Weil es für mich in der Mittagssonne draußen zu heiß ist, lese ich im kühlen Hotel meine mitgebrachte Lektüre emsig weiter. Aber mein Lesestoff ist bald verbraucht. Zum Glück rettet mich mein Büchlein mit den Tageslosungen, das ich dann bis Mitte des Jahres im Voraus in vollen Zügen nachdenklich und intensiv studiere. Eine segensreiche Beschäftigung tut sich da für mich auf. Welch ein Geschenk!
Nach einer Woche Aufenthalt besteige ich wieder das Flugzeug, das mich und mein Heimweh nach Hause fliegt. Ich denke, dass ich gut kuriert bin. Lieber bleibe ich in der Heimat, auch im kalten Winter. Hier kann ich den Raureif auf den kahlen Zweigen bewundern und die hungrige Meise beim Körnerpicken beobachten. Plötzlich laufen meine Gedanken ganz weit zurück in meine Kindheit, in der ich beim Rodeln im glitzernden Schnee so viel Freude empfunden habe. – Heute jedoch lugt die Wintersonne zwischen den Wolken hervor. Damit will der unverzichtbare Himmelskörper uns sagen, dass er uns mit seinen wärmenden Strahlen im Frühling wieder großzügig bescheinen wird. Die Vorfreude auf den gewiss kommenden Frühling: Mit seinen frohen Farben, vielfältigen Schönheiten, den ersten Veilchen, die meine Augen küssen, dem bezaubernden Singen der Vögel, dem Grünen und Wachsen von Tag zu Tag, liegt er jetzt schon hoffnungsvoll in meinem Herzen. Von Kindesbeinen an bin ich an ihn gewöhnt, und ich lebe sehr gerne in dem vorgegebenen natürlichen Rhythmus der sich abwechselnden Jahreszeiten. Frühling, Sommer, Herbst und Winter, sie haben alle vier ihren eigenen unverwechselbaren prachtvollen Charakter. Ja, ich würde die bunte Herbstlaubfärbung besonders schmerzlich vermissen. Die milde Wärme in der dritten Jahreszeit bekommt meinem alternden Körper so gut. Das Rascheln des trockenen Laubes unter meinen Wanderschritten ist eine altjunge Musik, die mich wärmend an meine Kindheit erinnert.
Ich habe ihn sehr vermisst
Der türkische Kleinbauer bemüht sich mit viel Fleiß und nach Kräften, die zehnköpfige Familie durch die Erträge, die das Land und das Vieh erbringen zu ernähren. Seine acht Kinder sind im Wachstumsalter und brauchen nicht nur Brot, sondern auch Schuhe und Bücher. Doch die Ernte fällt manchmal sehr spärlich aus, und so leben sie von der Hand in den Mund. Sorgenvoll sitzen die Eltern abends nach der Tagesarbeit zusammen, und sie überlegen, wie es weiter gehen soll. Schweren Herzens entschließt sich der Familienvater, nach Deutschland zu gehen, in das Land, das noch Gastarbeiter sucht.
In einer Baumschule sind seine kräftigen fleißigen Hände sehr willkommen. Viele Überstunden macht der stille Mann mit den wehmütigen großen brauen Augen. Oftmals sehnt er sich nach seiner Frau und seinen Kindern und auch nach der vertrauten Heimat. Bei dem Baumschulenbesitzer hat er eine preiswerte gute Unterkunft gefunden. So schickt er jeden Monat pünktlich den größten Teil seines Verdienstes in die Heimat. Die gestandene Familienmutter kann endlich ihren Söhnen und Töchtern dringend benötigte Schuhe kaufen. Äußerlich geht es der Großfamilie endlich besser. Aber das ganze Jahr über wächst die Sehnsucht nach dem Vater, der nur zu einem recht kurzen Urlaub bei seiner Familie sein kann.
Das Getrenntleben hat erst nach 18 Jahren ein Ende, als Frau und Kinder nach Deutschland dürfen. Hier lernen die Kinder in einer speziellen Ausländerklasse alle schnell und gut die fremde Sprache. Der Vater findet in einem Krankenhaus einen Arbeitsplatz als Betriebshelfer. So ist er mit zunehmendem Alter nicht ständig Wind, Kälte und Regen ausgesetzt.
In meiner Nachbarschaft hat ein junger freundlicher Türke eine günstig gelegene Änderungsschneiderei eröffnet. Mit einem seiner Brüder schafft er es, alle anfallenden Änderungswünsche seiner inzwischen großen Kundschaft zu erfüllen. Der Laden läuft gut. Auch ich bringe gerne Teile meiner Garderobe zu diesen beiden gelernten Schneidern. Und ich freue mich, wenn nach der Bezahlung auch noch ein wenig Zeit für ein Gespräch übrig ist. Mich interessieren die Gedanken dieser Menschen, die ihren Urlaub jedes Jahr in ihrem Herkunftsland verleben. So erfahre ich auch diese Geschichte seines Vaters, die der junge türkische Familienvater mir anvertraut hat. Er beschenkt mich mit seiner Offenheit, und ich danke ihm für sein Vertrauen.
