Verloren. Josef Rack. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Josef Rack
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847647928
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aller Frühe steht schon ein Militärjeep vor dem Haus.

      Andrej, Olga und Toni nehmen ihr Frühstück ein. Olga hat alles aufgefahren, keiner ist aber mit Begeisterung bei der Sache. Jeder hängt seinen Gedanken nach.

      Andrej ist stolz, hat doch Toni Gefallen an der Musik gefunden - wer hätte das gedacht. Olga ist im Musikfach tätig, aber für ihn hat die Partei einen anderen Weg vorgesehen.

      Für Toni will er sich ganz engagieren und ihm jegliche Art von Unterstützung angedeihen lassen. Ihm möchte er zu einer großen Karriere verhelfen.

      Heute beginnt der erste Schritt.

      Momentan sieht aber Toni noch nicht aus wie ein Star.

      Er ist ziemlich blass und kann kaum etwas essen - die Eltern denken, dass dies wegen des Abschieds ist. Sein Magen ist aber noch von gestern in Aufruhr.

      Die letzten persönlichen Sachen, die er in seiner neuen Bude braucht, sind schnell im Auto verladen. Der Chauffeur fährt sie die kurze Strecke.

      Im Burgviertel halten sie vor einem großen Haus mit vielen Fenstern an. Das ist wohl das Wohnheim für die neuen Schüler. Am Eingangstor werden sie von der Leiterin empfangen. Olga ist ihr ja bekannt. Andrej wird respektvoll begrüßt und mit Genosse Major angesprochen. Toni wird mit strengem Blick gemustert und mit Handschlag begrüßt.

      Es ist klar, wer hier das Sagen hat.

      Andrej und Olga dürfen nur mit auf das Zimmer bis der Fahrer Tonis Sachen dort abgestellt hat. Anschließend müssen sie sich verabschieden.

      Und Toni ist jetzt allein.

      Was heißt allein, zwei andere Jungs sind schon da und sitzen auf ihren zugeteilten Betten, neugierig, wer denn da jetzt kommt. Der letzte der vier Jungen, der zukünftig das Zimmer mitbewohnt, trifft dann auch ein. Die Leiterin macht alle vier miteinander bekannt und weist auf eine Mappe hin, die die Hausordnung und sonstige Verhaltensregeln enthält, die strengstens zu befolgen sind.

      Zack ist sie draußen.

      Nun räumt Toni erstmal seine Sachen in die ihm zugeteilten Möbel ein. Möbel ist aber etwas zu viel gesagt. „Seine“ Möbel bestehen aus dem Bett und einem Regal ohne Türen, wahrscheinlich damit man alles sofort im Blick hat. Oh je, denkt Toni, das ist also meine neue Welt.

      Er hat auch das Gefühl, dass jetzt seine sorglose, behütete, glückliche Kinderzeit vorbei ist…

      Zu jedem Anlass und zu jeder Aktion schrillt eine durchdringende Alarmklingel.

      So werden sie Punkt 12 Uhr zum Essen aufgerufen.

      Aber nicht so mir nichts dir nichts:

      Händewaschen im großen Gemeinschafts-Waschraum.

      Zu den Mahlzeiten müssen sie ein bestimmtes Oberteil

      anziehen

      12 Uhr 15 im Hof antreten.

      Pro Stockwerk müssen die Schüler in Viererreihen und im Gleichschritt über den Hof zur Kantine marschieren,

      zukünftig mit Lied, das man aber erst noch lernen wird.

      Essen fassen und an den zugewiesenen Plätzen

      aufstellen.

      Die Leiterin tritt vorne auf ein Podest zur offiziellen Begrüßung.

      Anschließend wird die Sozialistische Internationale gesungen.

      Jetzt setzen.

      Das Essen ist nun fast kalt - und schmeckt scheußlich.

      Guten Appetit.

      Eine Stunde Ruhezeit.

      14 Uhr. Heute Rundgang mit Bekanntmachung der diversen Räumlichkeiten.

      Ansonsten Nachmittagsunterricht, in der Regel bis 17 Uhr.

      Ab 19 Uhr finden oft Proben für regelmäßige Aufführungen, auch vor Publikum, statt.

      22 Uhr Licht aus.

      Morgens um 6 Uhr ist Wecken. Unterrichtsbeginn 7 Uhr 30.

      Samstags jedoch nur bis ca. 12 Uhr Unterricht.

      Das bedeutet aber nicht, dass dann das Wochenende frei ist.

