Dieser Tag beginnt mit heftigem Schneefall.
Der wievielte ist es – man zählt die Tage nicht mehr.
Raus aus den hüllenden Decken. Für die Toilette muss man 100 Meter weit gehen.
Unbeschreiblicher Zustand…
Anschließend schnell auf den Weg zur Essensausgabe.
Da hat man gar keinen Überblick mehr, wo die einzelnen Personen sich befinden. Kurz vor Mittag treffen die Leute ein mit ihren Mitbringseln. Die Mütter versuchen solange, „zuhause“ Ordnung zu halten und ihre Kinder zu versorgen.
Zur Essenszeit kehrt dann eine gewisse Ruhe ein. Ältere Leute dösen anschließend stundenlang vor sich hin.
* * *
Eine Mutter aber findet keine Ruhe.
„Habt ihr unseren Toni gesehen?“
Heute Morgen war er schon in Richtung Amerikaner unterwegs. Wo er aber jetzt geblieben ist, weiß niemand.
„Der Lausbub, wenn der zurückkommt, muss ich ihn mal versohlen“, meint der Vater.
Unruhige Suche – auch bei den anderen Gruppen.
„Wir haben ihn nicht gesehen.“
„Wir kennen ihn nicht.“
„Dahinten war er vor einer Stunde.“
„Da drüben hab ich ihn gesehen.“
Mutter und Vater werden langsam hysterisch.
Schon später Nachmittag.
Der große Schock!
Lautsprecherdurchsage: „Dorf Etyek sammeln, in einer halben Stunde Abmarsch.“
„Ach Gott, wo ist mein Toni, wo ist mein Mann, - Anton! – Toni!“
Der Vater eilt zurück. „Wo ist jetzt meine Frau? – „Resl!“
Bei der Nachbar-Gruppe sieht er sie. Rennt hinüber. Sie fallen sich in die Arme. Theresia schreit hinaus „Toni – Toniii! - wo bist du!? so komm doch!“
„Was machen wir jetzt?“
Schnell zum Gruppenführer „Unser Toni ist verschwunden.“
„Wir müssen zusammenpacken, in einer Viertelstunde ist Abmarsch.“
„Anton, ich bleibe hier, ohne Toni gehe ich nicht fort.“
Der Gruppenführer, ein Bekannter aus ihrem Dorf, versucht, ihr die Lage klar zu machen. „Die Russen lassen nicht mit sich handeln, wir müssen fort, auch du.
Die werden den Jungen schon finden und nachschicken“, versucht sie der Mann zu beruhigen. Er muss seine Aufgabe erledigen – ALLE müssen fort – (nur die Toten dürfen hier bleiben).
Der Vater eilt zu einem russischen Soldaten und fleht ihn an.
Der aber: „Nix verstehn, fort, dawaj – dawaj“ und nimmt zum Nachdruck sein Gewehr von der Schulter.
Eine Gruppe von Bekannten nimmt die beiden verzweifelten Eltern in ihre Mitte. Entsetzen im Gesicht der Mutter, Männer tragen sie halb. Es gibt kein Erbarmen.
Der Weg zu ihrem Zug geht durch andere Gruppen - ist lang, aber auch wieder kurz. Solange sie noch nicht im Zug sind, besteht wenigstens die Hoffnung, dass ihr Sohn doch noch auftaucht. Ununterbrochen rufen sie: „Toni! Toniii!“
Männer heben die wild um sich schlagende Frau in den Eisenbahnwagen. Sie merkt gar nicht, dass sich die Situation total verändert hat: Unterwegs sind sie von amerikanischen Soldaten übernommen worden.
Die eskortieren sie zu ihren Zügen.
Die sehen ganz anders aus. Es sind Personenzüge!
Wohl auch ziemlich ramponiert, aber die meisten bekommen einen Sitzplatz. Viele müssen aber trotzdem in den Gängen stehen. Es ist also eine erhebliche Verbesserung eingetreten.
