Zwielicht Classic 12. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745013085
Скачать книгу
nein“, rief Becky und griff nach einem geeigneteren Lappen. „Ich mach das schon.“ Warum bloß hatte Isa sich schon wieder übergeben? Vor dem Essen hatte sie ihr eine kleine Portion Milch gegeben … Hatte sie die vielleicht nicht vertragen?

      „Malst du wieder?“, fragte Konrad und zeigte auf die verhängte Staffelei.

      „Ein bisschen“, sagte Becky schnell. „Es ist noch nicht fertig.“ Bevor sie protestieren konnte, hatte er das Tuch fortgezogen und musterte das Gemälde.

      „Nicht schlecht“, sagte er anerkennend. „Hübsch. Jemand, den wir kennen?“

      Isabell quietschte erfreut. Sie drängte sich an ihrem Vater vorbei und streckte die Ärmchen nach dem Bild aus. „Li-lith“, sagte sie, über das ganze Gesicht strahlend. Rebekka fühlte, wie ihr Herzschlag einen Moment aussetzte.

      Verblüfft schaute Konrad sie an. „Du sprichst ja, Sonnenschein! Sag doch noch einmal etwas für Papi.“ Er kniete sich vor das Mädchen. „Sag Pa-pa.“

      Isabell kicherte und zeigte nach oben. „Li-lith.“ Sie klatschte in die Hände, begeistert von dem ersten Wort, das klar und deutlich über ihre Lippen kam. „Lilith, Lilith, Lilith …“, sang sie.

      „Hat sie schon früher gesprochen?“ Konrad war aufgestanden und sah stirnrunzelnd zu Becky hinüber.

      „Nein, das ist ihr erstes Wort.“ Sie lächelte; es fühlte sich aufgesetzt an.

      „Aha.“ Konrad wandte sich der Staffelei zu. Er fuhr mit dem Finger über die langen Haare der Frau auf dem Portrait. Die Farbe war noch nicht ganz getrocknet, schwarze Spuren blieben an den Fingerkuppen haften. „Lilith. Nicht Mama oder Papa, sondern Lilith. Wer ist das?“

      „Unser neues Kindermädchen“, gab Becky widerstrebend zu.

      „Wieso erfahre ich das erst jetzt? Seit wann kommt diese Lilith denn?“ Konrad betrachtete das unvollendete Portrait mit wachsendem Interesse. Von den Augen hatte Becky bisher nur die Konturen gemalt, weil sie sich nicht sicher war, welche Farbe – und welchen Ausdruck – sie schließlich bekommen sollten.

      „Seit Montag“, sagte sie zögernd. „Ich habe sie erstmal zur Probe eingestellt.“

      „Woher kennst du sie? Hat sie Erfahrung?“ Konrads Blick hing noch immer an dem Bild, über das Becky nun wieder das Tuch breitete.

      „Eine Mutter aus der Krabbelgruppe hat sie mir empfohlen“, sagte sie. „Isa himmelt sie an. Sie ist sofort ruhig, sobald sie Lilith sieht, selbst während des schlimmsten Trotzanfalls.“ Rebekka fühlte sich unbehaglich und das nicht nur, weil sie gezwungen war zu schwindeln. Wie eigenartig, dass Isabell zuerst den Namen des Kindermädchens gelernt hatte … Aber vermutlich lag das an Sätzen wie „bald kommt Lilith“ oder „nicht weinen, denk an Lilith“, die sie selbst häufig benutzte. Möglicherweise war sie auch einfach ein bisschen eifersüchtig. Sie hob Isabell hoch und schob sich an ihrem Mann vorbei aus dem Raum.

      Konrad gab er ihr einen Klaps auf den Po. „Wenn Lilith meinen Frauen guttut, freut mich das natürlich. Vielleicht lerne ich sie demnächst auch mal kennen.“

      Der Sekundenzeiger der Küchenuhr kroch in Zeitlupe über das Zifferblatt, als scheue er sich, seinen trägen Geschwistern vorauszueilen. Noch eine volle Stunde bis zu der Zeit, wo Lilith für gewöhnlich eintraf. Angst machte sich in Rebekka breit, Angst, dass ihre außergewöhnliche Kinderfrau vielleicht nicht mehr auftauchen würde. Seit dem Erwachen quengelte und brüllte Isabell abwechselnd. Das Fieberthermometer hatte nur leicht erhöhte Temperatur gezeigt und auch sonst schien mit dem Kind körperlich alles in Ordnung zu sein, abgesehen von dem Ausschlag, der sich erneut verschlimmert hatte. Was konnte Becky anderes tun, als regelmäßig zu wickeln, die gerötete, schuppende Haut sorgfältig zu säubern und behutsam die vom Arzt verschriebene Salbe auf das rohe Fleisch zu streichen? Jedes Mal kamen ihr die Tränen, wenn sie sah, wie sehr ihr Töchterchen litt. Und seit Konrad vorgestern darauf bestanden hatte, Lilith persönlich in Augenschein zu nehmen, fühlte Rebekka sich zusätzlich unter Druck gesetzt. Jeder ihrer Versuche, mit Lilith zu verhandeln, war ins Leere gelaufen: Die stumme Frau hatte das angebotene Schreibzeug kein zweites Mal genommen. Natürlich könnte sie ihre weitere Hilfe ablehnen, so ganz ohne Vereinbarung, ohne Personalien, aber was dann? Was, wenn Lilith einfach wegbliebe? Was sollte sie ohne ihren Zaubergesang machen, wenn Isa schrie und schrie und sich durch nichts beruhigen ließ? Immer wieder plapperte sie den Namen ihrer großen Freundin – nach wie vor das einzige Wort, das über ihre Lippen kam.

