Die junge Frau stand hinter dem Steuer, weil sie schnelles Segeln auf offenem Meer als schön empfand, was vielleicht darauf zurückzuführen war, dass sie aus ihrer frühesten Kindheit die Erinnerung an Segelschiffe, die unter blauem Himmel dahinzogen, bewahrt und jahrelang davon geträumt hatte, auf einem Segelschiff in die Ferne zu fahren. Die Liebe zum Meer, der weite nicht von Mauern, Häusern und Masten der Überwachungskameras verstellte Blick zum Horizont, der Geschmack der salzigen Luft und das nicht von Explosionen und Polizeisirenen gestörte Rauschen der Wellen, kurz das unvergleichliche Freiheitsgefühl war wahrscheinlich das geheime Band, das die sieben Frauen trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft und Erwartungen an die Zukunft zusammenhielt.
Die Frau am Steuer besaß einen auf den Namen Sonja Miller ausgestellten australischen Pass, war aber davon überzeugt, Solveig Synn Solness zu heißen, und ließ sich von ihren Gefährtinnen nur mit ihrem Vornamen Solveig ansprechen. Sie ihrerseits redete ihre Gefährtinnen nie nur mit einem Du, sondern stets mit ihren Vornamen an, die Massai Sanabu, die Peruanerin Kao, die Chinesin Li, die Israelin Ronit, die Waliserin Bodishia und die Schiffseignerin Medea. Ein unbeteiligter Dritter, der sie einen Tag lang hätte begleiten können, hätte dieses Ansprechen vermutlich als Manie getadelt. Aber das Aussprechen von Namen war für sie neben der Weite des Meeres zu einem Symbol wiedererlangter Freiheit geworden. Sie hatte nämlich dreizehn Jahre in einem von einer hohen Mauer umgebenen Camp gelebt, in dem die Menschen keinen Namen haben durften, sondern nur Nummern trugen und man sich mit Nennung der Nummer anreden musste. Diese Jahre hatten Spuren von Härte in ihrem Gesicht hinterlassen, ihr Blick war skeptisch und verschlossen. Aber obwohl diese skeptische Verschlossenheit gleichsam ihr Normalgesicht geworden war, vermochte sie allerdings auch, Misstrauen und Vorsicht hinter weichen und mädchenhaften Gesichtszügen zu verbergen, was Männer verleitete, sie entweder beschützen und verführen zu wollen oder als Geschäftspartnerin nicht ernst zu nehmen. Diese Beurteilung durch Männer kam ihr sehr zupass; sie zog es vor, unterschätzt zu werden, weil aus Unterschätzung Leichtsinn entstand, den sie, wenn es die Situation erforderte, auszunutzen wusste. Wenn sie mit Männern zu tun hatte, vermittelte sie den Eindruck leichter Unsicherheit, vermied lange Blickkontakte und verzichtete auf Direktheit im Gespräch. Lebenserfahrene Männer spürten manchmal einen Hauch von Doppelbödigkeit in ihrer Argumentation und von absichtlicher Zerstreutheit in ihren Gesten, stutzten einen Moment, trauten dann aber der jungen Frau, die keine Zeichen von Koketterie zeigte, diese Raffinesse, Unerreichbarkeit mit Schutzbedürftigkeit bewusst zu mischen, doch nicht zu, zumal sie auch mit ihrer Kleidung auf erotische Signale jeder Art verzichtete.
Ab und zu wandte Solveig ihren Blick vom Horizont ab und sah auf das Deck der Jacht. Ausgestreckt auf dem Vordeck lag die Massai Sanabu Zuri, die ihre Kindheit und Jugend in Höhen von zwei- bis viertausend Metern an den Hängen des Kilimandscharo zugebracht hatte. Nach der Tradition ihrer Familie – und dadurch begünstigt, dass sie proportional längere Oberschenkel als andere Frauen besaß – war sie eine ausdauernde und schnelle Läuferin geworden. Nachdem sie aber zum ersten Mal das Meer gesehen und sich der Gruppe auf der Jacht angeschlossen hatte, begann sie, da sie das Laufen vermisste, zu schwimmen. Bald entwickelte sie eine große Vorliebe für das Wasser und verbrachte, wenn die Reisegeschwindigkeit der Jacht es zuließ, mehrere Stunden am Tag im Meer.
Neben ihr saß im Schatten des Focksegels eine andere junge Frau selbstversunken in Jogastellung auf den Planken und betrachtete einen Hologrammprojektor, der einen dreidimensionalen Stadtplan zeigte. Sie prägte sich Straßenkreuzungen, auffällige Gebäude und die Entfernungen zwischen ihnen ein. Auf bestimmten Straßenabschnitten ließ sie ein Simulacrum die Strecke abgehen und stoppte dann die Zeit. Das war ihre Methode, sich auf eine neue Aufgabe vorzubereiten. Zwischendurch schloss sie ihre Augen und verfolgte in Gedanken den Weg des Simulacrums. Dabei schweiften ihre Gedanken aber auch ab – sie war die einzige Frau an Bord der Amiramis, die verheiratet war und ein Kind hatte. Ihr Name war Wejra Pokahontas Quechua, aber da niemand mehr die Geschichte der Pokahontas kannte, nannten alle sie nur Kao. Sie stammte aus Peru und hatte, wie man an ihrer Gesichtsform, ihrer langen Nase, ihren blauschwarzen Haaren und ihrer Hautfarbe deutlich erkennen konnte, indianische Vorfahren.