„Am letzten Sonntag habe ich Sie mit ihrer hübschen Tochter und ihrem kleinen Sohn auf Fahrrädern gesehen“, sage ich beim Eintritt in seinen gepflegten Laden. Er lacht, und seine dunkelbraunen großen Augen strahlen. „Ich finde es gut, dass Sie sich in Ihrer knappen Freizeit um Ihre Kinder kümmern.“ - „Ja, das will ich auch sehr gerne, weil ich meinen schon verstorbenen Vater immer so sehr vermisst habe. Da fehlte mir einfach immer etwas. Wenn ich mal in der Schneiderei zu viel Arbeit habe und den Sonntag dafür opfern muss, merke ich das gleich am Verhalten meiner Kinder, die nicht gerne auf ihren Papa verzichten wollen. Ich will jetzt wenigstens versuchen, dass meine Kinder neben der Mutterliebe auch den Vater erfahren können.“ Ich freue mich über diese wertvolle Einstellung dieses jungen Familienvaters. Ein paar Tage später sehe ich, wie der schlanke junge Schneider seine Vaterrolle so richtig auf dem großen Waldspielplatz genießt. Das Töchterchen Asya rutscht schon mutig alleine die lange Rutschbahn mit Genuss herunter. Den jüngeren Sohn Mertol nimmt der Vater noch schützend auf seinen Schoß, damit er sich angstfrei an das Gerät gewöhnen kann. Welch unbezahlbares Geschenk ist es für diese Kinder, dass ihr Vater sie so liebevoll wahrnimmt und betreut.
Elfriedenhof
Die in ockergelb frisch angestrichenen Altbauten wurden im Jahre 1907 erbaut. Sie stehen Wand an Wand aneinandergereiht, geben sich Halt wie unzertrennliche Geschwister fürs ganze Leben.
So gut sie es vermögen, schützen sie mit ihren dicken Mauern die Bewohner vor dem fast unerträglichen belastenden Verkehrslärm. Tagsüber öffnen die Bewohner nur ungern ihre Fenster an der Vorderfront. In diesen alten Häusern gibt es noch immer keine Zentralheizung. Kurz bevor der Winter seinen Einzug hält, sehe ich nämlich ein mir alt vertrautes Bild: Ein Mann trägt auf seinem Rücken säckeweise Kohlen und Briketts in die Keller der Häuser und er schützt seinen Kopf mit einer schwarzen Kapuze. Wenn es dann wirklich kalt geworden ist, rieche ich, dass in unserer Nachbarschaft mit Briketts geheizt wird. Überwiegend junge und auch alte Menschen haben hier ihre Bleibe gefunden. Die Mieten sollen nicht so hoch sein.
Zur Hofseite ist jede Wohnung mit einem schönen Balkon ausgestattet, der ringsherum durch ein Gitter abgesichert ist. Durch diese vielen Gitterstäbe schaut lustig, neugierig und sonnenhungrig ein Reichtum von bunten Blumen hindurch. Rote Geranien wetteifern mit Studentenblumen, Petunien und gelben Begonien. Hoch oben im vierten Stockwerk versucht sogar eine große Sonnenblume sich in das Stückchen Himmel zu recken, das dem großen Innenhof eine zuverlässige Lichtquelle gewährleistet. Aber auch Fächerpalmen und sogar Tomatenpflanzen zeugen von einer ganz individuellen Note der Balkonbesitzer. Außerhalb einiger Balkone hängt, ganz geschickt angebracht, auf einem selbst gebastelten Wäschetrockner für draußen, manchmal auch Wäsche. Und wenn die bunten Wäschestücke im Wind flattern, geben sie dem Hof zusätzlich einen sehr lebendigen Ausdruck. Auf einem dieser eigenen Aussichtstürme dreht sich je nach Windstärke eine kleine Windmühle. Aus dieser Wohnung höre ich auch manchmal eine Kinderstimme. Unter dem Hochparterre befinden sich mehrere große Garagen. In einer Ecke des Innenhofes stehen die grünen Behälter, die den Hausmüll schlucken. Ein Bewohner hat mit künstlerischem Fingerspitzengefühl wirklich phantasievoll die grünen Riesen bemalt. Der Boden des recht großen Hofes ist asphaltiert, und es sieht dort trist grauschwarz aus.
Eines Tages steht eine ältere Mitbewohnerin mal wieder auf ihrem Balkon, an dessen Gitterstäben zartfarbene Wicken blühen, als hätten Schmetterlinge sich auf