Bodenfrost. Erhart Eller. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Erhart Eller
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783741849800
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gäbe. Immerhin – es gab eine Begegnung, die seine Stimmung nicht weiter eintrübte. Er traf einen Bekannten, der kein schlechter Kerl, doch ein Schwätzer war. Der ließ sich wortreich darüber aus, wie sehr ihn das Zusammentreffen beglücke, setzte an, sich über Leute und Dinge, die Schaffer gleichgültig waren, weitschweifig zu verbreiten. Schaffer war nicht in Eile, gleichwohl schmeckte ihm diese Art von Unterhaltung nicht. Er eiste sich wieder mit der Ausflucht los, dass er wegen einer wichtigen Besorgung in Eile sei. Leutselig war der Schwätzer, gab ihm ein Taschenfläschchen Kräuterlikör „Erichs Rache“ mit auf den Weg, erklärte dazu: „Der Kerl ist uns damals auf den Magen geschlagen. Nun, wo er tot ist, nützt er gegen Magendrücken, das von ganz anderen Sachen kommt, als damals.“

      Der Beschenkte kämpfte gegen die Versuchung, sich den Magentrost auf der Stelle einzuverleiben. Dabei war das Bild auf dem Schildchen hilfreich - ein Zerrbild, doch unverkennbar der trunksüchtige, verbohrte, einstige Generalsekretär, der ihm seinerzeit unausstehlich gewesen ist.

      Es ging auf Mittag. Gab Schaffer den Tag verloren? Nein, noch lange nicht. In seine Wohnung, die er für unwohnlich hielt, wollte er so bald nicht zurückkehren. Er hielt es für besser, Stadtstreicher zu bleiben. Nicht zuletzt hatte er einzukaufen. Ihn beschäftigte stark das Fläschchen in seiner Tasche, gemeinhin Spaßmacher, Taschenwärmer und anderswie liebevoll, in früherer Zeit auch Sputnik geheißen. Wie es ihm die Tasche beschwerte! Er bekämpfte die Versuchung, sich den Magentrost einzufüllen, indem er sich mittels Geschichts-Betrachtung ablenkte. In der Klosterstraße, an der Rückwand des einstigen Gasthofs „Zu den dreyen Schwanen“, hing eine gusseiserne Tafel, die darauf hinwies, dass sich in diesem Haus im Jahr Siebzehnhundertvierundneunzig die Herren Friedrich Schiller, Christian Gottfried Körner und Jakob Grimm getroffen hatten. Er stellte fest: „Weißenfels ist einst nicht ohne Bedeutung gewesen.“ Unweit, auf der anderen Straßenseite, gab es eine weitere Tafel mit dem Vermerk, dass der einst geschätzte, inzwischen vergessene, Dramatiker Adolph Müllner, dort gewohnt hatte. Der dichtende Anwalt, kein großes Genie, war in wirtschaftlicher Hinsicht freilich das genaue Gegenteil des Langzeit-Arbeitslosen Wilfried Schaffer. Ein mit Geld und Gut wohl versehener Rappelkopf; vielleicht war sein hitziges Wesen Ursache, dass er kein langes Leben hatte. Immerhin, er ist weit älter geworden, als sein ruhmreicher Kollege Hardenberg, der sich Novalis nannte, auch in dieser Straße wohnte und starb. Sich dem Novalishaus nähernd, erinnerte sich Schaffer, dass es in diesem Haus, außer der städtischen Leihbücherei und einigen Büros der Stadtverwaltung, eine kleine Gedenkstätte gab, wo der Literatur-Verein mit dem Namen des Dichters seinen Sitz hatte. Wie, wenn er dort anklopfte, sich als einen Geschichts- und Literatur-Begeisterten vorstellte, willens und in der Lage, für den Verein zu arbeiten? Er trat auf den Hof, dann durch die Hintertür des Vorderhauses, setzte den Fuß auf die Treppe, da nahmen die Zweifel überhand. Falls das Vereinsbüro überhaupt besetzt war – wie würde man ihn empfangen? Üblicherweise schaute man ihn an, wie man Leute anschaut, denen ihre Nachrangigkeit auf die Stirn geschrieben ist. Nein, grad jetzt hatte er kein Verlangen, sich der Verachtung der Bessergestellten preiszugeben.

      Glücks-Schimmer zur Mittagszeit

      Wilfried Schaffer kam darauf, das Grabmal des Namensgebers von Verein und Haus aufzusuchen, das sich in der Nähe, am Rand des Stadtparks, in einem mit Gitterwerk aus Schmiede-Eisen eingezäunten Bereich befand. Grad nebenan lag das Grab des verloschenen Sterns Müllner. Schaffer schätzte ein, dass der Novalis sich diese Nachbarschaft verbeten hätte, wäre ihm Einspruch möglich gewesen. Es gab im Hag, an einem Rest der einstigen Stadtmauer befestigt, eine riesige Steinplatte mit den Lebensdaten der Familie des Novalis, den Hardenbergs, einer adligen, wohlhabenden, gleichwohl unglücklichen, Sippe. Novalis und seinen Geschwistern war gemeinsam, dass sie jung starben. Der Dichter, mit seinen Siebenundzwanzig, ist vergleichsweise langlebig gewesen. Mit der ewigen Ruhe war es auch nichts. Man hatte den einstigen Totenacker im Stadtgraben im Lauf der Zeit um und umgestaltet, Gebeine umgebettet; ob das Skelett des Dichters unter seiner steinernen Büste lag oder woanders, war nicht gewiss.