      Vielerlei Aufgaben, freiwillige und unfreiwillige, stehen auf dem Programm. So sind die Schüler für Sauberkeit und Ordnung ihrer Kleidung, Instrumente und der Gebäude zuständig.

      Hausaufgaben müssen aber nebenbei auch noch gemacht werden. An den Samstag- und Sonntag-Abenden finden oft Musik-Konzerte und Gesangsvorführungen statt.

      Für Toni, und natürlich auch für seine anderen Mitschüler, ist diese Arbeitsbelastung kaum zu bewältigen.

      Sie fallen, sooft es ihnen irgendwie möglich ist, total kaputt in ihr Bett.

      Das Burgviertel ist eine geschlossene Ansiedlung.

      Die Anfänge der Erbauung der Schlossanlage gehen ins 13. Jahrhundert zurück. Das Schloss war die Residenz sämtlicher Königsdynastien. Diesen wunderschönen Gebäudekomplex dürfen sie nur mit Erlaubnis und zu besonderen Anlässen verlassen. Nach Hause dürfen die Schüler nur alle vier Wochen, auch Toni, obwohl es für ihn nur zwei Kilometer sind. Dies alles soll das Gemeinschaftsgefühl stärken.

      Toni hat aber zu alledem ein seltenes Glück: Er trifft ja seine Mutter mehrere Stunden in der Woche bei Klavier- und Gesangsunterricht. Das sind für Toni die schönsten Stunden. Da können sie sich natürlich auch ganz kurz privat austauschen. Offiziell sieht man das nicht gern, es soll für niemanden eine Bevorzugung geben. Toni will sich bei ihr aber nicht über das harte Leben hier beklagen.

      Es bleibt ihr dennoch nicht verborgen, dass ihr Junge an die Grenze seiner Kräfte kommt und langsam zu einem Sorgenkind wird. Muten sie ihm hier zuviel zu?

      Als Mutter möchte man natürlich seinem Kind alle Schwierigkeiten aus dem Weg räumen und ihm beistehen. Doch das kann sie hier nicht.

      Der Weg, den er jetzt geht, ist ein steiniger.

      Als sie und auch Andrej in der Ausbildung waren, war es für sie auch kein Zuckerlecken und in Nowosibirsk waren die Umstände bestimmt nicht besser. Sie überstanden es auch. So tröstet sie sich immer wieder. Es tut aber trotzdem sehr weh, wenn sie Toni verlässt und sie weiß, dass er so schwere Tage durchstehen muss, ohne dass sie bei ihm sein kann.

      Der Alltag von Toni ist wirklich hart.

      Zuerst muss er sich daran gewöhnen, dass er mit drei weiteren Jungen ein Zimmer teilen muss.

      Mädchen sind übrigens nicht im gleichen Gebäude untergebracht. Sie wohnen etwas entfernt. Sie marschieren ebenfalls in adretter Uniform, aber getrennt von den Jungen, zu ihren Unterrichtsstunden und zum Essen. Deren Speisesaal ist ein Stockwerk über ihrem. Manch scheue Blicke fliegen heimlich hin und her.

      Durch die Schuluniformen erscheinen alle gleich, aber auch unnahbar – leider.

      Mit zwei Jungs aus seinem Zimmer hat sich Toni gleich gut verstanden, das gibt ihm Trost und Hoffnung, dass sie die Zeit mit gegenseitiger Unterstützung schon durchhalten werden. Aber bei dem anderen hat er von Anfang an ein gemischtes Gefühl. Es geht seinen beiden Freunden genauso. Dieser vierte Zimmer-Mitbewohner hat eine aggressive barsche Art, ist sehr bestimmend und kann scheinbar alles besser.

      Am ersten Tag geht es gleich los. Obwohl jeder seinen Bereich zugeteilt bekommt, hat dieser, Janos mit Namen, gleich das Bett neben dem Fenster in Beschlag genommen. Das bezieht er - basta.

      Die Sanitäranlagen liegen auf dem Gang. Es kommt öfter vor, dass zwei, drei Jungs schon davor stehen. Wenn es Janos scheinbar eilig hat, drückt er die Wartenden einfach weg und schon ist er als nächster drin. Seine kräftige Körperstatur macht’s ihm möglich. Es ist ja strengstens untersagt, irgendwelche Raufereien anzufangen – wer überschüssige Kraft hat, soll sie gefälligst bei den sportlichen Aktivitäten oder im Arbeitseinsatz einsetzen. Und so halten sich die anderen zurück, sie wollen keine Konfrontation