Alte Seelen I: Die Macht der Erinnerung. Eva Eichert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Eva Eichert
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847658207
Скачать книгу
lächelte sie.

      Er wies auf eine kleine gemütliche Polsterecke. „Setzen wir uns. Möchten Sie einen heißen Tee, Kaffee oder etwas anderes?“

      „Ein Tee wäre schön.“

      „Ich komme gleich wieder“, Ernest wirkte etwas verlegen, während er zur Tür ging und wies auf ein kleines Gerät auf seinem Schreibtisch. „Die Sprechanlage ist kaputt.“

      Ann setzte sich und ließ den Blick durch den Raum schweifen. Das Büro vermittelte einem dasselbe wohlige Gefühl, wie die Verkaufsräume unten. Einige Pflanzen und Familienbilder, die an den Wänden hingen, gaben diesem Zimmer noch eine liebevolle persönliche Note. Ihr Blick blieb an dem etwas pausbäckigen Gesicht eines blondgelockten Jungen hängen, der auf einigen der gerahmten Fotographien abgelichtet war. Eine dicke Hornbrille ließ seine Augen beinahe glubschig erscheinen.

      Mr. Bernstein kehrte mit zwei Tassen Tee zurück und setzte sich ihr gegenüber in den Sessel.

      „So“, begann er. „Jetzt sind wir versorgt.“

      „Vielen Dank“, lächelte Ann. „Ich muss sagen, ich bin ziemlich erleichtert.“

      „Wieso?“

      „Dass Sie genauso nett wie am Telefon sind“, Ann biss sich verlegen auf die Unterlippe. Der Satz war ihr einfach so rausgerutscht. Dass sie gleich beim ersten Kennenlernen mit Komplimenten um sich warf, musste auf ihn wirken, als wolle sie sich einschleimen.

      Mr. Bernstein schien peinlich berührt und wechselte das Thema.

      „Wie war der Umzug? Ist alles gut gegangen?“

      „Oh, etwas chaotisch, und vieles haben wir noch nicht wiedergefunden, aber das kriegen wir in den Griff.“

      Er wies mit dem Zeigefinger über die Schulter zur Tür. „Ihre Tochter?“

      Sie nickte. „Sie müssen verzeihen. Sie ist zwar ein aufgewecktes Mädchen, aber wenn sie sich mit Fremden konfrontiert sieht, ist sie … naja, etwas scheu.“

      Mr. Bernstein nickte verständnisvoll. „Das muss in der Schule ziemlich schwer für sie gewesen sein.“

      „Zu schwer. Sie ist seit Jahren nicht mehr zur Schule gegangen. Es gab da einige schlimme Dinge mit ihrem Kunstturntrainer. Das ist schon Jahre her, aber wir haben noch immer etwas daran zu knabbern.“

      Er nickte. „Ich glaube, ich erinnere mich. Die Geschichte ging auch durch die Nachrichten. Wurde er nicht freigesprochen?“

      Ann nickte bedrückt. „Ich hege die Hoffnung, dass der Ortswechsel ihr gut genug tut, dass sie vielleicht endlich ihren Schulabschluss macht.“ Sie warf ihm einen unsicheren Blick zu. Erst der Patzer mit dem Kompliment und jetzt schüttete sie ihm auch noch ihr Herz aus. Das war überhaupt nicht ihre Art. Vor allem der Missbrauchsfall ging ihren Arbeitgeber überhaupt nichts an! Doch Mr. Bernstein hatte eine so liebenswerte und väterliche Art an sich, dass sie die Last der vergangenen Jahre einfach nicht zurückhalten konnte.

      „Und das können Sie ja jetzt auch“, lächelte Mr. Bernstein beruhigend, „und für Ihre Tochter hätte ich vielleicht auch eine Lösung.“

      Ann blickte ihn verwirrt an. „Wie meinen Sie das?“

      „Nun, mein Neffe Albert wird in einigen Tagen in der St. Georg Secondary School den Unterricht besuchen. Es gibt dort eine spezielle Klasse für junge Erwachsene, die vorher keine Möglichkeit hatten ihren Abschluss zu machen. Ich kenne die Klassenlehrerin sehr gut, und sie hat einigen Einfluss bei dem Direktor der Schule. Wenn Shornee möchte, könnte ich mit ihr reden.“

      Ann fühlte sich völlig überfahren. „Aber …“

      „Oder wollen Sie nicht?“ Mr. Bernstein schmunzelte.