Die arme Frau bemerkt von alledem nichts.
Ohne Rücksicht auf die bereits auf ihren Plätzen Sitzenden drängt sie sich zu einem Fenster vor und reißt es herunter.
Wenn ihre Nachbarn sie nicht zurück gehalten hätten, wäre sie aus dem Fenster gestürzt.
„Toni – Toniii!“, so hallt es noch lange in die Dunkelheit des bereits fahrenden Zuges. Die nur noch kreischenden Rufe verstummen langsam mit ausbleibender Stimme.
Die Mutter bricht total zusammen.
Ihr Mann zieht die auf den anderen Leuten Liegende zu sich heran. Jemand hat Platz gemacht. Anton lässt sich, mit seiner Frau im Arm, auf den angebotenen Platz sinken. Sie ist vor Erschöpfung eingeschlafen. Das Zucken des Körpers und der Arme, die etwas auffangen wollen, verraten, dass ihr Geist nicht zur Ruhe gekommen ist.
Die meisten Menschen sind eingeschlafen.
Die Spannung hat nachgelassen. Sie fühlen sich jetzt bereits viel sicherer.
Ihre ersten Kontakte mit den Amerikanern haben sie beruhigt.
Die große Ungewissheit - die Angst vor Sibirien - die Angst vor Misshandlungen, hat sich gelegt.
* * *
Toni, gerade mal vier Jahre alt, versteht sich schon ganz gut mit den Amerikanern. Die kennen ihn bereits und winken ihm im Vorbeigehen.
In der Kantine arbeiten viele Frauen.
„Hi Toni, little darling come on! “
Er flitzt zwischen den großen Herden und Küchengeräten umher. Fällt einmal etwas hinunter, ist er zur Stelle und hebt es auf. Es macht ihnen Spaß, er ist für sie eine nette Abwechslung. Toni kennt schon teilweise deren Namen.
„I am Toni“ stellt er sich oft vor. Die Großen lachen.
Die Soldaten sehen es nicht gerne, dass Zivilisten sich in ihren Räumen aufhalten. Diese „Deutschen“ waren ja schließlich alle Nazis, also ihre Feinde.
Aber mit so einem kleinen Wonneproppen kann man doch nicht böse sein.
Gerechtigkeitshalber muss man aber betonen, dass auch die Russen gegenüber Kindern sehr freundlich waren. Der Unterschied war eben, dass es diesen oft selbst nicht gut ging. Sie waren daher nicht in der lockeren Stimmung wie die Amerikaner.
Also, unserem Toni geht es gut bei den Amerikanern.
Er schaut sich so manche Verhaltensweise ab. Einer hat ihm eine Mütze geschenkt. So marschiert er herum, die Mütze nimmt er nicht mehr ab - und immer Kaugummi kauend. Die Sprache gefällt ihm, die übt er fleißig. An diesem Tag vergisst er die Zeit. Es ist schon Spätnachmittag, als er mit gefüllten Taschen und einem gefüllten Rucksack bei seiner Gruppe eintrifft.
Was heißt eintrifft?
Da sind ja fremde Menschen! Bin ich verkehrt?
Wirrer Blick – dort drüben waren doch noch die anderen vom Nachbardorf, die er auch kannte. Aber jetzt machen sich auf diesem Platz fremde Menschen breit.
„Mutter! – Vater! – wo seid ihr!?“
Panik überkommt ihn.
Die Leute von einer Nachbar-Gruppe haben mitbekommen, dass der Toni aufgetaucht ist, den seine Eltern vor ihrer Abreise suchten. Jetzt ist guter Rat teuer.
Eine Frau nimmt ihn auf den Arm und versucht ihm zu erklären, dass seine Eltern fort sind. Was tun???
Von dem „großen“ Toni ist nichts mehr übrig geblieben.
Klein ist er – winzig - und allein…
In seiner Verzweiflung und Einsamkeit klammert er sich an die fremde Frau und verkriecht sich unter ihrer schützenden Decke an ihre warme