Bodenfrost. Erhart Eller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erhart Eller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741849800
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doch ist die Stadt kurz vor dem Ende noch Kampfplatz gewesen, wusste Schaffer. Da den Soldaten der Wehrmacht längst klar war, das „tausendjährige Reich“ war unrettbar verloren, hielt sich ihr Heldenmut in Grenzen; es gab nur wenig Schießerei, ein paar Häuser fielen in Schutt. Allerdings wurden, wie in den Kriegen der Vergangenheit, die Brücken zerstört. Weil der Verlust an Wohnraum gering war, wurde die Stadt von den Oberen der „Arbeiter-und-Bauern-Macht“ als Notheimat für Tausende Entwurzelte aus dem verlorenen Osten und den zerstörten Großstädten bestimmt. Nach und nach waren, gemäß den Planvorgaben, am Stadtrand Wohngebiete aus vorgefertigten Bauteilen entstanden, wodurch die Stadt sich immer weiter ins Umland geschoben hatte, während ihr Inneres verwahrloste. Heiß begehrt sind die Wohnungen in den kantigen Blöcken gewesen, wegen der besseren Zufuhr von Licht und Luft im Vergleich mit den alten kleinfenstrigen Häusern. Wenn man Glück hatte, war der Block, in dem man nun wohnte, zentral beheizt. In der Altstadt fielen Baudenkmäler reihenweise der Abrisswut zum Opfer. In den letzten Jahren der kleinen Republik hatte, wegen der beschleunigten Entvölkerung, der Verfall auf die Vorstädte übergegriffen. Dieser hatte sich nach ihrem Untergang noch verstärkt, da die Industrie verschwand. Der Betrachter Schaffer fand, Weißenfels sei eine sterbende Stadt.

      Weiter marschierte er, talwärts, stadtauswärts, unterquerte die mächtige Brücke der Umgehungsstraße. Das Dorf Burgwerben am anderen Ufer wirkte gefällig mit den roten und dunkelgrau glänzenden Dächern. Der Lärm der Fahrzeuge auf der Brücke hingegen störte ihn sehr. Als er sich so weit entfernt hatte, dass ihm der Geräusch-Anprall erträglich war, setzte er sich ins Gras, nahm einen großen Schluck aus der Rotweinflasche und schlief ein.

      Als Schaffer erwachte, glaubte er zunächst an einen absonderlichen Traum. Er gewahrte lächerlich gekleidete, Grimassen schneidende, Kinder, die ihn umtanzten. Eins hatte eine goldgelbe Pappkrone auf und einen mit Goldbronze überzogenen Stock in der Hand. „Ich bin der König“ krähte es. Ein anderes trug einen mit Silberbronze gefärbten Pappharnisch, von Bindfäden zusammengehalten, dazu einen Helm aus demselben Werkstoff und einen Holzsäbel. Diese beiden Gestalten, als Wirklichkeit erkannt, belustigten ihn. Der Anblick der dritten vertrieb die Lachlust. Dieses Kind ging in einem löcherigen Kittel, wirkte, obschon dicklich, abgehärmt und schaute bekümmert drein. Das Kind mit der Krone blaffte ihn an, „unterwirf dich, Unwürdiger, ich bin der Herr der Welt.“ Schaffer tippte sich an die Stirn, worauf der kleine Frechling das Kind mit dem Pappharnisch aufforderte: „Töte den frechen Untertanen!“ Tatsächlich ging ihn der mickrige Pappkamerad mit seinem Holzsäbel an. Schaffer schlug ihm das Ding aus der Hand, setzte seinen Weg fort, wobei ihm die beiden Kinder lästig waren, denn sie hampelten vor seinen Füßen. Dazu belegten sie ihn mit nicht kindgemäßen Schimpfworten. Mit derben Schubsen räumte er sie zur Seite. Das dritte, zerlumpte, Kind, zeterte: „Das darfst du nicht machen. Man muss der Obrigkeit gehorchen.“ Schaffer, kopfschüttelnd, sagte: „Ihr seid bescheuert, alle drei.“ Er schritt aus, drehte sich nach kurzem um. Tatsächlich, das Gör mit dem Säbel schlug auf das lumpige Balg ein, weil es ohne Genehmigung des Herrschers den Mund aufgetan hatte. Das Gör mit der Krone feuerte es an. Das Lumpenkind wehrte sich nicht. Schaffer drohte: „Wenn ihr ihn nicht in Ruhe lasst, mach ich euch einen Einlauf.“ Er wurde ausgelacht. Der Kronenwicht krähte: „Wir kriegen dich, du Aufrührer. Du bist des Todes.“ Das lumpige Kind schlug dem Fass den Boden aus: „Du darfst dich nicht einmischen. Es sind meine Freunde, die dürfen mich hauen.“

      Schaffer stellte fest: „Du bist von euch dreien am meisten beknackt.“ Er hinterließ eine Drohung: „Hört auf mit dem Scheißspiel, sonst geht es euch schlecht“. Er war aber sicher, das würde weitergehen, spätestens, wenn er nicht mehr zu sehen war. Ihm kam der merkwürdige Gedanke, er und das Lumpenbalg hätten eine gewisse Ähnlichkeit. Er wies sich zurecht: „Das ist glatter Unfug“.

