Rasch hatte sich als Tatsache herausgestellt, was er sofort geahnt hatte: die tote Frau, von der Caro erzählt hatte, war natürlich jene, die dort gefunden worden war, wo Falk und Robs den Lederbeutel mit dem Schwert entwendet hatten: in dem alten Holzhaus am Weg zum Fuchsturm. Caro hatte von ihrem Kollegen beim Radio eine ziemlich genaue Beschreibung des Fundorts der Leiche bekommen, und Falk, beunruhigt nachfragend, war es eiskalt den Rücken herunter gelaufen, als sie davon berichtete: ein verfallenes Holzhaus sei es gewesen, mitten im Wald unterhalb des Fuchsturms, offensichtlich seit Jahren leerstehend und nur von Pennern als Unterschlupf genutzt. Sie hatte sogar gefragt, ob er es kennen würde! Herumdrucksend hatte er gemurmelt, er wäre mal daran vorbei gelaufen, und war heilfroh gewesen, als sie nicht weiter darauf eingegangen war.
Sie hatten sich dann auf den Rückweg zur Wiese gemacht, und als sie sich den im Dunkeln vereinzelt flackernden Lagerfeuern näherten und Falk weiter hinten das rotierende blaue Licht eines Polizeiwagens ausgemacht hatte, war er für einen Moment überzeugt gewesen, nun festgenommen zu werden.
Stattdessen jedoch waren die Polizisten offenbar dort gewesen, um auf dem Parkplatz, wo mittlerweile mehrere Autos mit offenem Kofferraum und dröhnendem Bass aufgetaucht waren, nach dem Rechten zu sehen, und Falk hatte gar keine Zeit gehabt, erleichtert zu sein, denn als sie zu der Stelle kamen, wo sie vorhin gemeinsam mit den anderen gegrillt hatten, war zwischen Konrad und Jana ein Streit im vollen Gange gewesen, der Langhaarige hatte sich auf der Decke zusammengerollt, überall waren leere Bierflaschen und Müll verstreut gewesen, der Grill war umgeschmissen worden und verglühende Kohlen hatten sich im feuchten Gras verteilt.
Caro hatte sich daraufhin mit einem bedauernden Blick auf das Chaos zügig auf den Heimweg gemacht, und Falk hatte begonnen, seine Sachen zusammen zu packen und eine Plastiktüte mit Abfall zu füllen. Von irgendwoher war dann Micha wieder aufgetaucht, bester Dinge und mit mehreren neuen Telefonnummern im Handy.
Gemeinsam liefen Falk und Micha nun durch den dunklen Park, am Bahndamm entlang. In einigen hundert Metern lag der Paradies-Bahnhof hell erleuchtet. Gerade fuhr ein verspäteter ICE auf der Strecke zwischen Berlin und München ein. Falk dachte kurz an den Fußball, der vor einigen Monaten mal oben auf dem Dach über den Gleisen gelandet war. Michas Stimme neben ihm drang wie von weit her in sein Bewusstsein, er telefonierte offenbar mit irgendwem. Falk hatte Zeit zum Nachdenken.
Marie von Flotow, wiederholte er in Gedanken, Marie von Flotow, geborene Leuchtenburg. Abgehoben klang das, unwirklich. An den Brief dachte er auch, auf dem es gestanden hatte: ‚Für Mark von Marie’. Die Familie der Leuchtenburger hatte laut Caro seit Jahrhunderten geschäftliche Beziehungen mit den Argots. Gab es vielleicht einen Mark Argot? War der Brief für einen Mark Argot bestimmt? Der alte Goldschmied selber jedenfalls hieß Franz, das hatte Falk von Caro erfahren.
Auch wenn alles auf einen Unfall hindeutete, gebe es noch keine sicheren Erkenntnisse zu den Todesumständen, hatte sie außerdem erzählt, schließlich sei die Tote ja erst gestern gefunden worden.
Und vorgestern Nacht war er mit Robs in dem Haus gewesen, hatte Falk gedacht. War die alte Marie von Flotow da tatsächlich schon im Haus gewesen? Hatte sie das Geräusch, das er aus dem Obergeschoss zu hören geglaubt hatte, verursacht? Aber warum hatte sie im Dunkeln dort oben gesessen? Hatte sie auf Mark gewartet? Was war geschehen, nachdem er und Robs sich mitsamt dem Schwert aus dem Staub gemacht hatten?
Falk hörte Micha telefonieren, ohne zu verstehen, was er sagte, wie durch eine Watteschicht. Sie hatten den Park mittlerweile durch eine Unterführung unter den Bahnschienen verlassen, und folgten der menschenleeren nächtlichen Neugasse in Richtung Markt.
Immer wieder kehrten Falks Gedanken zu Carolina Schubert und ihrem Interview mit Argot zurück. Angenommen, der alte Schmied bekäme das Schwert zu sehen – was er wohl sagen würde, zu seinem eigenen Zeichen, dort eingraviert auf der Klinge? Und ob er wohl wissen würde, was das zweite Zeichen zu bedeuten haben könnte, gleich darunter?
