Er seufzte. „Da könntest du wohl Recht haben. Naja, lass uns schlafen.“ Er zog ihren Kopf an seine Brust und stopfte die Decke rund um sie beide fest. Sie hörte sein Herz schlagen, und der gleichmäßige Rhythmus schläferte sie ein.
Ein Donnerschlag weckte sie auf, und als hätten sie sich abgesprochen, fuhren sie auseinander und in einer fließenden Bewegung in die herumliegenden (in Leonies Fall immer noch feuchten) Kleider, dann nahmen sie das gemeinsame Lager auseinander und packten ihre Rucksäcke. Als sie gesittet nebeneinander auf den Steinsitzen saßen, musste Leonie lachen. „Hast du dich eben auch so ertappt gefühlt? Als hätten wir etwas Verbotenes getan...“
Er grinste matt, was sie nur schattenhaft wahrnahm. Heller war es auch nicht wirklich geworden, aber das wiederholte Donnern vor der Dreckwand kam tatsächlich von Schlägen und nicht etwa von einem Gewitter.
„Vielleicht haben sie doch unsere Handys geortet“, vermutete er.
In diesem Moment bohrte sich eine Stahlstange in die Höhle und ein Teil der Mauer aus Erde und Steinen brach ein. Das Tageslicht, das sich schlagartig in der Höhle ausbreitete, blendete Leonie, und sie rieb sich die Augen. Die Stange verschwand wieder und tauchte einen Moment später neben dem ersten Loch wieder auf. Wieder stürzte ein Teil der Wand ein, und nun schauten einige Männer mit Bauhelmen herein. Leonie stand auf und tappte zum Ausgang. „Fein, dass Sie da sind!“
„Na, Sie nehmen es ja gelassen. Guten Morgen. Sind Sie die einzige, die hier verschüttet worden ist?“
„Nein“, sagte der Mann, der neben ihr auftauchte. „Wir waren zu zweit. Können wir schon raus?“
„Klar. Nehmen Sie meine Hand!“
Der feste Griff ermöglichte es Leonie, über den Schlammwall zu klettern. Es schien früher Morgen zu sein, die Sonne schien und die Natur glitzerte, also hatte es wohl die ganze Nacht weiter genieselt. Kalt war es – aber diese herrliche frische Luft!
„Himmlisch“, murmelte sie und breitete selig die Arme aus, dann wandte sie sich den Rettern zu, die gerade ihrem Gefährten über die Lawinenreste halfen. Er sah gut aus, stellte sie beiläufig fest und verbot sich diesen Gedanken schnell. Wozu denn noch! Sie konnte schließlich schlecht sagen He, wenn ich gewusst hätte, dass du so vorzeigbar bist, hätte ich hier nicht die Bindungsscheue gegeben. Außerdem waren die Gutaussehenden oft ja die allerschlimmsten Machos und dachten sich am wenigsten dabei, wenn sie anderen Leuten das Leben durcheinander brachten.
„Danke, dass Sie uns gerettet haben“, sagte sie also artig zu dem, den sie für den Chef des Rettungsteams hielt. „Ich nehme an, Sie brauchen meine Adresse? Und das ist bestimmt keine billige Aktion gewesen...“
Ihr Gegenüber winkte ab. „Name und Adresse, ja. Für die Unterlagen. Aber Sie haben sich ja nicht mutwillig in Gefahr gebracht, also glaube ich nicht, dass Sie für den Einsatz zahlen müssen. War auch nicht so teuer.“ Leonie betrachtete sich das Fahrzeug mit dem Bohraufsatz. „Wie haben Sie den denn hierher gebracht? Die Wege sind doch total schmal.“
„Dahinten gibt´s eine Versorgungsstraße. Ist für Touristen gesperrt, sonst parken da alle Idioten. Waren Sie alleine hier oder mit einer Reisegruppe?“
Leonie erklärte alles und versprach, sich im Schwarzen Bären korrekt abzumelden – dass sie auf eine Fortsetzung dieses Urlaubs keine rechte Lust mehr hatte, konnten die Retter verstehen. Sie wartete außer Hörweite, während ihr Leidensgenosse seine Daten angab, und fragte sich selbst, warum sie gar nicht wissen wollte, wie er hieß und wo er lebte. Wahrscheinlich war er ein besserer Versicherungsfritze aus München, vermutete sie, aber die Sache war vorbei, und es hatte keinen Zweck, mit neuen Informationen das Interesse künstlich wach zu halten. Nein, lieber ein gründlicher Schnitt und dann ab nach Hause.
„Können Sie mich mit nach unten nehmen?“, fragte sie, als sie fertig waren, „Beziehungsweise uns? Oder wollen Sie runterwandern?“, wandte sie sich an ihren Exliebhaber. Der schüttelte den Kopf. „Runter, auschecken und ab nach Hause. Sie auch, oder?“ Sie registrierte die etwas giftige Betonung des Sie – ja, hatte er denn erwartet, dass sie ihn hier vor allen Leuten duzte, damit die Retter nachher alberne Witze darüber rissen, wie sich die beiden wohl die Wartezeit in der verschütteten Höhle vertrieben hatten?
