Falk überlegte, wann er eigentlich die Kleinen das letzte Mal gesehen hatte. Es musste Monate her sein. Dabei lebten Theresa, Ronnie und die beiden Mädchen nur etwa eine Stunde Fahrtzeit entfernt, in Leipzig.
Claudia kam aus der Küche, setzte sich zu ihm an den Tisch, und betrachtete ihren Sohn versonnen. Falk biss von seinem Brot ab.
„Schön, dass du mal wieder da bist. Wie geht’s denn so? Wie läuft’s auf Arbeit?“, fragte sie.
Falk kaute, trank einen Schluck Saft und meinte:
„Geht schon.“
„Wie ist die neue Sekretärin?“
„Wie soll die sein. Macht ihr Zeug. Ich glaub, der Chef ist zufrieden, nachdem die letzte echt ein Reinfall war, die hat ja…“
Claudia, heftig nickend, unterbrach:
„Das ist dasselbe wie bei uns. Die neue Azubine, die hat gerade erst angefangen, aber ich kann dir heute schon sagen, das wird nie was mit der.“
Ergeben blickte Falk seine Mutter an, und nahm einen weiteren Bissen.
„Sie hat einfach kein Gefühl für den Umgang mit dem Kunden. Weißt du, das ist das allerwichtigste. Der Kunde muss sich wohlfühlen!“
Falk fragte beiläufig:
„Habt ihr eigentlich noch diesen großen Zuber in der Ecke?“
„Natürlich. Da kommen die benutzten Handtücher rein. Es passen drei Ladungen rein.“
Wo es eigentlich her sei, wollte Falk wissen, doch Claudia zuckte nur die Achseln, und kam auf interessantere Dinge zu sprechen:
„Das Geschäft läuft zum Glück richtig gut gerade, auch wenn Semesterferien sind. Liegt an den Stammkundinnen. Ihre Haare wollen die Frauen nun mal schön haben, das war schon immer so. Bloß, dass es früher eben nur drei Friseursalons in der ganzen Stadt gab. Da standen sie dann Schlange bei uns vor der Tür. Naja, wie überall, ne!“
Sie lachte, und sagte dann unvermittelt:
„Trotzdem schade, dieses Mädchen, die war doch eigentlich ne ganz Hübsche.“
„Welches Mädchen denn jetzt?“
„Na, eure letzte Sekretärin. Du hast sie mir mal auf einem Foto gezeigt, von eurem Betriebsausflug! Diese Naturlocken...“
„Mutter!“, sagte Falk scharf und dann, sich umguckend: „Wo ist eigentlich der Vadder hin verschwunden?“
Claudia zuckte die Achseln, stand auf und kramte in ihrer Schürzentasche eine Schachtel Zigaretten hervor.
„Er wird im Keller sein, vermute ich mal.“
„Das trifft sich gut“, sagte Falk. „Ich wollt ihn eh nach dem alten Schlauchboot fragen. Das müsste ja noch irgendwo da rumliegen.“
„Was willst du denn mit dem alten Ding? Naja, kannst ja mal unten schauen.“
Seine Mutter stand schwerfällig auf und ging zum Balkon.
„Frag ihn lieber gleich, ob er die Fernbedienung für die Alarmanlage mitgenommen hat. Nicht, dass er die wieder vergessen hat, wie neulich. Die halbe Nachbarschaft hat er aufgeschreckt, ich sag`s dir.“
„Was war denn da los?“, fragte Falk.
„Und bring ihn dann gleich mit, es gibt bald Essen!“, rief seine Mutter zur Antwort vom Balkon aus durch die angelehnte Tür.
*
Schon von der Kellertreppe aus hörte Falk es in der Ferne rumpeln. Er folgte dem Gang um die Ecke, bis er zu einem mit Holzlatten abgetrennten Abteil kam, das den Kellerraum seiner Eltern bildete, und bis zur Decke vollgestopft war mit Regalen, aus denen Kisten, Tüten und Verpackungen in allen Formen und Größen ragten. Falks Vater stand in der Mitte, mit dem Kreuz eines Preisboxers und den dürren Beinen, die er seinem Sohn vererbt hatte, einem Bauch, der sich unter dem zerschlissenen T-Shirt spannte und einer blau-gelben Schirmmütze des FC Carl Zeiss Jena auf dem Kopf, und sortierte Altglas und Plastikflaschen in große Müllsäcke. Der Dackel saß neben ihm und begann sofort zu bellen, als er Falk bemerkte.