      „Nein … Doch, ja. Ich meine“, sie suchte einen kurzen Augenblick nach den richtigen Worten. „Ich verstehe das nicht.“

      „Was?“

      „Ich suche schon seit über fünf Jahren nach Arbeit und dann stellen Sie mich nur aufgrund einer Empfehlung und eines kurzen Telefonats ein. Sie vermitteln uns dieses hübsche kleine Häuschen und jetzt haben sie auch noch einen Schulplatz für Shornee …“

      Er lächelte. „Mrs. Smith …“

      „Verstehen Sie mich nicht falsch …“

      „Mrs. Smith“, unterbrach Mr. Bernstein erneut. „Ich habe keine bösen Absichten.“

      Sie schwieg.

      „Mike hat mir einfach nur viel von ihnen erzählt, und wir fanden beide, dass Sie ein bisschen Glück verdient haben.“

      Anns Gesicht verfinsterte sich. „Mr. Bernstein, sie sind ein wirklich netter Mann, aber wir …“

      Er winkte beschwichtigend ab. „Aber Sie brauchen keine Almosen“, beendete er ihren Satz. „Und ich gebe auch keine. Immerhin bekommen Sie Ihr Gehalt hier nicht umsonst, die Miete für das Häuschen müssen sie ebenfalls selber tragen, und was die Schule angeht … Shornee kriegt ihren Abschluss auch nicht einfach so geschenkt. Mein Beitrag dazu besteht nur aus ein paar Telefonaten, die mich noch nicht einmal nennenswerte Zeit kosten.“

      Ann schwieg beschämt.

      „Sehen Sie es doch einmal so: Sie und Ihre Tochter sind hier völlig fremd. Alles was ich Ihnen gerade gebe, ist eine Starthilfe. Den Rest müssen sie schon selbst machen.“

      Ann nickte betreten. „Bitte entschuldigen sie meinen Ausbruch.“

      „Es gibt nichts zu entschuldigen“, lächelte Mr. Bernstein. „Also wenn Sie die Stelle immer noch haben wollen, könnten wir uns jetzt über die Konditionen unterhalten.“

      *

      Es war ein merkwürdiges, leicht prickelndes Gefühl, das Shornee dazu veranlasste, endlich den Kopf zu heben. Sie konnte es nicht genau in Worte fassen. Es war genauso anziehend wie furchteinflößend, und dass auch Mrs. Milton erwartungsvoll aufsah, erschreckte sie etwas.

      Unter dem Bogengang tauchte die imposante Gestalt eines dunkelhaarigen, athletisch gebauten Mannes im schwarzen Maßanzug auf.

      Shornee war wie gebannt. Sie hatte das Gefühl, dass bei jedem seiner Schritte die Luft vibrierte.

      „Guten Morgen, Herr von Falkenberg“, krächzte die Sekretärin heiser.

      „Ist er da?“ Seine Stimme hatte einen tiefen angenehm warmen Klang.

      „Oh … er ist …“

      Er brachte sie mit einer kleinen Geste zum Schweigen und ging weiter auf die Tür zu.

      „Er hat ein Bewerbungsgespräch“, rief sie ihm hastig hinterher.

      Herr von Falkenberg hielt einen kurzen Augenblick inne, bevor er nach der Türklinke griff. „Bringen Sie mir ein Glas Wasser“, wies er Mrs. Milton an. „Und für die hübsche nasse Dame einen heißen Tee.“ Er schmunzelte über die Schulter hinweg in Shornees Richtung, die wie erstarrt dasaß und krampfhaft die nicht vorhandenen Fliegen an der gegenüberliegenden Wand zählte, und betrat das Büro.

      „… und jeder der Mitarbeiter arbeitet zusätzlich zwei Samstage im Monat. Wenn Sie ihre Ko…“, Mr. Bernstein brach ab, als er hinter sich das leise Klacken der Tür hörte.

      „Guten Morgen, Nathaniel“, begrüßte er von Falkenberg, ohne sich umzudrehen. „Wir sind hier gleich fertig.“

      „Ich habe Zeit“, erwiderte dieser und lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand neben der Tür.

      Ernest richtete seine Worte wieder an Ann. „Nun, wie gesagt, wenn Sie … Ann? Hören Sie mir noch zu?“

      Ann zuckte leicht zusammen und riss sich mit Gewalt von den bernsteinfarbenen Augen des ungebetenen Gastes los. „Oh, verzeihen Sie, Mr. Bernstein,