      Die Hässlichkeit der Darbietung wurde nun durch ein viertes Kind auf die Spitze getrieben. Es war in Schwarz gekleidet. Dieses unkleidsame Kleid wurde durch grellweiße Streifen noch abstoßender. Vor dem Gesicht hatte es eine Totenkopf-Maske. Er fuhr es an: „Wie kann ein ganz junger Mensch sich so verunstalten. Geh mir aus dem Weg, sonst werde ich ungemütlich. Das Kind nahm die Drohung ernst, entfernte sich ein Stück, krächzte aus sicherem Abstand: „Ich bin Gevatter Tod, Herrscher über alles Lebendige. Gib zu, aus Angst vor mir machst du dich ein!“

      Er war sprachlos, setzte zum Sprung an, holte zu einer gewaltigen Backpfeife aus. Da flüchtete Gevatter Tod zu den anderen drei Gören. Das im Pappharnisch verjagte ihn, Gevatter krächzte: „Ich bin der Herr der Welt. Ich kriege euch alle.“

      Die anderen drei Kinder waren dem Wanderer Schaffer verdrießlich, dieses vierte jedoch fand er abscheulich, da es ihm die Binsenweisheit in Erinnerung brachte, dass der Mensch meist früher stirbt, als ihm lieb ist. Ihn verdross sein erbärmliches Leben, dennoch fürchtete er das Ende. Er erfasste, dass diese Furcht womöglich der Hauptgrund seiner Friedfertigkeit war. Um auf andere Gedanken zu kommen, überlegte er, in welchen Verhältnissen die vier verhunzten Kinder leben mochten. Er schätzte ein: Gevatter Tods Eltern: Gruftis. Die des Kronenbürschleins: gehobener Mittelstand, Ärzte vielleicht. Erzeuger des Pappkameraden: Lkw-Kutscher, Scheuerfrau. Des Lumpenkinds: Hartzer wie er, dennoch nicht seinesgleichen. Hündisch die Alten, hündisch das Junge. Wurde denn die Sklavenseele immer weiter vererbt? Jedenfalls: die Kinder ahmten mit diesem üblen Spiel die Welt der Erwachsenen nach.

      Wilfried Schaffer stieg den Hang des Tschirnhügels hinauf, von dem er wusste, dass dort einst eine Kultstätte der Sorben gewesen ist. Abergläubigen Menschen mochten hier und jetzt, an der Schwelle zur Walpurgisnacht, Schauder über den Rücken laufen. Ihm nicht. Er hatte nunmehr einen brennenden Durst. Bedächtig leerte er die Weinflasche. Er versicherte sich, dass er es nicht um des Trinkens Willen tat, sondern um seinen Geist zu beflügeln. Er war weiterhin für Wegweisendes aufgeschlossen. Klarheit hoffte er zu erlangen. Zunächst aber kam Müdigkeit. Er legte sich und fiel zweitmalig in Schlaf.

      Der letzte Kaiser, der ewige Soldat, das Lumpenmännchen und der Tod

      Erwacht, blickte Wilfried Schaffer zur Uhr. Es war kurz vor Mitternacht. Er fühlte sich wohlig beschwingt, grad, als ob er, wenn er seine Flügel ausbreitete, losfliegen könnte. Ein Satz kam ihm in den Sinn: „Erst das sichere Wissen von etwas macht es zur Materie.“ Der Satz war, zumal ohne Bezug zur unmittelbaren Gegenwart, unsinnig, gleichwohl gefiel er ihm. Sein Blick schweifte über die Siedlung im Vordergrund. Die Häuschen hatte man Ende der Vierzigerjahre des vorigen Jahrhunderts gebaut, für Menschen, die durch den Krieg ihre Heimat verloren hatten. Denen hatte man im Zug der Bodenreform Land zugeteilt, auf dem sie sich, notgedrungen, als Landwirte versuchten.

      Schaffer erhob sich nicht ohne Mühe –und schon zerstörten bellende Hunde die Stille. Ein Ruf schallte – sofort endete das Gebell. Er bemerkte den rötlichen Schein eines Lagerfeuers, ging hin, obwohl er einschätzte: eine Erscheinung, erzeugt von: Alk im leeren Magen, Zeitpunkt, Geist des Orts. Dem Feuer näher kommend, gewahrte er drei Gestalten. Wissen wollten die, ob er gekommen sei, um Walpurgis mit ihnen zu feiern. Schaffer lachte lautlos. Er wurde belehrt: „Hexen gibt‘s hier nicht. Musst dich auf den Brocken bemühen.“ Worauf er erklärte: „Mir steht nicht der Sinn nach Hexensabbat.“

      Die Gestalten waren sozusagen vergrößerte Ausgaben der Kinder von vorhin. Ihre Anzüge waren allerdings aus haltbarerem Stoff. Eine trug eine verbeulte Krone aus vergoldetem Blech, einen von Motten zerfressenen Mantel, der vor dem Ausbleichen, wohl purpurn gewesen war. Die zweite trug bunte Pluderhosen, Pluderwams, einen rostigen Brustharnisch, hatte ein großes schartiges Schwert, das, wie er wusste, Bidenhänder genannt wurde. Ein Landsknecht, wie einem Holzschnitt des Sechzehnten Jahrhunderts entsprungen. Die Gestalt wurde von zahlreichen Narben verunziert. Die dritte, spindeldürre, war in einen groben, durchlöcherten Kittel gehüllt. Die drei Kerle stanken, der im Kittel besonders schlimm. Der Ankömmling bekam dummes Zeug zu hören: „Ich, der Gekrönte, herrsche von Gottes Gnaden von Ewigkeit zu Ewigkeit. - Ich, der ewige Soldat, verhackstücke dich, wenn du es an der schuldigen Ehrfurcht fehlen lässt.“ Schaffer war sicher, dass er es mit Luftgebilden zu tun hatte, gleichwohl erschrak er ein wenig. Das gab sich und er schimpfte drauflos. „Ihr Mumien, fehl am Platz seid ihr, eure Uhr ist längst abgelaufen. Packt euch!“

      Der Kronenkerl atmete schwer,