Zwielicht Classic 12. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745013085
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Kiefernstämmen und geduckten Eichbüschen schimmerte grauer Fels. Sang da jemand? Sie kannte die Melodie: Liliths Lied. Eine seltsame Scheu, weiterzugehen und sie zu überraschen, hinderte Beckys Schritte.

      Da plötzlich, eine Bewegung vor ihr, etwas Weißes huschte an den dunklen, flechtenbedeckten Steinen vorbei, wieder eins, dann ein weiteres. Weiße Stofffetzen, die zu tanzen schienen. Becky hielt den Atem an, behutsam setzte sie einen Fuß vor den anderen. Je mehr sie sich dem inneren Kreis der Bäume um die kleine Lichtung näherte, umso klarer geriet das Schauspiel. Was sie anfangs für Tücher oder Nebelfetzen gehalten hatte, entpuppte sich als weiß gekleidete Gestalten, die im wogenden, gleitenden Reigen die urzeitliche Begräbnisstätte umschwebten. Ihre Füße berührten den Boden, streiften die Spitzen der langen Halme, ohne ein Geräusch zu verursachen oder Abdrücke zu hinterlassen. Die gespenstische Gesellschaft bestand ausnahmslos aus Frauen und Kindern, vom Säugling bis zum Teenager. Sie alle tanzten zu der Melodie, die Isabell so zuverlässig beruhigt hatte.

      Auf dem oberen, flachen Stein des Hünengrabes saß Lilith und sang die schwermütige Weise, die in der stillen Luft schwebte und den Hain erfüllte. Doch statt zu summen formte sie Worte, eigenartige, mal kehlige, mal zischende Laute in einer fremdartigen Sprache.

      Becky hatte den Eindruck, sich in einem Traum zu befinden, ihre Angst verflüchtigte sich und wich einem Gefühl von Ehrfurcht. Es ging keine Bedrohung von den Tanzenden aus; auf ihren Gesichtern lag ein friedvoller Zug, gemischt mit sanfter Trauer, der Rebekka seltsam anrührte.

      Ihre Anwesenheit blieb nicht unbemerkt. Bleiche Gesichter wandten sich ihr zu, durchscheinende Hände und Arme streckten sich nach ihr aus. „Komm zu uns“, raunten sie, als Becky auf die Lichtung trat, „wir haben auf dich gewartet.“

      „Wo ist dein Kind?“ Eine Frau mit zwei Babys auf dem Arm und einem weiteren im Tragetuch auf dem Rücken verharrte vor ihr, betrachtete sie mit blassem, wehmütigem Blick. „Ich wollte es nicht tun, aber er hat sie nicht haben wollen“, flüsterte sie.

      „… aber es hat so furchtbar geschrien, immer nur geschrien …“ Ein junges Mädchen, selbst noch ein halbes Kind, glitt an Becky vorbei, drückte ein Bündel an sich, aus dem ein winziger Fuß ragte.

      „Alles war immer nur zu seinem Besten“, hauchte eine andere, die einen Jungen im Grundschulalter an der Hand hielt. „Ich wollte ihm nicht wehtun.“

      „Es war nicht meine Schuld …“, sagte eine große Frau mit verbittertem Gesicht und strengem Dutt.

      „… nicht meine Schuld“, echote eine andere, deren kleines Mädchen auf der Wiese umhertollte und aussah, als würde es Gänseblümchen pflücken – doch seine Hände griffen ins Leere.

      „Nicht unsere Schuld“, wisperte der Chor der Geisterfrauen und alle Blicke richteten sich auf Rebekka. Die Kinder blickten zu ihren Müttern auf, fassten sie an den Händen und lachten. Ein helles, fröhliches Lachen, das für einen Augenblick sogar den Gesang übertönte. Becky schaute Lilith an, die sie aus silbern-schwarzen Augen musterte.

      Bleib bei uns. Deine Schuld wird dir vergeben sein.

      Becky schauderte. Dies alles waren Kindsmörderinnen. Jede einzelne hatte ihr eigen Fleisch und Blut umgebracht, manche kaum dass sie es zur Welt gebracht hatte, andere nach Jahren, aufgrund irgendeiner persönlichen Katastrophe, die ihnen den Verstand geraubt, ihre mütterlichen Gefühle grotesk verdreht und ins Gegenteil verkehrt hatte. „Ich gehöre nicht zu euch“, keuchte sie. „Ich liebe meine Tochter. Nie könnte ich ihr etwas antun!“

      Sie drehte sich um und lief, fort von den toten Müttern und Kindern, fort von Lilith, fort von deren einlullendem Singsang. Als Becky aus dem Wäldchen hervor ins Sonnenlicht stürzte, erinnerte sie sich an das Babyfon, das sie die ganze Zeit fest umklammert hatte. Ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie die rote Anzeige sah: kein Empfang. Viel zu weit war sie von zu Hause entfernt … Aber vorhin hatte das Signal anders ausgesehen, das hätte sie schwören können. Eilends verfolgte sie den Weg zurück, schluchzte, zitterte. Isabell. Bestimmt schläft sie noch, versuchte sie sich zu beruhigen, aber tief im Innern ahnte sie die grausame Wahrheit. Sie war weggelockt worden. Etwas Furchtbares war ihrer Tochter zugestoßen und sie trug die Schuld daran.

