Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung. Eva Eichert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Eichert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658207
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sie den Schleim wieder nach oben, würgte und spie Rotz und Maden wieder aus.

      “Oder glaubst du tatsächlich, dass sie dich gehen lassen?“ Sie streckte ihre Hände nach ihm aus. Er starrte auf ihre Fingernägel. Als hätte sie sich ausgegraben, dachte er. Endlich fand er das Messer und griff zu.

      “Aber keine Angst“, knarzte sie. „Ich werde dir helfen, dass du für immer musizieren kannst. Du darfst einfach nur nicht weitergehen, wenn du drüben bist.“ Plötzlich warf sie sich mit voller Wucht gegen ihn und packte ihn mit unmenschlicher Kraft am Hals. Bjorns Hand wurde von seinem eigenen Körper in der Spüle eingeklemmt, während ihm die immer dürrer werdenden Finger seiner Jugendberaterin die Blutzufuhr zum Gehirn abdrückte. Er hatte das Gefühl, dass ein ganzer Orkan durch seine Ohren brauste, als sich durch den Rückstau ein unerträglicher Druck aufbaute.

      “Es ist gleich vorbei“, gluckste sie vergnügt, während weitere Zähne aus ihrem Mund fielen. „Aber dafür kannst du dort Gitarre spielen … für alle Ewigkeit Saiten zupfen …“

      Bjorn zog sein rechtes Knie ruckartig nach oben und stemmte sie etwas von sich weg, während er seinen Körper geschickt zur Seite drehte. Vor seinen Augen flackerten zahllose Lichter. Noch immer drückte sie ihm die Luft ab, doch seine Hand war frei. Der Druck in seinem Kopf wurde immer stärker und er war kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren. Seine Wohnung verschwand in einem immer dichter werdenden Nebel. Er stach zu. Die Klinge drang tief in ihre Bauchdecke ein. Das zusehends verwesende Ding, das als seine Jugendberaterin aufgetreten war, kreischte auf und ließ von ihm ab. Doch noch bevor es sich von ihm zurückziehen konnte, riss er die Klinge zur Seite durch. Ein zähflüssiger dunkelroter Brei aus verwesenden Gedärmen und Maden schwappte aus der klaffenden Wunde. Bittersüßer Gestank breitete sich aus, während Mrs. Jones vornüber kippte und Bjorn mit sich zu Boden riss.

       Tosende Gischt peitschte gegen den Bug des Drachenbootes. Wind und Wellen jagten über die Männer hinweg, zerrten an ihnen und versuchten, sie auf dem schwankenden Deck zu Fall zu bringen. Mit unbewegten Gesichtern standen sie da. In ihren Bärten gefror das Wasser zu Eis.

      “Ornolfr! Runter!“, brüllte auf einmal eine tiefe Stimme. Bjorn fuhr blitzschnell herum, doch es war zu spät. Die Rah hatte sich losgerissen, donnerte mit voller Wucht gegen sein Brustbein und schleuderte ihn quer übers Deck …

      „Na? Wieder da?“ Die Stimme über ihm hatte vom vielen Whiskygenuss einen rauchigen Klang und war ihm sehr vertraut.

      “Arthur“, stellte er verwirrt fest. Das Licht der Küchenlampe über ihm blendete ihn und er musste die Augen zukneifen, um einigermaßen etwas zu erkennen.

      “Ich dachte schon, ich muss den Leichenwagen bestellen“, grinste der gut vierzigjährige Rocker und reichte ihm die Hand.

      „Wo ist sie hin?“ Bjorn sah sich verwirrt um. Nichts deutete augenscheinlich darauf hin, dass Mrs. Jones wirklich in seiner Wohnung gewesen war. Er musterte den Boden, konnte jedoch weder Blut noch Maden oder Zähne entdecken. Er war sich nicht ganz sicher, doch er glaubte, noch immer etwas von dem Verwesungsgeruch wahrzunehmen.

      “Wer?“

      “Mrs. Jones“, murmelte Bjorn. “Sie hat ...”, vor seinem inneren Auge tauchten wieder die Bilder ihres Zerfalls auf. Er schüttelte sie ab und versuchte auf die Beine zu kommen. „… mich angegriffen“, beendete er seinen Satz und hielt sich an Arthurs Schulter fest, um nicht wieder zu stürzen.

      “Also … hier ist niemand“, erklärte Arthur. „Als ich hier ankam stand die Tür offen und du lagst auf dem Boden. Sah so aus, als hättest du dir die Birne an der Schranktür angehauen.“

      Bjorn tastete mit der freien Hand seinen Kopf ab. Eine riesige Beule wölbte sich aus seinem Hinterkopf. Schranktür …?

