Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung. Eva Eichert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Eichert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658207
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er das erreichte, was der Mann als Schuppen bezeichnet hatte. Kilian starrte auf den grob zusammengezimmerten Verschlag, der nur aus ein paar in den Boden gesteckten Brettern bestand, die mit einigen Stricken zusammengehalten wurden. Als Dach dienten einige verwanzte Felllappen, die mit getrocknetem Lehm zusammengeklebt waren. Unter freiem Himmel zu nächtigen wäre um einiges komfortabler, doch zumindest bot die Konstruktion etwas Schutz vor Wind und Regen.

      Im Inneren fand er zerbrochene Werkzeuge und gerissene Netze, die so durchlöchert waren, dass sich die Flickarbeit nicht mehr gelohnt hätte. Er warf alles, was aus Holz oder Metall bestand hinaus und machte es sich auf den modrigen Geflechten so bequem wie möglich. Er dachte über den Fremden im Wald nach, der eindeutig von irgendetwas besessen gewesen war, das nicht von dieser Seite der Welt stammte. Ein Dämon? Oder etwas Mächtigeres … Sein Sieg erschien ihm im Angesicht dessen, was zuvor mit ihm passiert war, zu leicht, jedenfalls konnte er nicht daran glauben, das Wesen vernichtet zu haben. In die Flucht geschlagen … vielleicht … Es würde ihn wieder aufsuchen, dessen war er sich sicher. Kilian grübelte noch einige Minuten über die Worte des Wesens. Wieso war es der Meinung, ihn erschaffen zu haben? Züchtung …?! Er schlief erschöpft ein. Seine Träume versetzten ihn in ein geheimnisvolles Gewölbe, tief unter Konstantinopel. Das riesige Emblem eines Salamanders, der im Kreis auf den Mittelpunkt einer Spirale zukroch, befand sich am Boden. Weit dahinter Gestalten in braunen Kapuzenroben, wie die von christlichen Mönchen. Sie standen um einen Altar, auf dem sich ein Paar dem Liebesspiel hingab. Er konnte ihre Gesichter nicht erkennen und versuchte sich zu nähern, als der brennende Schmerz in seinem Gesicht ihn aus dem Schlaf riss.

      Kilian griff sich brüllend ins Gesicht und rollte von dem Haufen aus alten Netzen herunter zu Boden. Immer tiefer arbeiteten sich die glühenden Tentakel der Maske in sein Gewebe. Aus irgendeinem Grund erschien ihm der Fluch diesmal viel intensiver. In seinen Qualen erwartete er die hoffnungsvolle Erlösung in der Ohnmacht, die ihn sonst heimsuchte, doch sie kam nicht. Kilian warf sich unter unerträglichen Schmerzen wie wild zwischen den Bretterwänden hin und her und brachte den Verschlag gefährlich zum Schwanken.

      „Ich will, dass es aufhööööört!“, kreischte er, dem Wahnsinn nahe, während seine Finger, die Ränder der Eichenholzmaske umfassten. Ein gellender Schrei hallte zwischen den Dünen wieder. Und dann passierte es. Die Maske gab nach. Es hörte sich an wie eine Mischung aus Schmatzen, und dem ratschenden Geräusch, wie reißendes altes Leder, als sich die Haut von seinem Fleisch löste. Kilian sackte keuchend auf die Knie. Blut tropfte von seinem Gesicht, als das verfluchte Artefakt aus seinen Fingern glitt und auf einem leeren Pergament landete. Sein Blut sammelte sich an den Rändern, zog sich zu dicken Tropfen zusammen und glitt hinunter. In dem Moment, wo es das Pergament berührte, schien es sich wie von Geisterhand selbst zu beschreiben. Ein leises triumphierendes Gelächter erklang, während Kilian wie erstarrt die Zeilen las, die fortan seine ganz Existenz bestimmen sollten.

      Teil 1: 2010

      Shornee Smith

      Regionalmeisterschaften im Kunstturnen, Glasgow, sieben Jahre zuvor:

      Pete Harrison stand mit einem siegessicheren Lächeln an der Seite seines elfjährigen Kronjuwels. Shornee Smith hüpfte neben ihm auf den Zehenspitzen auf und ab, um sich etwas aufzulockern. Aus dem Augenwinkel heraus betrachtet war alles wie immer, doch als er sich ihr zuwandte, bemerkte er die Anspannung in ihrem Gesicht. Ihre gesamten Bewegungen schienen steif, wie wenn durch ihre Adern kein Blut, sondern zähflüssiger Brei gepumpt würde und sich in ihren Gelenken staute. Pete runzelte besorgt die Stirn.

      „Alles in Ordnung?“

      Ihr Nicken wirkte gezwungen.

