Es bildete sich im Laufe der Zeit eine Zweiklassen-Gesellschaft.
Die Freundschaft von Toni und Attila wurde immer mehr strapaziert. Für Attila war klar, zu welcher Seite er gehörte - und gegen wen er opponierte. Das machte ihn auch stark. Er fand sich damit ab, dass er von niemandem was geschenkt bekam. Er würde auch nicht in eine höhere Schule wechseln - er würde eben ein Arbeiter werden.
Toni befand sich zwischen den Fronten. Seinen Freund verstand er absolut. Er selbst konnte sich aber aus Rücksicht auf seine Eltern nicht offen gegen die Lehrer oder sonstige Amtsträger stellen. Es setzte ihm psychisch zu, dass er ein Mitläufer sein musste.
Die Zeit kam, wo sich die Wege der beiden Kameraden trennten. Toni wurde ab der fünften Klasse in die staatliche Internatsschule aufgenommen; er würde auch im Burgviertel wohnen, also würde sich sein Leben hauptsächlich dort abspielen.
Als das bekannt war, wollten Toni und Attila ihre letzten Freizeitaufenthalte in ihrem Baumhaus noch intensiv nutzen. Nur saßen sie jetzt manchmal eine ganze Stunde nebeneinander und schwiegen. Viele Gedanken gingen ihnen durch den Kopf. Jeder versuchte sich auszumalen, wie es weitergehen würde.
Was wird die Zukunft bringen???
Am letzten Tag, bevor Toni ins Internat übersiedelt, wollen sie in der Tropfsteinhöhle ihr Versteck einrichten.
Sie treffen sich an ihrem Baum und machen sich auf den Weg, den sie schon oft gegangen sind. Sie kennen sich in der Höhle ganz gut aus, es ist aber trotzdem nicht ungefährlich.
Bei einem früheren Besuch hatte Attila einen passenden Stein aus der Höhle mitgenommen und ihn so bearbeitet, dass er jetzt von einer Seite ein Loch hat, in das man gut eine Flasche oder ähnliches stecken kann. Diesen Stein trägt er jetzt bei sich. Er wiegt immer schwerer in seinem Rucksack.
Toni hat unter anderem eine Taschenlampe dabei. Der Höhleneingang ist hinter dichtem Gebüsch versteckt, allerhand Felsbrocken liegen davor. Bevor sie direkt zum Eingang gehen, versichern sie sich, dass niemand zu sehen ist. Erst dann schleichen sie gebückt durch das Gebüsch und verschwinden in der Höhle. Taschenlampe an. Vorsicht ist geboten, links geht es steil hinab ins Dunkel. Sie wählen den rechten Gang, dieser ist leicht abfallend, aber viel Geröll macht das Eindringen sehr beschwerlich. Da geht niemand hinein, der nicht unbedingt muss. Dazu kommt, dass da allerhand unangenehme Dinge liegen, wie Exkremente von Tieren. Fledermäuse hängen an den mit Spinnweben überzogenen Decken. Der Geruch ist auch nicht gerade angenehm. Moder, verfaultes Aas oder sonstiges Undefinierbares. Attila geht natürlich voraus. Toni folgt dicht dahinter - ja nicht den Kameraden verlieren oder gar in etwas hineintreten, was man nicht sieht. Der Vordere hat ja die Taschenlampe.
„So, jetzt reicht’s“, stellt Attila fest und leuchtet mit der Taschenlampe hoch. Über ihnen ist eine Nische zu erkennen, die sie nur mit Hilfe eines Felsbrockens, den sie unter die Stelle wälzen um sich draufzustellen, erreichen können. Da soll der präparierte Stein hinein geschoben werden, der wunderbar in die Vertiefung passt. Kein Mensch, sollte je einmal jemand hierher kommen, würde etwas davon bemerken.
Beide kramen einen beschrifteten Zettel heraus und stecken ihn in eine Flasche, die sie dann verschließen und in die Steinaushöhlung legen. Anschließend schieben sie den Stein in die Vertiefung des Felsens.
„Wie bei einer Grundsteinlegung“ meint Toni. „Was hast denn du auf deinen Zettel geschrieben?“ „Das geht dich gar nichts an, ich weiß ja auch nicht, was auf deinem steht“ „Das wirst du sehen, wenn die vereinbarte Zeit gekommen ist.“
„Nun wollen wir aber diesen Akt feierlich besiegeln“, sagt Toni mit wichtiger Stimme. Sie reichten sich beide Hände.
