die beiden das Maul zerreißen – aber die Ehe ihrer Eltern musste ja schon auf dem Standesamt als gescheitert betrachtet werden. Leonie konnte es sich so richtig vorstellen – die Braut mit kleinem Bäuchlein, Papas Mutter, Oma Lieselotte, ängstlich und stolz zugleich, weil der wilde Bub doch eine so gute Partie machte, und Mamas Eltern, die Stölzls, die grimmig dreinschauten – ihre hübsche höhere Tochter genötigt, diesen Proleten zu heiraten, weil er sie geschwängert hatte.
Die Stölzls waren immer unangenehm gewesen, erinnerte sich Leonie. Erst bei der Scheidung waren sie aufgeblüht, und sie hatten versucht, ihre Tochter dazu zu überreden, Leonie bei ihrem Vater zu lassen und selbst nach Hause zurückzukehren: „Irmchen, wir sind sicher, wir finden noch einen wirklich guten Mann für dich. Papa kennt doch so viele honorige Menschen! Aber mit diesem Kind, das dich immer nur an diesen Fehlgriff erinnern wird...“
Leonie hatte damals, neun Jahre alt, an der Tür gelauscht und sofort kapiert, dass sie abgeschoben werden sollte. Sie hatte Angst bekommen, weil sie nicht bei Papa leben wollte, der sie meistens gar nicht zur Kenntnis nahm und sie wahrscheinlich kurzerhand in ein Heim gesteckt hätte. Über Heime wusste sie Bescheid, die Uschi in ihrer Klasse lebte in einem und fand es grässlich, obwohl alle ganz nett waren und das Essen nicht so schlecht. Ja, ein SOS-Kinderdorf... darüber hatte sie damals gerade ein Jugendbuch gelesen, das hätte sie sich vorstellen können...Kopfschüttelnd dachte Leonie an die alten Zeiten. Noch heute spendete sie den SOS-Kinderdörfern jedes Jahr einen anständigen Betrag, weil sie deren Existenz damals als Trost empfunden hatte: Wenn es zu furchtbar würde, würde sie abhauen und in so ein Kinderdorf ziehen! In diesem Buch war es ganz toll gewesen, dort zu leben...
Papa war dann allerdings verschwunden, bevor die Stölzls ihre Tochter weich gekocht hatten, und so behielt Irmchen Leonie notgedrungen bei sich.
So schlimm war es auch wieder nicht gewesen, erinnerte sich Leonie. Sie hatte mehr oder weniger machen dürfen, was sie wollte – beziehungsweise hatte Mama ihr alles geglaubt: dass sie mit Kira Make-up und Klamotten ausprobiert hatte, dass sie in der Stadt waren zum Schaufensterbummel, dass sie in der Theater-AG war... in Wahrheit hatte sie Nachhilfestunden gegeben oder im Drogeriemarkt an der Kasse gesessen. Und an ihrem achtzehnten Geburtstag hatte sie mit dem ersparten Geld ein kleines Depot eröffnet und vorsichtig zu spekulieren begonnen. Immerhin hatte sie so schon beim Abitur genug Geld gehabt, dass sie allen Beteiligten sagen konnte, wie egal es ihr war, ob sie ihr das Studium finanzierten. Und der High-Tech-Boom kurz vor der Jahrtausendwende hatte sie ziemlich reich gemacht, reich genug, um diese Wohnung hier zu kaufen (im feinsten Waldburgviertel) und noch ein hübsches Polster übrig zu behalten. Gut, sie konnte nicht jetzt schon aufhören zu arbeiten und von ihrem Vermögen leben, dazu war es doch noch zu wenig (außerdem machte ihre Arbeit ihr schließlich Spaß), aber in zehn Jahren etwa... Dann konnte sie immer noch ein Kind haben – wenn sie bis dahin Lust darauf hatte, in diesem Land und bei diesen Verhältnissen.
Mama nahm nicht zur Kenntnis, dass sie schon fast ausgesorgt hatte, denn in Mamas Welt sorgte frau aus, indem frau klug heiratete und diese Ehe dann entweder krampfhaft aufrecht erhielt oder sich sehr geschickt scheiden ließ. Noch besser wahrscheinlich eine reiche Witwe wurde. Und in Papas Welt war alles, was ihn nicht unmittelbar betraf, sowieso uninteressant. Von ihm hatte sie schon vor dem großen Krach selten gehört und es auch nicht weiter vermisst.
Sollte sie Thea anrufen? Ach, lieber nicht heute. Es war Freitagabend, verdammt, und schlimm genug, dass sie nichts vorhatte. Da konnte sie sich ja wohl wenigstens ein anständiges Schinkenbrot machen und danach ein bisschen spazieren gehen!
Vollkornbrot, dünn scharfer Senf, fettfreier Schinken – solches Essen war ihr seit Jahren in Fleisch und Blut übergegangen, genauso wie viel Bewegung. Sie versuchte, während sie in ihrer wunderschönen Küche aus dunklem Holz und Edelstahl lehnte und das Brot aß, sich an die Zeit erinnern, als sie gerade volljährig geworden war – neunundachtzig Kilo hatte sie damals gehabt, der reine Frustspeck. Je schneller ihr Depot gewachsen war, desto rascher waren auch ihre Hüften geschrumpft, und heute passte sie problemlos in Größe achtunddreißig und schaffte alle Treppen bei XP ohne zu keuchen. Gute Leistung. Hinterher könnte sie vielleicht noch die wunderbaren Aprikosen essen, die sie vorhin gekauft hatte... holte sie sich morgen eben neue.Das Brot war ziemlich sättigend. Sie ging ins Schlafzimmer, freute sich auch hier an der Schönheit des Raumes (den überquellenden Wäscheständer musste man sich freilich wegdenken) und zog ihr Kostüm aus und alte, weiche Jeans und eine ebenso alte und weiche Strickjacke an. Das Kostüm landete auf einem Bügel an der Schranktür und wurde liebevoll zurechtgezupft. Dabei musste sie lachen –