Zwielicht Classic 12. Michael Schmidt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Schmidt
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745013085
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und sie ließ zu, dass die andere mit Zeige- und Mittelfinger über ihre Wange strich und die Spuren der Tränen nachzeichnete. Wie zart ihre Hände, wie feingliedrig die Finger waren, so ganz anders als Beckys, die als Jugendliche wegen ihrer „Schlachterhände“ gehänselt worden war. Sie erschauerte, doch es war ein angenehmer Schauer.

      Die Frau zog die Hand zurück und machte eine Geste, als würde sie ein Kind wiegen. Dabei riss sie den Mund auf, wie um Schreien anzudeuten.

      „Ja“, hörte Becky sich sagen. „Ja, das ist meine Tochter, Isabell. Sie ist ein wunderbares Kind, aber sie weint so schrecklich viel …“ Die Fremde zeigte auf sich, dann in den Flur. Nach kurzem Zögern bat Rebekka sie herein. Sie beeilte sich, die Haustür zu schließen, und folgte der Besucherin, die bereits ins Wohnzimmer vorangeschritten war.

      Isabells Jammern verstummte. Aus runden, blauen Augen schaute sie zu der Fremden auf, die nun die Arme ausstreckte und sie zu sich emporhob. Ganz kurz hatte es den Anschein, als wolle Isa erneut weinen, da begann die Frau ein Lied zu summen und die Züge des Mädchens entspannten sich. Becky hatte die Melodie noch nie gehört. Traumverloren und melancholisch klang sie und ein Zauber lag darin, den auch Isabell spürte, die andächtig lauschte. Binnen Kurzem flatterten die Lider des Kindes und fielen zu.

      „Wir sollten sie nach oben bringen“, flüsterte Becky und wies der Besucherin den Weg ins Kinderzimmer. Dort angekommen schlug sie die leichte Decke beiseite und sah zu, wie die Frau Isa behutsam ins Bettchen legte. Selten hatte das Gesicht des Kindes einen solchen Ausdruck höchster Zufriedenheit gezeigt. Beckys Herz weitete sich vor Glück und Dankbarkeit. „Ich glaube, Sie können zaubern“, sagte sie.

      Die Frau legte den Finger auf die Lippen und verließ das Zimmer. Unten wandte sie sich zum Gehen. „Warten Sie bitte, wie heißen Sie?“, rief Becky ihr nach, doch sie war schon aus der Gartentür hinaus und hinter der hohen Hecke verschwunden.

      Bis hinein in den Nachmittag schlummerte Isabell. Alle paar Minuten sah Rebekka nach ihr, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Sie zerbrach sich den Kopf über ihre stumme Besucherin. Wer war sie, was hatte sie hergeführt? Und vor allem: Wie ließ sich ihre Wirkung auf Isabell erklären? Allen unbeantworteten Fragen zum Trotz keimte in Becky die Hoffnung auf, durch einen wunderbaren Zufall ihr neues Kindermädchen gefunden zu haben.

      Als es am nächsten Vormittag zur selben Zeit klingelte und wieder die junge Frau vor der Tür stand, zügelte Rebekka ihre Neugier und wartete zunächst ab, ob sich das Wunder vom Vortag wiederholen würde. Über Nacht hatte Isa einen schlimmen Windelausschlag entwickelt und kaum geschlafen. Becky war völlig übermüdet. Auch jetzt hing die Kleine jammernd in ihren Armen, aus denen die Fremde sie sanft fortnahm und in den Schlaf zu wiegen begann. Wie gestern trug sie das Mädchen ins Bett, um gleich darauf über die Treppe zu entschwinden.

      Diesmal ließ Becky sie nicht einfach gehen. In voller Größe baute sie sich vor der Haustür auf. „Sie sind ein Engel, wissen Sie das?“ Die Frau legte die Hand auf die Klinke, aber Becky schüttelte den Kopf. „Bitte warten Sie. Ich bin Rebekka und ich hätte gern Ihren Namen gewusst.“ Sie wies auf die angrenzende Küche. „Setzen wir uns doch. Ich würde mich wirklich freuen, wenn Sie mein Angebot annehmen.“ Sie fasste sich an die Stirn. „Was bin ich für ein Dummkopf. Ich habe ja noch gar nichts zu den Konditionen gesagt!“ Zu ihrer Erleichterung nahm die Frau am Küchentisch Platz, auf den Becky bereits vorsorglich ein Blatt Papier nebst Stift gelegt hatte. „Ich dachte an vier Tage die Woche, von montags bis donnerstags, jeweils neun bis vierzehn Uhr, und am Freitag von neun bis zwölf? Wenn Ihnen das zu viel ist, wäre ich auch mit weniger einverstanden. Zehn Euro die Stunde, in Ordnung?“

      Ihr Gegenüber hörte aufmerksam zu, machte jedoch keine Anstalten, eine Antwort aufzuschreiben. Rebekka kam ein Gedanke. „Ob mit oder ohne Steuerkarte, ist mir egal. Ich richte mich ganz nach Ihnen. Nun, was meinen Sie?“ Die Art, wie die Frau sie musterte, mit einem schwer zu deutenden Lächeln, machte sie nervös. „Mir scheint, Sie haben viel Erfahrung mit Kindern“, sagte sie, um das Schweigen zu durchbrechen.