„Wir werden immer Freunde bleiben, egal was kommen mag. Wenn wir uns nicht jedes Jahr sehen, werden wir hierher kommen und eine Nachricht hinterlassen, wo, wann und wie wir uns treffen können. Später können wir ja, je nach den Umständen, einen anderen Rhythmus vereinbaren.“
Sie nehmen sich in die Arme. Attila ist nicht für soviel Sentimentalität: „Nicht dass du mich auch noch küssen willst“, da hat ihm Toni aber schon einen Kuss auf die Wange gedrückt. So hart ist Attila dann auch nicht, wie er nach außen hin tut. Sie liegen sich in den Armen, „Toni, so einen Freund wie dich, werde ich nie mehr haben.“
„Jetzt hör aber auf“, winkt Toni verlegen ab - er ist froh, dass das Dämmerlicht seine Augen verbirgt.
Sie zünden noch zwei Kerzen an. Toni zieht ein Stück Brot und ein großes Stück „Herz-Salami“ aus seinem Rucksack. Attila staunt: „Was du alles mitgebracht hast!“ Sie lassen es sich schmecken. „Das ist ja wie eine Henkersmahlzeit“, feixt Attila. Er muss irgendetwas sagen, um die trüben Gedanken aufzulockern und die sentimentale Stimmung zu durchbrechen.
Toni ist aber noch nicht fertig. „Was wäre eine gute Mahlzeit ohne einen guten Schnaps“ und zieht noch eine kleine Flasche Barack-Palinka aus der Tasche. Attila ist total baff. Und zu allem Überfluss holt Toni auch noch ein Päckchen russischer Papirosy heraus.
Ein vorsichtiger Schluck Schnaps aus der Flasche.
Attila ganz abgebrüht: „Das braucht der Mann“ und reibt sich wohlig den Bauch. Toni verschluckt sich und hüstelt unterdrückt, er will ja schließlich auch ein „rechter Mann“ sein. Als dann die Zigaretten brennen und die ersten Züge gepafft waren, wird Toni weiß. Zum guten Glück sieht man es nicht in dem Halbdunkel. Der stinkende Qualm der Zigaretten mischt sich mit dem Modergeruch, das gibt ihm den Rest.
Und so kommt es, wie es kommen muss: Toni lässt die Zigarette fallen und wirft sich auf die Seite.
Die gute „Herz-Salami“ bleibt nicht lange in ihm, auch muss er sich schnellstens seiner Hosen entledigen, da ihm sein Körper oben und unten zeigt, dass sein Magen für diese Sachen noch nicht bereit ist.
Alles ist erledigt. So krabbeln sie mit gemischten Gefühlen zum Ausgang zurück.
In der Abenddämmerung treten sie den Heimweg an.
Die Lichter der Stadt liegen unter ihnen.
Schweigen. Es ist alles gesprochen.
Morgen fängt für Toni ein neues Leben an.
Beruhigend für ihn ist: Er wird wohl nicht weit weg sein von Attila und von zuhause, aber doch in einer eigenen abgeschlossenen Welt leben. Beruhigend ist auch, dass er mit seiner Mutter öfter zusammenkommen kann, weil sie ja dort auch Musik- und Gesangsunterricht gibt.
An den Wochenenden würde er auch öfter heimkommen.
Natürlich will er sich bemühen, Attila trotzdem so oft wie möglich zu sehen, aber ihre Wege werden eben nicht mehr die gleichen sein.
Sie werden auch nicht mehr zusammen lernen können.
Gedanken, Gedanken…
„Ach, wir sind schon da.“ Die Freunde nehmen sich noch einmal in die Arme. Toni verschwindet schnell hinterm Gartentor, bleibt aber noch kurz stehen, um sich zu fassen.
Olga ist hinterm Fenster zu sehen, sie wartet meistens, bis Toni heimkommt. Sie winkt Attila noch zu. Sie hat die Verabschiedung beobachtet und sich in etwa vorgestellt, was die beiden Freunde fühlen. Es tut ihr selbst weh.
Attila muss noch ein ganzes Stück weitergehen und bleibt mit seinen Gedanken allein. War das das letzte Mal, dass er mit Toni so gegangen ist?
Sein neues Schuljahr geht weiter, etliche seiner Klassenkameraden wechseln auf eine andere Schule.
Aber alle anderen sind ihm egal, den Platz von Toni - seines Tonis, würde niemand mehr einnehmen. Er fühlt sich allein und erbärmlich.
Zum guten Glück sieht niemand, wie er sich mit dem Handrücken über die Augen wischt - wahrscheinlich ist ihm eine Fliege ins Auge geflogen…