Verloren. Josef Rack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Josef Rack
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847647928
Скачать книгу
liegen.

      Es bilden sich zwei Gruppen. Die einen verstehen sich sehr gut mit der Lehrerin, sind immer bemüht, ihren Anforderungen zu entsprechen und ihr Soll bestens zu erfüllen. Die bekommen auch die meisten Belobigungen und Auszeichnungen. Die anderen gehen leer aus. Die Leistung leidet darunter, weil ja die Motivation fehlt.

      Zu jedem Quartalsende oder vor anstehenden Ferien - und im ganz großen Stil zum Klassenjahres-Schluss - werden auf dem Schulhof regelrechte Paraden abgehalten. Alle müssen in Festuniform in Reih und Glied Parade stehen.

      Vorne ist ein Podest aufgebaut.

      Von der Partei erscheint extra ein Funktionär, seine stolze Brust vollgehängt mit Verdienstorden. Zuerst wird die „Internationale“ gesungen. Ansprache des Funktionärs. Meldungen an ihn. Dann der große Moment: Die zu Ehrenden werden einzeln nach vorn gerufen. Von dem Funktionär höchstpersönlich erhält das Kind eine Urkunde und ein Abzeichen wird an sein Oberteil gesteckt. Im Anschluss werden nacheinander die verschiedenen Lehrer der jeweiligen Klassen aufgerufen und, je nachdem wie viele Auszeichnungen es für ihre Klasse gibt, auch ausgezeichnet.

      Kapitel 5

      Toni ist zum Glück immer noch mit Attila zusammen.

      Eine unzertrennbare Freundschaft verbindet sie, obwohl Attila ein ganz anderes Gemüt als Toni hat. Attila ist hitzköpfig und kann sich sehr schwer in das neue System einfügen. Ihm geht das Getue total gegen den Strich. Schon morgens, wenn es losgeht mit der „Blödennationale“, wie er zu sagen pflegt, stehen ihm die Haare zu Berge. Toni ermahnt ihn oft: „Reiß dich zusammen.“

      Attila singt oft nicht mit oder verunstaltet den Text. Toni boxt ihn dann in die Rippen oder tritt ihm auf den Fuß. Einmal schreit Attila auf: „Autsch“. Die Lehrerin eilt wie eine Furie auf die beiden zu, ergreift unterwegs den Stock und schlägt auf sie ein. Strafarbeit, Meldung bei der Rektorin, Eintrag ins „Schwarze Buch“. Bei Wiederholung: Streichung eines Aus-flugs oder sonstiges.

      Attila registriert, wie ein anderer Schüler schadenfroh grinst als sie Schläge bekommen. Auf dem Heimweg schmiedet Attila Pläne, wie er es dem schadenfrohen Schulkamerad heimzahlen kann.

      Toni besorgt: „Attila sei so gut und mach dich nicht unglücklich, du weißt, der ist der Liebling der Lehrerin.“ Attila lässt sich aber nicht beirren.

      In ihrer Freizeit treffen sie sich, so oft es geht.

      Toni bleibt seiner Lieblingsbeschäftigung, dem Musizieren, treu. Attila treibt Sport. Er braucht etwas zur Körperer-tüchtigung, seine Muskeln verlangen danach. Und trotzdem, obwohl sich ihre Interessen unterscheiden, verstehen sie sich sehr gut. Sie ergänzen sich praktisch.

      Hat Attila eine Unsicherheit in einem Lernfach, kann er sich auf Toni verlassen. Andererseits steht Attila Toni bei, wenn er einmal von einem Mitschüler in die Zange genommen wird. Vor Attila haben sie Respekt.

      Wenn sie schulfrei haben, halten sie sich oft an ihrem Lieblingsplatz auf: einem kleinen Wäldchen, ganz in ihrer Nähe. Am Waldrand haben sie ein Baumhaus errichtet, in dem sie oft sitzen. Von hier aus kann man die ganze Gegend unterhalb beobachten. Der Blick reicht über alle Häuser bis hinüber nach Pest.

      Viele Jungs in ihrem Alter haben sich zu Banden zusammengeschlossen. Diese Gruppierungen bestehen oft nicht nur aus harmlosen Lausbubenvereinigungen. Sie werden von politisch angehauchten Anführern geleitet, sogenannten Jungpionier-Vereinigungen, die mit Militärliedern und –spielen beeindrucken. Mit all dem wollen Toni und Attila nichts zu tun haben. Da sind sie sich einig. Gegen die werden sie sich auch verteidigen.