      Endlich griff die andere nach dem Stift. Ihr langes Haar fiel wie ein Vorhang über die Schultern bis auf den Tisch und bildete einen reizvollen Kontrast zu der weißpolierten Fläche. Es verdeckte das Papier, sodass Becky zwei bange Herzschläge lang warten musste, bis ihr das Blatt zugeschoben wurde. In filigraner Handschrift, edel und feenhaft wie alles an der Fremden, stand dort ein einziges Wort, ein Name: Lilith, das L verschnörkelt wie die Initialen in alten Märchenbüchern.

      „Lilith“, sagte Rebekka. „Ein schöner Name. Wir – das heißt eher ich als mein Mann – hatten überlegt, unsere Tochter Liliane zu nennen, weil ich die Abkürzung Lilly so sehr mag.“ Sie zuckte die Schultern. „Aber dann haben wir uns auf Isabell geeinigt, weil Konrad dem anderen Namen nichts abgewinnen konnte. Und Isabell ist ja auch sehr süß und passt hervorragend zu dem kleinen Goldschatz, finden Sie nicht auch?“ Liliths Lächeln ließ nicht erkennen, ob sie die Meinung teilte. Sie erhob sich, ging zur Tür und nahm Beckys Hand. Ihre Finger fühlten sich glatt und kühl an.

      Ich werde da sein, wenn du mich brauchst.

      Becky hörte die sanfte Stimme, obwohl sich Liliths Lippen nicht bewegten. Erschrocken schaute sie ihr ins Gesicht. In den Augen lag ein hypnotischer Ausdruck, der Rebekka an Ort und Stelle festbannte. Eine merkwürdige innere Ruhe überkam sie, die an Taubheit grenzte. Die nahezu schwarzen Iriden dicht vor ihr waren durchzogen von winzigen, silbrigen Einsprengseln, die sich zur Mitte hin verdichteten und auf diese Weise die Pupillen erst sichtbar machten, indem sie einen hellen Ring darum bildeten. Schön und ehrfurchteinflößend wie der Sternenhimmel in einer klaren Nacht – und genauso weit entfernt von allem, was menschlich war. Für eine Sekunde spürte Becky, wie Furcht nach ihrem Herzen griff. Dann jedoch lächelte Lilith, ihre Augen blickten sanft und braun wie zuvor und Becky war überzeugt, sich getäuscht zu haben.

      „Es läuft gut mit Isabell, nicht?“ Die Frage kam unvermittelt, als sie abends beim Essen saßen. Becky hatte Rouladen mit selbstgeriebenen Kartoffelklößen zubereitet, und als Konrad nun ihre Kochkünste in höchsten Tönen lobte, war sie nah dran, sich glücklich zu fühlen. Falsch, heute war sie glücklich. Nachdem Lilith gegen eins gegangen war, hatte Isa lange geschlafen. So lange, dass Becky vor dem Kochen sogar noch an ihrem Ölgemälde hatte arbeiten können.

      „Stimmt. Sie schreit weniger … vielleicht weil der Ausschlag langsam abheilt“, sagte sie. Sollte sie ihm von Lilith berichten? Nein, beschloss sie. Konrad würde alles ganz genau wissen wollen: Woher sie Lilith kannte, was für Referenzen sie mitbrachte, ob sie schon Vereinbarungen über Arbeitszeit und Lohn getroffen hätten … und wer weiß, ob er sich nicht gegen die Einstellung einer Stummen aussprechen würde, wo doch Isabell gerade in diesem Bereich Förderung benötigte. Sie blickte zu ihrer Tochter hinüber, die zufrieden einen Kloß mit der Soße zu einem Brei zermatschte. Hin und wieder landeten sogar einige Stückchen in ihrem Mund.

      Konrad stand auf und trat hinter Beckys Stuhl. „Was meinst du, schläft sie nachher?“ Er legte seine Hände auf ihre Schultern, von wo aus sie abwärts glitten und auf ihren Brüsten liegenblieben, um fordernd zuzudrücken.

      „Nicht vor dem Kind“, sagte Becky, „beherrsch dich.“ Unbewusst verfiel sie in den Tonfall, den er von Zeit zu Zeit im Schlafzimmer von ihr erwartete. Es brachte ihn auf Touren, wenn sie ihm ein Halsband umlegte und es fest zuzog oder wenn er auf allen Vieren vor ihr hockte und sie seinen Hintern mit einer zusammengerollten Zeitung versohlte. Derartige Rollenspiele waren im Grunde nicht ihr Ding, dennoch machte sie mit, Konrad und ihrer Ehe zuliebe, obwohl sie in diesen Momenten nichts als Verachtung spürte. Dieselbe Verachtung wie ihrem Stiefvater gegenüber, heute wenigstens. Sie wünschte, sie hätte auch damals so empfunden, aber da war sie klein gewesen und hilflos. Stumm. Sie setzte ihren strengen Blick auf und entzog sich ihm, um den Tisch abzuräumen. Dann jedoch hielt sie kurz inne und stieß einen Seufzer aus. „Aber ich wünsche mir auch, dass sie mal durchschläft.“

      Als Rebekka aus der Küche kam, stand die Tür zur Abstellkammer offen, wo sie, neben Vorratsregalen und Haushaltsgeräten, in einer freien Ecke ihre Staffelei untergebracht hatte. „Konrad?“ Sie spähte hinein.

      „Isabell