      Das Blut rauschte in ihren Ohren, als sie endlich in ihre Straße einbog. Eine Nachbarin rief etwas, aber Rebekka blieb nicht stehen. Vor dem Grundstück parkte Konrads Auto. „Oh Gott“, stöhnte Becky. Mit fliegenden Händen steckte sie den Schlüssel ins Schloss, schob die Tür auf und huschte hinein. Von oben hörte sie Konrads Stimme, der Isabells Namen rief. Die Treppe dehnte sich endlos. Als Becky ins Kinderzimmer trat, stand ihr Mann vor dem Wickeltisch, damit beschäftigt, Isa anzuziehen. Rebekka schluchzte vor Erleichterung auf. Als Konrad es hörte, fuhr er herum, weiß im Gesicht.

      „Wo bist du gewesen?“ Seine Stimme bebte.

      Unfähig zu sprechen trat Becky an den Tisch heran, riss Isabell hoch und bedeckte sie mit Küssen. Schlaff hing der Körper in ihren Armen. Als das Mädchen ihre Stimme hörte, öffneten sich seine Augen einen Spalt, um gleich wieder zuzufallen.

      Mit grimmigem Gesichtsausdruck nahm Konrad ihr das Kind ab und legte es ins Bettchen. Anschließend drängte er Becky aus dem Zimmer und schloss die Tür. Ein Schlag traf sie, gepaart mit einem klatschenden Geräusch. Sie registrierte es kaum. „Wo bist du gewesen?“, wiederholte er seine Frage, jähe Wut färbte seine Wangen rot. „Ich komme nach Hause und wer ist nicht da? Meine Frau. Während meine Tochter in ihrem Bett liegt und schläft wie eine Tote. Sie hat kaum reagiert, nicht einmal, als ich ihre durchnässte Windel gewechselt habe! Dabei muss sie höllische Schmerzen haben, so rot und entzündet, wie alles ist!“

      „Ich … ich habe einen Spaziergang gemacht“, stotterte sie. Ihre linke Wange brannte. „Sie war nur ganz kurz allein.“

      Konrad packte ihren Arm so fest, dass es wehtat. Becky, die ihren Mann um volle zwei Zentimeter überragte, schrumpfte neben ihm zusammen; am liebsten hätte sie sich in eine Ecke verkrochen.

      „Lüg mich nicht an!“ Er sah ihr in die Augen und Becky hatte das Gefühl, vor einem Fremden zu stehen. Noch nie hatte sie ihn so wütend erlebt. Und sie verstand ihn, es war sein Recht, wütend auf sie zu sein. Niemals hätte sie tun dürfen, was sie getan hatte, niemals wieder würde sie sich im Umgang mit Isa einen solchen Fehler zuschulden kommen lassen! Sie würde Lilith kein weiteres Mal die Tür öffnen.

      „Verzeih mir“, flüsterte sie.

      „Ich fahre mit Isabell zum Arzt, etwas stimmt nicht mit ihr“, sagte Konrad. „Damit meine ich nicht nur die Schläfrigkeit.“

      „Der Ausschlag, ja“, begann Becky, „aber mehr als eincremen …“

      „Eincremen nennst du das!“ Er ließ sie stehen und ging zurück ins Kinderzimmer, wo er die oberste Schublade des Wickeltisches aufzog und etwas hervorkramte, um es ihr unter die Nase zu halten. Zitronenduft stieg daraus auf. Verständnislos betrachtete Becky die Flasche Scheuermilch. „Das hier benutzt du zum Eincremen! Ich habe Reste davon in der vollen Windel gefunden … und nicht nur dort …“ Er schien kurz davor, noch einmal zuzuschlagen, doch er beherrschte sich. Tränen glitzerten in seinen Augen. Sie blickten einander an und Becky spürte, wie etwas zerbrach.

      „Das kann nicht sein“, flüsterte sie. „Das muss Lilith gewesen sein.“

      Beim Klang des Namens regte sich Isabell in ihrem Bettchen. „Li-lith“, murmelte sie.

      „Hör mir auf mit diesem angeblichen Kindermädchen!“, fauchte Konrad und riss Isabell an sich. „Ich habe mich in den letzten Tagen ein bisschen umgehört. Niemand von unseren Nachbarn hat etwas von Liliths Besuchen mitbekommen. Und zumindest die alte Gäbsch ist immer im Garten.“

      Becky schüttelte den Kopf, ihre Gedanken überschlugen sich. Wo zum Teufel hatte sie das Papier hingelegt, auf das Lilith ihren Namen geschrieben hatte? „Du hast sie dir eingebildet, Rebekka“, sagte ihr Mann etwas ruhiger. „Irgendwie hast du es geschafft, Isabell mit deiner fixen Idee anzustecken. Wahrscheinlich hat sie dir bei deiner Pinselei zugeschaut und du hast ihr diesen Namen eingetrichtert … Ich fahre jetzt