Im Wagen unterhielt sie sich vor allem mit einem der Retter, der sich dafür interessierte, wie sie die Verschüttung wahrgenommen hatte, und ignorierte ihren Schicksalsgefährten nach Kräften. Erst als der Wagen vor dem Schwarzen Bären hielt und sie sich von allen Rettern noch einmal herzlich verabschiedet und zum wiederholten Mal eine psychologische Betreuung verschmäht hatte, wandte sie sich zu ihm um und sagte leise: „Adieu.“
1
Im Großraumbüro herrschte der übliche ohrenbetäubende Lärm: Am Fenster zankte sich eine große Runde über einen Slogan, dessen Beurteilung, die weithin zu hören war, zwischen unterirdisch und genial schwankte, in der Mitte telefonierte Hubert aufgeregt mit einem Kunden, der offensichtlich gerade das ganze Konzept umgeschmissen hatte, und auf der anderen Seite, dort, wo die Glaswand nur auf den Gang hinaus schaute, gackerten einige Mädels über den Probeabzügen einer Anzeige, die einen bildschönen nackten Mann als Blickfang hatte.Leonie schüttelte den Kopf und verzog sich in ihr Büro, eines der Glaskabuffs am Ende des Raums, die den besseren Leuten zustanden. Die Kampagne für SUNPERFECTION war fertig – Anzeigen, Spots, Plakate, ökologisch einwandfrei und nicht mehr mit nackter Frauenhaut werbend als allgemein vertretbar.Ethisch bewegte Auftraggeber waren eine Pest. Sehr ehrenwert, sicher, und eigentlich auch sehr wünschenswert, aber jeder Blickfang war ihnen zu sexistisch oder zu primitiv oder dem Kunden gegenüber nicht ehrlich genug. Wieder verwertbare Flaschen, die Lieblingsidee des Herstellers, waren an den Hygienevorschriften und am Widerstand des Handels gescheitert, wie nicht anders zu erwarten. Immerhin, jetzt war das Projekt erledigt, der Kunde hatte alles genehmigt und der Chef hatte befriedigt genickt. Tiefenbacher war schon okay.
Sie warf ihre Unterlagen auf den Schreibtisch, zog den Blazer aus und krempelte die Ärmel hoch. Erstmal aufräumen, und dann sehen, was als nächstes anlag! Ein ziemlicher Haufen Post war auf ihrem Schreibtisch gelandet, und sie machte sich daran, ihn zu sichten. Eine Sekretärin müsste man haben, die wenigstens schon einmal die Umschläge öffnete!
Einladung zu einem ziemlich unwichtigen Kongress, Anfang September – schon vorbei, konnte weg. Wieso hatte sie das eigentlich nicht rechtzeitig bekommen?Überstundenabrechnung – ab in die Tasche, das gehörte zu ihren persönlichen Unterlagen.Anfrage von W&P wegen einer Zusammenarbeit bei einem Projekt für die Stadt Leisenberg. Der Brief klang witzig:
Leisenberg ist anders ja ein schamloses Plagiat wäre und es sonst nicht viel gibt, womit man ehrlich werben könnte, fühlen wir uns alleine ein wenig überfordert...“
- wer hatte das geschrieben? Ach, die Zierer. Die war gut. Sie würde Tiefenbacher fragen, ob er einverstanden war. Mit einem grellfarbenen Post-it verziert, kam der Brief auf einen separaten Stapel.Werbung – Werbung – Werbung... In einer Werbeagentur konnte man so etwas nicht völlig unbeachtet wegwerfen, also sah sie alles flüchtig durch, ob man wenigstens gute Ideen klauen konnte. Nein, alles Mist, und sie brauchte weder dubiose Geldanlagen noch eine preiswerte Zahnbehandlung in der finstersten Slowakei, und ein völlig neues Diätkonzept ging ihr auch am Arsch vorbei.Erfolgreiche Frauen machen keine Diät, ärgerte sie sich, das ist Beschäftigungstherapie, von Männern ersonnen, um die Frauen als Konkurrenz auszuschalten. Erfolgreiche Frauen haben ihre Gesundheit im Griff und denken nicht dauernd darüber nach, basta. Weg mit dem Mist!Der Rest war Kleinkram, eine Anfrage von der Personalabteilung, zwei Zeitschriften, die sie für die Abteilung abonniert hatte (und sofort nach draußen trug, wo sie wahrscheinlich keine dieser Nasen lesen würde, obwohl es ihnen nicht schaden würde) – und ein Notizzettelchen, dass Petersen sie sprechen wollte.
Huch, Petersen? Der Obermotz? Sie hatte ihn noch nie gesehen, denn Tiefenbacher hatte sie eingestellt. Wollte er sich die „Neue“ mal anschauen? Nach rund drei Jahren und ungefähr zwanzig erfolgreichen Projekten, vom täglichen Kleinkram