„Hey Vadder. Was machst du?“, fragte Falk sinnloserweise.
„Will hier eben noch was sortieren.“, erklärte Klaus, was ebenso überflüssig war. Dann richtete er sich behände auf und deutete hinter sich. „Und ein paar Einmachgläser mit hoch nehmen.“
Das Halbdunkel hinter Klaus verbarg ein Regal an der hinteren Wand, in dem genügend Vorräte lagerten, um den ganzen Block einen harten Winter lang durchzufüttern. Auf den oberen Regalbrettern standen große bauchige Gläser, gefüllt mit eingekochtem Obst aus dem kleinen Garten, den Falks Eltern schon seit Jahrzehnten oberhalb von Alt-Lobeda pachteten. Da sie es noch nie geschafft hatten, die ganze Produktion einer Saison innerhalb des Winters aufzuessen, kamen jedes Jahr neue volle Gläser hinzu. Es wurden immer die alten zuerst aufgemacht, so dass Falk sich schon als Kind gefragt hatte, wie die Zwetschgen wohl schmecken mochten, wenn sie frisch eingeweckt waren.
„Ich helf dir.“, bot er seinem Vater an und gemeinsam begannen sie, eine Holzkiste voll zu packen.
Falk erkundigte sich, was denn nun schon wieder mit der Alarmanlage los gewesen sei. Er konnte sich noch gut an den letzten Vorfall erinnern: installiert hatte sein Vater das Gerät, als in der Wohnung ein Stockwerk tiefer eingebrochen worden war. Das war Weihnachten letztes Jahr gewesen, die Diebe hatten damals einen Flachbildfernseher, eine Mikrowelle und eine Riesendose mit Plätzchen erbeutet, und seine Mutter hatte den Nachbarn, die sie eigentlich vorher nie hatte leiden können, mehrere Bleche Kekse zum Trost gebacken. IM Januar dann war Falk bei einer Party gewesen, die zufälligerweise im Nachbarblock stattgefunden hatte. Als dort gegen vier Uhr die Polizei aufgetaucht und die Party damit beendet gewesen war, hatte Falk beschlossen, sich den weiten Weg zu sich nach Hause zu ersparen und stattdessen bei seinen Eltern zu übernachten. Als er den Schlüssel im Schloss umgedreht und die Wohnungstür geöffnet hatte, war ein ohrenbetäubender Lärm losgeschrillt, der Dackel war wild kläffend im Flur erschienen, sowie sein Vater, in Nachthemd und Wollsocken, die Maske, die er wegen seines Schnarchens trug, noch im Gesicht, und sein Luftgewehr auf den Eindringling gerichtet. Später hatte sein Vater ihm erklärt, dass der Alarm, wenn er scharf geschaltet war, sofort losging, sobald der Sensor auch nur die kleinste Bewegung an der Tür registrierte, also auch, wenn jemand die Tür mit dem passenden Schlüssel öffnete. Wenn Falks Eltern bei scharfer Alarmanlage die Wohnung verließen, hatten sie daher immer ein kleines mobiles Gerät dabei, auf dem sie bei ihrer Heimkehr eine PIN eintippen und damit die Anlage ausstellen konnten, bevor sie die Tür aufschließen konnte. Wenn sie das mobile Gerät nicht dabei hatten, gab es zwar immer noch die Möglichkeit, die PIN im Inneren der Wohnung auf dem dort fest installierten Gerät einzugeben, allerdings war zu diesem Zeitpunkt dann schon die ganze Nachbarschaft alarmiert. Genau dies war nun offenbar passiert, als sein Vater neulich in den Keller gegangen war, dabei den Alarm eingeschaltet hatte, da Claudia einkaufen gewesen war, und dann, als er wieder zur Wohnungstür hereinkam, bemerkt hatte, dass die Fernbedienung noch unten im Keller lag.
Noch nie sei er die Treppen so schnell runter und wieder raufgerannt, sagte Klaus. Warum er den PIN nicht auf dem fest installierten