Falk schüttelte unwillig den Kopf: selbstverständlich war es ausgeschlossen, dem Schmied das Schwert zu zeigen. Denn dann wäre auch eine Erklärung nötig, wo es herstammte. Aber dennoch: dieses Interview, das Caro mit Franz Argot führen wollte, wäre eine ideale Gelegenheit, mehr über die Vorfahren des Goldschmieds zu erfahren, die wiederum vielleicht das Schwert geschmiedet hatten, was nun bei ihm, Falk, zu Hause gelandet war.
Er seufzte. Das Problem an der Sache war, dass er hierfür Caro würde einweihen müssen. Was genauso ausgeschlossen war, wie Schmied Argot selbst einzuweihen. Vermutlich würde sie ihn für einen Dieb oder Schlimmeres halten, wenn er ihr von den seltsamen Umständen erzählte, welche die Besitztümer der toten Adligen zu ihm geführt hatten.
Und obwohl Falk der Kopf schwirrte, obwohl er schon lange nicht mehr so viele Neuigkeiten auf einmal hatte verdauen müssen und er schon lange nicht mehr eine Frau wie Caro kennen gelernt hatte, die ihn so, ja, er konnte noch nicht einmal genau sagen, was sie eigentlich bei ihm bewirkte, trotz allem verspürte er einen gewissen Stolz. Stolz auf den Plan, der ihm, ganz spontan, noch als sie gemeinsam auf der Brücke im Park gestanden hatten, in den Sinn gekommen war:
Da war Caro nämlich dabei gewesen, von zahlreichen weiteren Thüringer Grafengeschlechtern zu erzählen, was sie direkt zu Herrschaftsformen im Mittelalter und von dort aus über den Umweg klösterlicher Besitzungen im Raum Jena zu den modischen Vorlieben adliger Burgdamen gebracht hatte, so dass Falk immer mehr Mühe gehabt hatte, ihr zu folgen, es aber schließlich irgendwie geschafft hatte, ihre Aufmerksamkeit auf den Fluss zu ihren Füßen unter der Brücke zu lenken, um sogleich, ohne sie noch mal zu Wort kommen zu lassen, das Schlauchboot zu erwähnen, welches bei seinen Eltern im Keller liegen würde, und ob sie nicht nächste Woche mal Lust hätte auf eine kleine Paddeltour auf der Saale?
Caro hatte daraufhin ihr spöttisches Lächeln aufblitzen lassen, mit den Schultern gezuckt und geantwortet, dass sie sich schon die ganze Zeit gefragt habe, wann er das endlich vorschlagen würde! Sie hatten ihre Handy-Nummern ausgetauscht, sich für den kommenden Dienstagnachmittag verabredet und Falk hatte, als er den Termin in seinem Handy speicherte, das beruhigende Gefühl gehabt, wieder einigermaßen die Kontrolle über die Dinge gewonnen zu haben.
Am Marktplatz wurde Falk bewusst, dass Micha schon seit einer Weile nicht mehr telefonierte, und schweigend neben ihm ging. Unvermittelt fragte sein Freund:
„Sag mal, wer war eigentlich das dünne Mädel, mit dem du dich da vorhin die ganze Zeit unterhalten hast?“
„Die vom OKJ, von der ich dir erzählt habe.“, sagte Falk.
„Ist ganz süß. Schade, dass sie ständig am qualmen ist. Das ist doch sonst so gar nicht dein Fall.“
Falk überlegte, ob er seinem Freund erzählen sollte, warum er an Carolina Schubert interessiert war. Doch da er dann über kurz oder lang auch das Schwert hätte erwähnen müssen, und die tote Frau, und dass er überhaupt keine Ahnung hatte, wie das alles zusammenhing, dauerte seine Überlegung nicht lange an. Er entschied sich dagegen.
Tag 4, Sonntag
Am Sonntag wachte Falk gegen zehn bei Micha auf der Couch auf. Nachdem sie gestern Nacht noch stundenlang uralte Computerspiele gezockt hatten, war es Micha nicht schwer gefallen, Falk davon zu überzeugen, dass es Quatsch sei, jetzt noch den ganzen Steinborn hoch zu sich nach Hause zu radeln. Dann würde halt ausnahmsweise mal keine schöne Frau, sondern nur eine alte Stinksocke bei ihm pennen, hatte Micha noch bemerkt, und Falk einen Schlafsack hingeworfen.
Und das wiederum konnte erst ein paar Stunden her sein, dachte Falk gähnend. Dann fiel ihm plötzlich auf, dass Sonntag war. Sonntag, das bedeutete Mittagessen bei seinen Eltern! Er raffte sich auf, mit pelzigen Geschmack im Mund, und tappte zum einzigen Fenster im Zimmer, wo eine alte Wolldecke als Vorhang funkierte. Er zog sie beiseite und warf einen Blick nach draußen, in den Hinterhof. Unten stapelten sich neben den Mülltonnen große blaue Säcke mit Abfällen aus dem indischen Restaurant, oben war der Himmel weiß wie wässrige Milch.
Micha