Während Sanabu Zuri sich der Crew aus Abenteuerlust angeschlossen hatte, hatte es die Peruanerin hauptsächlich des Geldes wegen getan, und sie war auch die einzige der Frauen, die fest entschlossen war, nach dem Ende dieser Reise zu ihrer Familie zurückzukehren. Dass auf Raiatea, einer der Gesellschaftsinseln im südlichen Pazifik, ein Mann und ein Kind auf sie warteten, hatte sie niemandem erzählt. Zu den ungeschriebenen Gesetzen Medeas gehörte nämlich, dass sich die Frauen untereinander nicht über ihr Vorleben austauschten.
Kao schaltete ihren Hologrammprojektor aus. In dem Augenblick kam die Chinesin Li Yuchan an Deck. Sie hatte einige Jahre in einem Shaolin-Kloster gelebt und dort den Namen Verdeckter Mond erhalten, woraus ihre Gefährtinnen auf der Jacht den Rufnamen Schwester Mond gemacht hatten. Eine ihrer Leidenschaften war das freie Bergsteigen. Um sich auf See fit zu halten, kletterte sie täglich mehrmals bis in die Spitze des vierzig Meter hohen Mastes, wobei sie nur die Hände benutzte und sich nicht mit den Füßen abstützte. Sie hatte etwa die halbe Strecke zurückgelegt, als sich der Avatar meldete. Nach dem Auftauchen des Landes am Horizont hatte er routinemäßig das Positionssystem der Jacht aktiviert und aus den Positionsdaten eines Satelliten und der Geschwindigkeit der Amiramis errechnet, dass die Jacht gegen Abend den Zielhafen auf der Rückseite der sichelförmigen Insel erreichen würde. Danach hatte er im System „Schiffsumgebung“ die Reichweite verändert, um alle Schiffsbewegungen im Umkreis von einhundert Kilometern zu erfassen, und sich wieder in Wartestellung versetzt. Jetzt meldete er sich mit der Nachricht zurück, von der Küste der Insel habe ein Schiff abgelegt und bewege sich mit einer Geschwindigkeit von zehn Knoten parallel zur Küstenlinie nach Westen. Da alle Crew-Mitglieder Mikro-Kopfhörer trugen, erhielten sie die Information gleichzeitig, sahen aber keine Veranlassung, sie zu kommentieren.
Während die Chinesin sich der Mastspitze entgegen hangelte, diskutierten in der Hauptkajüte Bregeen Iceni und Nora Ronit Dahl ein Angebot, das in der Nacht über einen verschlüsselten Informationskanal eingegangen war. Beide Frauen waren über dreißig, lebten schon ein halbes Dutzend Jahre auf der Jacht und besaßen das volle Vertrauen der Schiffseignerin. Bregeen, die alle Bodishia nannten, hatte bei der Beschaffung gefälschter Ausweispapiere ihren Rufnamen nach der keltischen Königin Boadicea gewählt, die in Britannien gegen die Römer gekämpft hatte. In ihren Adern floss tatsächlich keltisches Blut, sie war grünäugig, rothaarig und hatte viele Sommersprossen im Gesicht und auf den Armen. Bodishia war die Planerin, der strategische Kopf der Gruppe; sie durchdachte den Verlauf einer Aktion, besaß ein Gespür für Schwachpunkte, Hinterhalte und Fallgruben; sie entwickelte für jede Aktion einen Notfallplan und Fluchtwege. Dabei halfen ihr das Schachspiel – sie hatte die Fähigkeit entwickelt, Schach blind zu spielen – und Nora Ronit Dahl. Das Blindspielen wäre nicht erwähnenswert, wenn es sich um das traditionelle Schachspiel auf vierundsechzig Feldern gehandelt hätte. In der Zeit jedoch, in der unsere Geschichte abläuft, war das alte Schachspiel aus der Mode gekommen. Jeder Taschencomputer in der Größe einer alten Knopfbatterie hatte die bis ins Mittelspiel ausanalysierten Varianten aller Eröffnungen und mindestens eine Million Partien gespeichert. Da niemand kontrollieren konnte, ob ein Spieler den Datensatz in einem Zahn oder sonstwo implantiert hatte, spielte man stattdessen das Fischer-Schach – benannt nach dem amerikanischen Schachweltmeister Bobby Fischer, der es vor über hundert Jahren erfunden hatte –, bei dem die Ausgangsstellung der Figuren vor Spielbeginn nach dem Zufallsprinzip ausgelost wird. Als Sparringspartner stand ihr der Avatar der Jacht zur Verfügung.
Als Partner für die Beurteilung eines Planes und für die Einschätzung der wahrscheinlichsten Aktionen der Gegner diente ihr Nora Ronit Dahl. Trotz ihres nordischen, skandinavisch klingenden Familiennamens hatte Dahl überwiegend jüdische Wurzeln. Aufgewachsen in Südafrika, hatte sie forensische Psychologie, Neurologie und Psychiatrie in Europa studiert, bevor sie eine Laufbahn bei der Polizei in London einschlug und mehrere Jahre als Fallanalytikerin arbeitete.
Während Bodishia und Ronit noch diskutierten (wenn wie im aktuellen Fall eine Anfrage zur Durchführung eines