      Endlich, das erlösende Klingeln. „Lilith“, begrüßte Rebekka sie erleichtert, „wie schön, dass Sie da sind.“ Sie ließ Lilith an sich vorbei zu Isabell, deren Schreien mit dem Geräusch der Türglocke abgebrochen war.

      „Mein Mann würde Sie gern einmal kennenlernen“, sagte Rebekka, als Lilith und sie eine Viertelstunde später die Treppe hinuntergingen. „Er kommt heute extra früher nach Hause, gegen drei. Können Sie nicht ausnahmsweise solange bleiben? Ich mache uns einen Kaffee und zeige Ihnen Isabells Fotoalbum.“

      Liliths weiße Finger legten sich auf die Türklinke. „Bitte“, flehte Rebekka. „Oder nächste Woche, schreiben Sie mir auf, wann es Ihnen passt.“ Lilith schüttelte Rebekkas Hand von ihrem Arm ab und öffnete die Tür. Becky biss sich auf die Lippen. Was sollte sie Konrad sagen? Dass ihr Babysitter kein Interesse an einer persönlichen Vorstellung hatte? Sie lauschte nach oben, dann schnappte sie sich das Babyfon und eilte Lilith nach, die am Ende der Straße eben in den Fußweg abbog, der aus der Siedlung hinausführte.

      Hinter den letzten Gärten tat sich die weite, offene Landschaft mit ihren sandigen Hügeln und den unzähligen Wacholderbüschen auf. Wenn im August die Heide blühte, zog es zahlreiche Touristen hierher; jetzt, im Frühsommer, wurden die Wege fast ausschließlich von Einheimischen benutzt. In der Ferne verschwand die dunkle Gestalt Liliths hinter einer kleinen Erhebung, um gleich darauf ein Stück weiter östlich wiederaufzutauchen. Wohin ging sie? Während Rebekka ihr folgte, schaute sie immer wieder auf die Anzeige des leistungsstarken Babyfons, und wie erhofft blieb alles ruhig. An der nächsten Weggabelung wurde ihr klar, dass Lilith nicht in Richtung eines der Nachbardörfer ging, sondern tiefer hinein in die Heide. Wie weit würde der Empfang reichen? Noch leuchtete das Display grün. Außerdem schlummerte Isa nach jedem von Liliths Besuchen mindestens zwei Stunden; meist musste sie sie sogar wecken, damit sie abends in den Schlaf fand. Warum also nicht ein Stück weitergehen, den sanft ansteigenden, sonnenbeschienenen Hügel hinauf?

      Die milde Luft duftete herrlich, leiser Wind umschmeichelte Rebekkas Wangen. Aus dem Moor drang das klare Trillern der Brachvögel, hin und wieder charakteristisches Kollern streitender Birkhähne, darunter mischte sich der Schrei eines Reihers. Auf ihren Spaziergängen mit Isa hatte sie die Geräusche der Natur nie so deutlich wahrgenommen. Immer war sie voll und ganz auf das Kind konzentriert gewesen, wenn es lachend an ihrer Hand mitstapfte, Worte in einer geheimen Sprache plappernd, oder – was häufiger der Fall war – sich weinend und nörgelnd im Sitz des Buggys wand.

      Auf der Hügelkuppe schwenkte der Sandweg nach links, doch von Lilith war weit und breit nichts zu sehen. Geradeaus führte ein halb von Heidekraut überwucherter Pfad abwärts, hin zu einer Senke mit einer Ansammlung von Kiefern und niedrigen Laubbäumen. Nur dorthin konnte sie gegangen sein. Ein Frösteln überlief Becky, als sie die sonnenabgewandte Seite des Hügels betrat. Der Hang war übersät mit Felsbrocken, die an umgestürzte Grabsteine denken ließen, klein wie die von Kindergräbern. Konrad hatte einmal von einem Hünengrab in der Nähe erzählt … Was tat Lilith dort? Die Neugier trieb Rebekka weiter.

      Gedämpftes Licht fiel durchs Blätterdach, zeichnete Muster auf weichen, federnden Boden. Rund um die Kiefern, die Geruch nach Harz verströmten, war er mit Nadeln bedeckt; auf den freien Flächen wuchs saftig grünes Gras, das gemeinsam mit dem Moos Polster bildete, wie Kissen, die zum Hineinsinken und Träumen einluden. Stille herrschte. Wo Sonnenstrahlen den Untergrund trafen, funkelten winzige Wassertröpfchen wie kostbare Edelsteine. Vereinzelt wuchsen die miteinander verbundenen Stämme von Stühbusch-Eichen. Rebekka wusste, dass die bizarren Formen entstanden waren, weil die Eichen in früheren Zeiten gefällt wurden,