      „Du schaffst das schon, Shornee.“

      Sie nickte wieder. Schweiß tropfte von ihrem aschfahlen Gesicht. Pete zögerte noch einen Augenblick, bevor er ihre krampfhaften Bewegungen unterbrach und sie sanft an den Schultern packte.

      „Bist du krank?“ Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Der Schweiß war kalt.

      „Ich bin nur nervös“, flüsterte sie.

      Die Zuschauer brachen in donnernden Applaus aus, als einer der männlichen Teilnehmer einen grandiosen Abgang von den Ringen darbot und auf der dicken Elefantenmatte zum Stehen kam, ohne zu übertreten. Er streckte die Arme zum Abschluss kraftvoll in die Luft, drehte sich zur Jury um und verabschiedete sich höflich. Diesen Teil seiner Kür hatte er mit Bravour hinter sich gebracht.

      Pete nickte anerkennend, bevor er sich wieder seinem Schützling zuwandte. „Denk nicht an die Jury oder die Zuschauer. Stell dir einfach vor, du wärst im Training. Ganz locker.“

      Sie nickte wieder, ohne ein Wort zu sagen.

      Ihr Trainer ließ den Blick durch die Halle schweifen. Shornee hatte im Training durch Talent und Leidenschaft eine Perfektion erreicht, die sie in wenigen Jahren bis in die Weltmeisterschaften tragen könnte. Aufmerksam beobachtete er die Bewegungen ihrer Konkurrentin, die gerade ihre Kür am Boden vorführte.

      „Du musst nicht nervös sein, Kleines“, murmelte er mehr zu sich selbst, ohne seinen Blick von dem anderen Mädchen abzuwenden. „Ich habe bisher noch keine gesehen, die dir irgendwie gefährlich werden könnte.“

      Das Mädchen nahm über die Diagonale der Tamplingbahn Anlauf. Radwende, Flick-Flack, gestreckter Salto rückwärts, Absprung vorwärts in die Flugrolle und … genau an dieser Stelle geriet sie etwas ins Schleudern, zog die gestreckten Beinen viel zu früh an, kam auf die Füße und stolperte durch ihren eigenen Schwung zwei Schritte nach vorn. Die Bodenkür war beendet, und man konnte ihr den Ärger über den Patzer vom Gesicht ablesen. Die Zuschauer ehrten sie dennoch mit tosendem Applaus. Sie waren leichter zufrieden zu stellen als die Jury, der selbst der kleinste Übertritt nicht entging.

      „Nächste Teilnehmerin am Boden: Shornee Smith!“, ertönte die Durchsage über Lautsprecher.

      Pete drehte sich zu ihr um.

      „Zeig’s ihnen!“, er nahm lächelnd ihre Hände und schüttelte sanft die Armmuskulatur durch. „Wie im Training, Shornee. Heute wird sich für dich die erste Tür zu einer Weltkarriere öffnen. Turn sie alle in Grund und Boden.“

      Sie nickte stumm.

      „Los jetzt“, forderte Pete sie auf und trat beiseite.

      Shornee ging mit wackligen Beinen zur Bodenmatte und nahm in der Ecke Aufstellung. Die Männer und Frauen der Jury nickten ihr lächelnd zu und warteten. Das Mädchen stand da. Seine Augen flackerten.

      „Grüßen, Shornee“, flüsterte Pete vom Rand und spielte nervös mit der Kordel seiner Trainingsjacke. „Grüß endlich!“

      Shornee rührte sich nicht. Wie erstarrt stand sie mit weit aufgerissenen Augen da, ohne zu blinzeln.

      Sie war nicht nur nervös. Shornee spürte, wie eisige Kälte durch ihre schweißnassen Hände kroch und etwas von ihr Besitz ergriff, was weit über Lampenfieber oder Versagensangst hinausging. Wie von einem unsichtbaren Vorhang gedämpft drangen die Stimmen der Zuschauer, Turner und Trainer zu ihr durch. Auf einmal wurden sie alle von einer weiteren übertönt. Sie kam aus ihrem tiefsten Inneren und vermittelte dem jungen Mädchen nichts, was auch nur im Entferntesten mit einer Ahnung gleichzusetzen wäre. … Da vorne ist sie! … Ich knall die Schlampe ab! … Es traf sie wie ein eisiger Dorn mitten ins Herz, als sie den Hass hunderter von Menschen auf sich spürte.

      „Shornee“, meldete sich ein Mann aus der Jury über das Mikrofon. „Du darfst anfangen, wenn du soweit bist.“

      Das Mädchen regte sich nicht. … Vaaaater!, hörte sie sich selbst schreien.

      „Shornee, wir haben leider nicht den ganzen Tag Zeit, um auf dich zu warten.“

      Ihre Lippen fingen an zu vibrieren.

      Pete hielt es nicht länger aus. Er betrat den Parcours, eilte zu ihr und schüttelte sie leicht an den Schultern. „Shornee!“