Falk machte sich nicht die Mühe, in den Kühlschrank zu schauen. Noch während er die Stufen im Treppenhaus hinunter trabte, wählte er die Nummer seiner Eltern. Seine Mutter nahm ab und war hocherfreut über seine Ankündigung, er werde dieses Mal schon etwas früher kommen.
Der Marktplatz lag verlassen vor ihm; die Läden hatten geschlossen; die Stühle und Tische der Cafés hatte man übereinandergestapelt und angekettet; erst später, gegen zehn vielleicht, würden die ersten Cafés wieder aufmachen. Falk schwang sich auf sein Rad.
Er fuhr hinunter zum Paradies, und dann zügig weiter, immer links der Bahnschienen, und genoss den Fahrtwind. Durch eine Unterführung gelangte er in eine ruhige Wohngegend mit Einfamilienhäusern und kleinen Gärtchen, und erreichte schließlich die Stadtrodaer Straße, die in südlicher Richtung aus Jena hinaus führte, im Schatten der Plattenbauten von Lobeda.
Falk überquerte die Straßenbahnschienen und bog dann auf einen der Fußwege ein, die hoch zu den Blöcken führten. In niedrigem Gang fuhr er an einem Supermarkt vorbei, an der Sparkasse, und dem Brunnen, der kein Wasser hatte. Hier kannte er jeden Riss in jeder Steinplatte.
Die Neubaublöcke reihten sich am Hang des Saaletals neben- und hintereinander wie riesige umgedrehte Blumenkästen. Alle gleich, alle grau und alle elf Stockwerke hoch. Wohnte man ganz unten, so sah man aus dem Fenster die Außenwand des gegenüberliegenden Blocks. In der elften Etage jedoch überragte der jeweils obere Block den weiter hangabwärts liegenden, so dass man freie Sicht hatte, bis auf das Stadtzentrum, die Saale, das Gewerbegebiet mit den Stadtwerken und den zwei markanten Heiztürmen, und die bewaldeten Hänge der gegenüberliegenden Talseite.
Im sechsten Stock im vorletzten Block lebten Falks Eltern, so lange er sich erinnern konnte.
Seine große Schwester war noch im Stadtzentrum aufgewachsen, Ende der 70er Jahre, wo die Zimmer der kleinen Wohnung mit Kohleöfen geheizt waren, und das Bad auf halber Treppe mit zwei weiteren Familien geteilt wurde. Die Bewilligung des Wohnungsantrags, den Falks Eltern damals gestellt hatten, war fünf Jahre später, pünktlich zu Falks Geburt im Jahr 1985, erteilt worden.
Die große Vier-Raum-Wohnung in Lobeda war ein Aufstieg in jeder Hinsicht gewesen. Und war es immer noch, dachte Falk, als er die Treppen hochlief. Es gab natürlich einen Fahrstuhl, aber der hielt nur in den ungeraden Etagen, was Anlass ständiger Klagen seiner Mutter war. Sein Vater meinte dann immer, sie solle sich lieber freuen, immerhin sei die Miete noch auf DDR-Niveau.
Aus der Wohnung im ersten Stock ertönte Babygeschrei. In der Etage darüber zeugten durcheinander stehende Schuhe und leere Bierkästen von einer Studenten-WG, wo die Bewohner sicher noch schliefen. Etwas außer Atem kam Falk schließlich oben an, schloss die Wohnungstür auf, zog seine Schuhe aus, trat ein und sog den Geruch seiner Kindheit ein.
Sofort kam ihm seine Mutter entgegen gewuselt. Sie war nur unwesentlich kleiner als ihr Sohn, und hatte Arme vom Umfang seiner Oberschenkel. Sie trocknete ihre Hände an einer geblümten Schürze, die sie über der Jeans und dem grell-pinken T-Shirt trug. Falk bemerkte, dass eine Strähne in ihrem kurzen blondierten Haar in derselben Farbe gefärbt war.
„Hab dich schon auf der Treppe gehört!“, sagte Claudia Bauersbach. „Den Schritt erkenne ich sofort!“
Sie drückte Falk an sich, dann hielt sie ihn auf Armlänge von sich weg, und verzog das Gesicht.
„Du hast doch gesoffen gestern! Hast ne ganz schöne Fahne!“
„Grüß dich, Mutter! Und ihr habt wohl mal wieder ne neue Farbkombi bei euch im Salon ausprobiert?“
Dabei wuschelte er ihr durch die Haare und fügte hinzu:
„Macht dich glatt zwei Jahre jünger!“
Sie versetzte ihm einen kräftigen Klaps und rief über die Schulter:
„Klaus, komm her, dein Sohn ist kaum da und wird gleich wieder frech!“
Aus dem Wohnzimmer tauchte Falks Vater auf, in Begleitung des Rauhaardackels Romeo.