      „Was machst du eigentlich hier?“, fragte er schließlich verwundert.

      “Marcus machte sich Sorgen, weil du die Probe verpasst hast. Dachte, ich seh mal nach dem Rechten.“

      „Probe …?“, wiederholte Bjorn und ihm wurde schlagartig bewusst, dass er wohl mehrere Stunden so dagelegen haben musste.

      Es war das erste Mal, dass Arthur ihn zu Hause aufsuchte. Obgleich Bjorn schon des Öfteren daran gedacht hatte, ihn einzuladen, hatte er es immer wieder vor sich hergeschoben … auf einen Zeitpunkt, wenn er die Wohnung etwas in Ordnung gebracht hätte. Aber dieser Tag war nie gekommen. Tatsächlich war der Betreiber des Great Puppy der Einzige, vor dem er sich deswegen schämte.

      „Sorry, wegen der Unordnung“, murmelte er etwas verlegen, doch Arthur winkte gönnerhaft ab.

      “Meine erste eigene Bude sah genauso aus. Ich muss jetzt leider wieder los. Geht’s soweit wieder oder soll ich dich ins Krankenhaus fahren?“

      „Ich komm klar. Aber ist dir wirklich nichts aufgefallen?“

      “Nein“, bekräftigte Arthur erneut, klopfte Bjorn noch mal zum Abschied auf die Schulter und ließ den Jungen allein.

      Nachdenklich blickte Bjorn ihm nach, bevor er prüfend an sich hinuntersah. Er erinnerte sich noch genau, wie sie sich auf ihn gestürzt hatte. Sein schwarzes T-Shirt war von einem feinen aschgrauen Staub bedeckt, auf den er sich keinen Reim machen konnte. Noch einmal suchte er den Boden nach Überresten ab. Ergebnislos. „Unmöglich, dass das ein Tagtraum war“, sagte er zu sich selbst. Aber je länger er wieder bei Besinnung war, desto irrealer kam ihm der Angriff vor. Immerhin war sie vor seinen Augen wortwörtlich verwest! Er erinnerte sich an die Maden und schüttelte angeekelt den Kopf. Was für’n Trip!, dachte er, während er vor den Spiegel trat und sich selbst betrachtete. „Du hast ganz schöne Hallus“, warf Bjorn seinem Spiegelbild vor und erstarrte, als er die tiefblauen Würgemale an seinem Hals entdeckte.

      Ein idealer Neuanfang

      London, 03. August

      Das Erdgeschoss war nahezu verstopft mit Umzugskartons, und kreuz und quer herumstehenden Möbeln, denen noch kein Platz zugewiesen worden war. Shornee drückte sich zwischen dem Chaos hindurch, öffnete einen Karton nach dem anderen, während sie kurz den Inhalt inspizierte, hob die einen vom Stapel, nur um sie auf einen anderen umzuschichten und schlug sich schließlich mit den flachen Händen stöhnend gegen die Stirn.

      „Mum!“, ihre Stimme klang nahezu verzweifelt.

      Ann warf einen Blick aus der Küchentür. „Ja?“

      „Ich hatte doch gesagt, wir müssen die Kartons beschriften“, wiederholte Shornee nun schon zum hundertsten Male.

      „Was suchst du denn?“

      „Mein Duschzeug?“

      Ann machte eine halbkreisförmige Bewegung mit der Hand.

      „In irgendeinem der Kartons.“

      Shornee ließ sich mit dem Rücken an der Wand auf den Hintern rutschen.

      „Was ist?“, fragte ihre Mutter fröhlich.

      Die Heranwachsende blies sich trotzig eine Strähne aus dem Gesicht. „Nichts, Mum. Gar nichts. Ich streike nur.“

      Ann schmunzelte. „Sollen wir uns eine Pizza bestellen?“

      Shornee nickte.

      „Es wird schon alles wieder auftauchen, Engelchen“, lächelte Ann beruhigend. „Aber wenn du es eilig hast, kann ich ja nachher noch kurz in den Supermarkt und Neues kaufen.“

      Shornee nickte wieder.

      „Wenn wir erst einmal etwas im Magen haben, sieht alles schon ganz anders aus.“

      „Du meinst, es gibt hier einen Pizzaservice, der uns die Kartons sortiert und auspackt?“

      „Schön wär‘s“, lachte Ann und verschwand wieder in der Küche.

      „Ach