Zwielicht Classic 12. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745013085
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über meine und Alex’ Welt ausgeschüttet hat. Tja, nun bin ich am Zug.

      Ein letztes Mal überprüfe ich den Sitz meines Revolvers. Entsichert und ungeduldig klemmt er fest in meinem Hosenbund. Den Rucksack lasse ich von meiner Schulter gleiten und werfe ihn in den Graben. Unnötiges Gepäck, für das ich womöglich keine Verwendung mehr haben werde.

      Ich setze mich wieder in Bewegung. Gut möglich, dass das Teufelchen von vorhin Recht gehabt hat. Vielleicht ist dies in der Tat eine Reise ohne Wiederkehr.

      Man wird sehen.

      „Vielleicht hätten wir Diana doch behalten sollen.“ Konrads verständnisvoller Tonfall täuschte nicht über den mitschwingenden Vorwurf hinweg. „Sie konnte gut mit Isabell umgehen und teuer war sie auch nicht.“

      „Nein, war sie nicht“, sagte Becky. Eher das Gegenteil. Herrgott, Konrad hielt immer noch große Stücke auf die kleine Schlampe, wie Becky sie insgeheim nannte. Zugegeben, Diana hatte ihre Sache nicht schlecht gemacht. War ja auch das Mindeste, als angehende Erzieherin … Alles, was die Neunzehnjährige tat, hatte professionell gewirkt, egal ob sie Isabell die Windeln wechselte oder unverblümt mit Rebekkas Ehemann flirtete. Immer hatte sie bauchfreie Tops zu knallengen Jeans oder Miniröcken getragen, die ihre umwerfende Figur perfekt in Szene setzten. Konrads Gesichtsausdruck, wenn er Diana beobachtete, war für Becky verletzender gewesen als das Gehabe des Kindermädchens, neben dem sie sich wie ein ungestalter Trampel vorkam, mit ihren stämmigen knapp einen Meter achtzig.

      Das Fass zum Überlaufen gebracht hatte jedoch Dianas Bemerkung, Becky gehöre wohl zu den Frauen, denen es schwer fiele, nach dem Kinderkriegen ihre alte Form zurückzugewinnen. „Aber das ist ja nicht schlimm“, hatte sie weitergeplappert. „Sie sind verheiratet, da macht es nichts, wenn Sie sich ein bisschen gehenlassen. Obwohl …“ An diesem Punkt hatte sie eine besorgte Miene aufgesetzt, die Becky als pure Häme entlarvte. „Nicht dass er eines Tages auf die Idee kommt, sich mehr als nur seinen Appetit woanders zu holen.“ Daraufhin hatte Becky sehr freundlich zu Diana gesagt, sie möge sich zukünftig einen unverheirateten Mann suchen, dem könne sie dann ihr komplettes Spektrum an Dienstleistungen anbieten.

      „Hauptsache, du merkst, wenn du überfordert bist“, unterbrach Konrad ihre missliebigen Erinnerungen. „So etwas wie gestern darf nicht noch einmal vorkommen.“

      „Wird es nicht“, versicherte Becky. „Aber der Unfall hatte nichts mit Überforderung zu tun; er hätte genauso passieren können, als Diana noch bei uns war.“ Hätte … wäre aber wahrscheinlich nicht, gestand sie sich im Stillen ein. Sie verfluchte ihren Leichtsinn. Es war dumm gewesen, den feuchten Lappen aus dem Badezimmer zu holen. Sie hatte die Bescherung abwaschen wollen, die sich aus der Windel über den gesamten Rücken des Kindes verteilt hatte. Während im Bad das warme Wasser über ihre Hände lief, hatte sie von nebenan einen dumpfen Aufprall gehört und sofort gewusst, was passiert war. Eine Sekunde später hatte Isa zu kreischen begonnen, das schrille Echo hallte immer noch in Beckys Ohren.

      „Du musst es ja wissen“, sagte Konrad und schaute auf die Uhr. „Wo bleibt eigentlich der Arzt?“

      Isa quengelte. Rebekka setzte sie von ihrem Schoß auf den Boden und tappte mit ihr durchs Sprechzimmer, die kleine Hand fest in der ihren. Ob sie sich nach einem neuen Babysitter umschauen sollte? Ihr behagte der Gedanke nicht, Isa fremden Händen zu überlassen. Aus diesem Grund wäre ihr auch nie in den Sinn gekommen, sie in eine Krippe zu geben. Dass ihr Muttersein untrennbar verbunden war mit der Bereitschaft, sich aufzuopfern, wusste sie, seit sich ihr kleiner blonder Engel nach den ersten Wochen als Schreibaby entpuppt hatte. Auch jetzt, da Isas zweiter Geburtstag heranrückte, hatte sich das Problem beileibe nicht ausgewachsen. Im Gegenteil, Isas Infektanfälligkeit und die häufigen Stürze, die jedoch gottlob immer harmlos verlaufen waren, bescherten Rebekka mehr Zeit in Wartezimmern als in ihrem gesamten bisherigen Leben. Hinzu kam Isas verzögerte Sprachentwicklung: Aus dem Lallen und Prusten ein richtiges Wort herauszuhören, wollte Becky bei aller Mutterliebe bisher nicht gelingen.