      Der unermüdliche Fußgänger fühlte Schwäche, die ihn zum Niedersetzen zwang. Sein Magen ließ ein Knurren vernehmen. Er hatte nichts Essbares dabei, nur ein Getränk, das Fläschchen. Sollte er oder besser nicht? Er rang nicht lange mit sich, gab der Versuchung nach. Wozu das Zeug noch länger spazieren tragen. Hinein!

      Das Knurren hörte auf. Ein wohliges Gefühl durchrann ihn. Leider hielt es nicht vor. Müde fühlte er sich und mutlos. Wieder wurde ihm scharf bewusst, dass er in einer Sackgasse war, in die eine feindselige Gesellschaft ihn abgeschoben hatte. Im Augenblick fühlte er sich so schwach, dass er meinte, sich von der Parkbank nie wieder erheben zu können.

      Plötzlich blitzte ein sonnenheller Funke auf. Unten, auf der Nikolaistraße, schritt, sehr weiblich, eine Kellnerin namens Birgit Frey, seine heimliche Flamme. Ihr Anblick verjagte seine Schwäche. Sollte er ihr nachgehen? Er unterließ das. Nicht Schüchternheit hemmte ihn, sondern Taktgefühl. Ihm, in seiner Lage, so meinte er, stand nicht an, von Liebe zu träumen. Gesetzt den Fall, Birgit erhörte ihn, würde sich mit ihm verbandeln – was könnte anderes daraus entstehen, als dass er sie mit sich ins Verderben zog? Sie war gewiss eine achtbare Frau, die ein unglückliches Leben mit einem Langzeit-Arbeitslosen namens Wilfried Schaffer nicht verdiente. Ja, wenn er besser dastünde, dann… Leider war die Wahrscheinlichkeit dieser Besserung so gering wie die, dass der Kriegsverbrecher Bush guten Endes vor ein Gericht gestellt würde. Er grollte. Unhaltbar war doch dieser Zustand, der ihm Enthaltsamkeit aufzwang. Keine Liebe möglich, aber auch nicht der Notbehelf, Verkehr gegen Geld. Leistete er sich diesen, müsste er tagelang hungern. Wie aber war der Zustand zu ändern?

      Da war nichts als ein großes Fragezeichen.

      Ein alter, hinfällig ausschauender, Mann, dem der linke Arm fehlte, nahm neben ihm Platz. Warum? Leere Bänke gab es genug. Der Mann kam ihm irgendwie bekannt vor; er kramte in seinem Gedächtnis, doch dieser Alte steckte in keiner Schublade. Der Einarmige überfiel ihn mit einer Frage: „Sind Sie für den Frieden?“ Was sollte das? „Selbstverständlich“ antwortete Schaffer mürrisch. Der Einarmige belehrte ihn: „Der Frieden ist das Wichtigste.“ Das wollte Schaffer durchaus nicht bestreiten. Doch das Nachfolgende fand er zweifelhaft. „Der Frieden muss um jeden Preis erkämpft werden.“

      Das einst gängige Gerede vom Friedenskampf hatte ihn immer gestört. Kampf und Frieden, wie passte denn das zusammen? Dazu um jeden Preis! Der friedfertige Schaffer hatte Lust auf Widerspruch. Pazifismus in Reinkultur bedeutete doch, im Fall des Falls ließ man sich widerstandslos abschlachten. Gleichwohl schwieg er, aus Ehrfurcht vor dem Alter. Der Einarmige hingegen gab sich redselig wie zu einem guten alten Bekannten. Man hatte ihn im Zweiten Weltkrieg, kurz vor dem Zusammenbruch, zur Wehrmacht eingezogen. Er hatte Glück, geriet unversehrt in Gefangenschaft. Die ist ihm unerträglich gewesen. Darum war er in die französische Fremdenlegion eingetreten. Die Legion als Ersatzmutter. Er hatte wieder Krieg spielen müssen. Auf einem Flugzeugträger wurde er über die Weltmeere geschippert. Die Wechsel zwischen den Klima- und Zeitzonen hatten ihn zermürbt. Auf der Insel Madagaskar wurde die Truppe angelandet, mit dem Auftrag, den Aufruhr in dieser Kolonie zu bekämpfen. Dort hatte er seinen linken Arm eingebüßt.

      In Wilfried Schaffers Kopf klickte es. Ja, klar, vor vielen Jahren hatte er die Geschichte schon einmal gehört. Man hatte beim Bier zusammengesessen. Er hatte eine Arbeit und einigermaßen guten Verdienst gehabt, das Bier ist billig gewesen, wenn auch nicht schmackhaft. Die Erzählung dieses bemerkenswerten, nicht beneidenswerten, Schicksals hatte ihn beeindruckt. Und er hatte damals den nicht Beneidenswerten beneidet, weil der vom französischen Staat eine monatliche Rente erhielt. Die war nicht hoch, doch wurde in Franc gezahlt. Wie gern hätte auch der junge Werktätige „frei konvertierbare Währung“ in Händen gehabt. Ein blödsinniger Neid ist das gewesen. Blut und Körperteil gegen Geld, in welcher Währung auch immer – was für ein schlechtes Geschäft!

      Der Alte sprach, seinen Kernsatz bekräftigend: „Ihr Jungen solltet das Glück schätzen, euer Lebtag in Frieden zu verbringen. Der Friede muss erhalten bleiben, koste es, was es wolle.“ Schaffer hielt nun doch Widerspruch für nötig. Er merkte an: „Von Frieden kann man eigentlich nicht reden. Denken Sie an Afghanistan, zum Beispiel. Auch unsere Landsleute sind dort zugange, freiwillig zwar, für auskömmliche Bezahlung …“