      Zu diesem Zweck haben sie auch vorgesorgt und dazu in ihrem Baumhaus allerhand Abwehrwaffen angehäuft. So z. B. Sand, der auf die Angreifer hinuntergeschüttet werden kann, ebenso Steine, Pfeil und Bogen, Speere, Schleudern. Auch steht immer ein Kübel mit Exkrementen parat. Was noch nebenbei den Vorteil hat, dass sie den Baum nicht verlassen müssen, ihr „Geschäft“ können sie praktischerweise gleich hier oben erledigen. Wehe, hier will jemand angreifen…

      Sie merken gar nicht, wie die Zeit vergeht. Die Beine baumeln hinunter. Die Stadt liegt im Abenddunst. Kaum dringt ein Laut an ihr Ohr, von der Stadt hört man sowieso nichts. Ab und zu fährt schon ein Auto mit Licht. Auf der Donau kommt ein schwer beladenes Schiff aufwärts gefahren, silberglänzende V-förmige Wellen hinterlassend. Alles sieht friedlich aus.

      Und doch – große Veränderungen sind im Gange.

      Toni ist eigentlich mit seiner Welt soweit zufrieden, so viel er weiß, auch seine Eltern. Der Vater hat offensichtlich eine respektable Stellung und ein gutes Einkommen. Hin und wieder wird er mit einer großen Limousine mit Chauffeur abgeholt, da fährt er dann zu Tagungen. Auch ist er schon per Flugzeug in Moskau gewesen – also ist er offensichtlich ein „Hohes Tier“. Die Mutter ist bestimmt auch zufrieden. Ihre Stellung in der Musikschule hat sie ausgebaut, sie unterrichtet jetzt an fünf Tagen. Zusätzlich gibt sie noch zuhause Privatunterricht.

      Attila aber plagen offensichtlich schon andere Gedanken:

      „Weißt du, Toni, bei dir ist es viel einfacher - ihr seid Russen“ - Toni schweigt.

      „Aber meine Eltern haben’s nicht so gut. Mein Vater ist vor zwei Jahren entlassen worden, er hatte einen gutbezahlten Posten bei der Eisenbahn und jetzt schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Meine Mutter hat sich deshalb auch um eine Arbeit bemüht. Die hat sie natürlich bekommen, im kommunistischen System gibt’s ja keine Arbeitslosen, aber ihr ist eine Arbeit zugeteilt worden mit weniger Lohn.“

      Toni bleibt stumm.

      „Du kannst ja nichts dafür, dein Vater bestimmt auch nicht. Aber schau mal, wer in der Schule weiterkommt, sind nicht diejenigen, die wirklich eine hervorragende Leistung bringen, sondern die, die sich einschmeicheln und die ihre Fahne nach dem Wind hängen – die Arschkriecher.“

      Sie sind erst zehn und elf Jahre alt. Aber das was da Attila sagt, gräbt sich bei Toni ein. Attila ist eigentlich schulisch gesehen nicht gerade der Beste, aber seine Gedanken sind sehr reif. Vielleicht auch begünstigt durch das Erlebnis mit seinen Eltern. Deshalb sieht er auch das Geschehen in der Schule mit besonderen Augen, er erkennt auch die Schattenseiten. Toni hält diese Freundschaft mit diesem wilden Burschen für sehr wichtig. Er begreift, dass er von ihm eine andere Sichtweise erfährt, die für ihn in seinem Zuhause fremd bleiben würde.

      Sie fühlen aber auch, dass ihre Wege später einmal in ganz verschiedene Richtungen führen werden, schon wegen ihrer sehr unterschiedlichen Begabungen.

      Diese Erkenntnis tut weh, aber deshalb müssen sie ihre Freundschaft umso mehr festigen. Eine Freundschaft muss das aushalten. Und wie sie sich jetzt durch ihre Unterschiedlichkeit ergänzen, stellen sie sich vor, dass ihnen das später auch mal von Nutzen sein kann. Also müssen sie sehen, dass sie immer Kontakt halten können.

      Sie brauchen einen Plan, wie sie sich turnusmäßig austauschen können, sollten sie tatsächlich einmal getrennt werden.

      Attila hat eine Idee: „Es gibt doch die Pal-Völgy - Tropfsteinhöhle in der Nähe, da suchen wir uns ein geheimes Versteck. Dort hinterlassen wir Nachrichten füreinander. Wenn wir uns trennen müssen, hoffentlich vergehen bis dahin noch viele Jahre, dann machen wir Näheres aus. Demnächst schauen wir uns dort um.“

      Toni ist dies sehr recht, ihm wird es flau im Magen, wenn er an Trennung denkt.

      „Aber vorher noch was Erfreuliches“ meint Attila, „jetzt überlegen wir, was ich mit dem Streber anstelle, der uns ausgelacht hat.“

      „Von mir aus, verklopf ihn“, meint Toni, dem es ganz recht ist, dass das Gespräch eine andere Wendung nimmt.

      Aber Attila ist vorsichtig, so einfach „verklopfen“ ist ihm zu riskant, er wäre ja erkannt und hätte somit anschließend seitens der Lehrerin mit Strafmaßnahmen zu rechnen. Er muss dem Kerl eins auswischen, so dass dieser gar nicht merkt, wer es war bzw. es nicht beweisen kann.

      So erlebt ein bestimmter Schüler hin und wieder eine unangenehme Überraschung,