      Endlich, eine geschlagene Stunde nach Ende der Abschlussuntersuchung, ging die Tür auf und der Stationsarzt trat ein. „Familie Koch, hallo. Sie können Isabell mitnehmen, ihr fehlt nichts. Achten Sie in den nächsten ein, zwei Tagen noch darauf, ob sie sich irgendwie anders verhält. Und …“ Er warf Rebekka einen strengen Blick zu. „… lassen Sie sie nie aus den Augen, in dem Alter sind Kinder unberechenbar.“

      „Natürlich.“ Becky schlug die Augen nieder.

      „Ich unterstütze meine Frau, wo ich kann“, rechtfertigte sich Konrad. „Aber ich bin ja nur abends und am Wochenende zu Hause, Sie wissen ja, wie das ist.“ Der Arzt nickte abwesend und war schon wieder verschwunden.

      „Auf, Isa, es geht nach Hause.“ Rebekka hob ihre Tochter auf den Arm und schluckte den Zorn über Konrads Bemerkung hinunter.

      „Summ, summ, summ, Bienchen summ herum …“, sang Becky und wiegte Isabell in ihren Armen. Nie wieder würde sie sie zu dieser Krabbelgruppe schleppen! Statt auf ihre innere Stimme zu hören, war sie dem Rat des Kinderarztes gefolgt, der die Ansicht vertrat, Kontakt mit Gleichaltrigen wirke manchmal Wunder. Tatsächlich hatte Isa die ersten zwanzig Minuten begeistert mitgemacht, aber schon in der Wickelpause war ein Geschrei losgegangen, auf das sich weder Mutter noch Gruppenleiterin einen Reim machen konnten.

      Rebekka schnupperte und rümpfte die Nase. Schon wieder. Als sie die Windel entfernte, durchfuhr es sie heiß und kalt. Auf der rechten Gesäßhälfte prangte ein blauer Fleck, der aussah wie eine Quetschung. Von wegen „alles neu und noch ein bisschen viel für sie“, wie die Pädagogin vermutet hatte! Offenbar war ihre Tochter gekniffen worden. „Da gehen wir nie mehr hin“, flüsterte Becky. „Ich lasse nicht zu, dass ein böses Kind meinem kleinen Liebling wehtut. Heile, heile Gänschen …“

      „Still, mein Schatz. Schau was Mama Leckeres für dich hat!“ Becky ahmte das Geräusch eines Fliegers nach und ließ den Löffel vor den tränenfeuchten Augen ihrer Tochter kreisen. Huhn-Karotte mit Stückchen, Isas Lieblingsessen, obwohl sie dem Brei-Alter allmählich entwachsen war. „Na komm schon, Baby, lass das Flugzeug landen.“ Das Gesicht des Kindes war gerötet, die blonden Locken klebten an den Wangen. Auch Rebekka schwitzte. „Isabell, du musst essen.“ Trotzig presste Isa die Lippen aufeinander und versteifte sich in ihrem Hochstuhl. „Oooh“, machte Becky und Isa ahmte die Grimasse nach. Rasch bugsierte Becky den Löffel in die Öffnung. Isabell verzog das Gesicht, dann sprühte der mit Speichel vermischte Brei heraus, sprenkelte Beckys Gesicht und Bluse. Streckte das Kind ihr die Zunge heraus?

      Sie spürte, wie irgendwo in ihr eine Sicherung durchbrannte. Herrgott, es war zu ihrem Besten, warum begriff sie das nicht? „Iss endlich!“ Rebekka zielte mit dem Plastiklöffel auf Isabells Mund. Das Kind machte eine abwehrende Bewegung und der Inhalt des Löffels landete an der Tapete. Dicke orangene Tropfen klecksten die weiße Wand hinab. Isabell kicherte glucksend. „Isabell!“, hörte Rebekka sich schreien und erschrak über die Wut in ihrer Stimme. Gerade noch rechtzeitig riss sie sich zusammen und senkte die zum Schlag erhobene Hand. Nie hätte sie sich das verziehen.

      Ohne ein weiteres Wort wischte sie Isabell den Mund ab und setzte sie in den Laufstall. Dann holte sie Putzzeug und säuberte notdürftig Tapete und Teppich von Brei, während die Klümpchen in ihren Haaren bereits zu trocknen begannen und die Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Isas Gelächter schlug in neuerliches Gebrüll um. Becky warf den Lappen in den Eimer, ließ sich auf einen Stuhl sinken und schluchzte hemmungslos.

      Das Schrillen der Türglocke ließ sie aufschrecken. Hastig wischte sie sich übers Gesicht und stand auf, als es eben wieder läutete. Rebekka öffnete und prallte zurück. Vor ihr stand nicht wie erwartet der Postbote, sondern eine fremde Frau, fast so groß wie sie selbst, aber mädchenhaft schlank. Hatte sie die Frau schon einmal in der Siedlung gesehen? Nein, an das blasse, ebenmäßige Gesicht unter dem seidig-schwarzen Haarschopf hätte sie sich bestimmt erinnert.

      „Hallo, Sie wünschen?“, fragte Becky. Die Frau sagte nichts. Den Kopf schief gelegt