„Das macht er richtig!“, sagte Klaus Bauersbach und umarmte Falk. „Willst du ein Bier?“
„Oh, nee, Vadder, lass mal gut sein. Ich hab heut noch nichts gegessen.“
Klaus nickte ernst. Auch wenn es ihm mit Sicherheit ein Rätsel war, wie man um elf Uhr vormittags noch nichts gegessen haben konnte, war der Einwand offensichtlich einleuchtend. Er sagte:
„Also, ich bin jedenfalls froh, dass du angerufen hast. Ansonsten hätte es nämlich bestimmt wieder nur Suppe zum Mittag gegeben.“
„Was ich mir hier immer anhören muss! Dann koch doch selber! Immer am sticheln, dein Vater, er ist unmöglich!“, rief Claudia.
Der Dackel hatte währenddessen beschlossen, sich vor Falk auf den Boden zu setzten und ihn anzubellen.
„Romeo, aus!“, brüllte Falks Mutter, was der Hund nicht weiter zur Kenntnis nahm und Claudia offenbar auch gar nicht erwartete, denn, geschäftig an Falk gewandt, sagte sie:
„Na gut, komm jetzt erst mal rein. Mittag gibt’s um halb eins, aber du kannst dir ein Brot machen so lange. Weißt ja, wo alles steht.“
Klaus und der Hund verschwanden ins Wohnzimmer, wo der Fernseher lief, während Falk Richtung Küche ging und seine Mutter ihm dicht auf den Fersen folgte. Sie wendete sich einem Holzbrettchen auf der Arbeitsfläche zu, wo sie dabei war, Zwiebeln zu schneiden.
„Es gibt Zucchini und Gehacktes. Dein Lieblingsessen.“, sagte sie über die Schulter. „Und einen Kuchen hab ich grad in die Röhre geschoben.“
Falk warf einen Blick in den Ofen, wo ein ganzes Blech mit russischem Zupfkuchen bereits zu duften begann, dann holte er sich zufrieden einen Teller und ein Messer aus dem Schrank, ein nicht mehr ganz frisches Mischbrot aus dem Kasten, sowie Margarine, Teewurst und Scheibenkäse aus dem Kühlschrank.
Die Küche war so klein, dass kein Platz für einen Esstisch war. Dieser stand im Wohnzimmer, zusammen mit einer gepolsterten Eckbank. Auf der Anrichte an der Wand waren zahlreiche eingerahmte Fotos aufgestellt, zwischen Plastikgrünpflanzen, Stapeln alter Zeitschriften und getöpferten Kunstwerken aus der Schule, noch von ihm und seiner Schwester.
Hinter den Glastüren der Anrichte wurden die Gläser und das gute Geschirr aufbewahrt. Falk holte sich sein Glas aus Kindheitstagen, mit der aufgedruckten Biene Maja, aus dem Schrank, schenke sich einen Saft ein und setzte sich an den Tisch. Er konnte seine Mutter von hier aus in der Küche werkeln hören. Zwei Türen am anderen Ende des Flurs führten in die ehemaligen Kinderzimmer; sie wurden heute als Abstellkammer und Gästezimmer genutzt. Gleich links neben der Eingangstür befand sich das Schlafzimmer der Eltern.
Der Grundriss der Wohnungen hier in den Neubauten war immer gleich, der einzige Unterschied war die Spiegelung jeweils der beiden Wohnungen auf einer Etage. Früher hatte Falk geglaubt, das wäre überall so, und wenn er eines der Nachbarskinder besucht hatte, waren es die vielen kleinen persönlichen Habseligkeiten in den Wohnungen gewesen, vor allem aber die anderen Gerüche und die anderen Stimmen, die jede Wohnung einzigartig gemacht hatten. Über die Jahre hatten die Nachbarn nach und nach ihre Wohnungen renoviert, neue Küchen eingebaut, neue Möbel gekauft, neues Geschirr und neue Vorhänge, doch bei seinen Eltern war alles so geblieben wie immer.
Er schmierte sich eine Stulle von dem altbackenen Mischbrot und betrachtete die gerahmten Fotos. Es gab ein Schwarzweißbild von ihm als Kind, im gestreiften Strampler, bei seiner Schwester auf dem Schoß. Ein vergilbtes Foto der ganzen Familie hing daneben; sein Vater hatte eine ziemlich kurze Jeanshose an und alle hielten ein großes Softeis in der Hand – es musste im Urlaub an der Ostsee entstanden sein. Da war ein streng wirkendes Porträt von Klaus’ Mutter, die sehr früh gestorben war – Falk hatte diese Oma nie kennen gelernt. Und natürlich das Hochzeitsbild seiner Eltern. Claudia regte sich immer noch über die aufgetürmte, wuschelige Dauerwelle auf, die sie damals getragen hatte. Aber sie sei ja noch in der Ausbildung gewesen, wie sie dann immer gleich hinzuzufügen pflegte.
Im Laufe der Jahre waren neuere Fotos dazu gekommen.