Der Frauenmann. Louis Flathmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Louis Flathmann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752942804
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      Eine Nachricht tauchte auf seinem Handybildschirm auf und machte sich bemerkbar durch ein lautes Fiepen.

      Ist alles gut bei euch? Wie geht es Felix? Yannick las angestrengt die Nachricht, denn er richtete seinen Blick abwechselnd immer wieder auf den zäh fließenden Verkehr.

      Ich fahre jetzt nach Hause. Rufe dich später an.Tippte er unruhig in die kleine Tastatur. Nachrichten beantworten während der Autofahrt verlangte ihm einiges an Nerven ab. Das Handy saß wackelnd in der billigen Handyhalterung aus China, die provisorisch an der Scheibe babbte.

      Auch seine Freundin Merle Schaffhäuser machte sich große Sorgen um ihren gemeinsamen Freund. Sie hatte Felix durch Yannick kennengelernt und mochte ihn sofort von Anfang an.

      Manchmal hatte Yannick das Gefühl gehabt, dass sie sich zu sehr mochten, doch beide haben ihm klar gemacht, dass seine Eifersucht völlig unbegründet war.

      Okay, bis später.Yannick gelang es grade noch, die Nachricht zu lesen, als das Handy zum gefühlt hunderten Mal aus der Halterung stürzte.

      Stöhnend richtete er dem Verkehr, der sich inzwischen deutlich gebessert hatte, seine volle Aufmerksamkeit.

      Er nahm sich fest vor, dass er gleich am nächsten Morgen bei Felix vorbeikommen und ihn mit Brötchen überraschen würde.

      Alles lag stillschweigend vor ihm und um ihn herum. Das einzige was zu hören war, war das leise Ticken der Wanduhr, die über dem Türbogen zum Wohnzimmer hing. Viertel vor sieben, verriet ihm die Uhr. Zwei Stunden hatte Felix einfach auf dem Sofa gesessen. Zwei Stunden, in denen er einfach „existierte“. Zwei Stunden war es nun her, dass sein Freund nach Hause gefahren war.

      Er sah an sich herunter und konnte die leichte Wölbung sehen, die unter seiner Sweatshirtjacke zu sehen war. Die Wölbung, die seit zwei Monaten Teil seines verstümmelten Körpers war.Wütend schlug Felix auf seinen Oberkörper, doch ihm war klar, dass er dadurch nichts ändern könnte. Mit einem lauten Knurren meldete sich sein Magen. Er aß seit den zwei Monaten immer nur so viel, wie er benötigte, um zu überleben. Der Pizzakarton mit der Pizza Salami lag immer noch vor ihm. Ein Stück hatte er angenagt. Mehr hatte er noch nicht gegessen.

      Die Pizza war inzwischen kalt, doch noch genießbar. Über die Hälfte der Pizza verschwand wieder in seinem Kühlschrank.

      „Mehr bekomme ich einfach nicht runter.“ Zum Essen zwingen wollte er sich nicht. Es reichte schon, dass er sich zum weiteren existieren zwang. Der Wind rauschte gegen die Fenster im Wohnzimmer. Der Regen hatte komplett aufgehört, doch es war sehr stürmisch geworden.

      Nur mit Widerstand ließ sich die Terrassentür im Wohnzimmer öffnen.

      Felix spürte den Wind, der seine Haare zerzauste. Früher war ihm seine Frisur immer wichtig gewesen. Jedes einzelne Haar musste perfekt sitzen und wurde mit Gel zurechtgemacht. Er hat meistens einen Undercut getragen. Heute war nichts mehr übrig von seinem perfekten Haarschnitt. Die Haare an den Seiten waren nun genauso lang wie die Haare oben. Im Krankenhaus hatte man ihm einmal die Haare nachgeschnitten.

      Es war ein kalter, gleichzeitig erfrischender Wind, der ihm um die Ohren zauste. Felix versuchte, die Gedanken und Erinnerungen wortwörtlich aus seinem Kopf pusten zu lassen. Jedoch ohne Erfolg. Dennoch tat der frische Wind gut.

      Eine halbe Stunde stand er an der Terrassentür und genoss es, den starken Wind zu spüren, bis sich schließlich seine Blase bemerkbar machte. Mit ihr kamen gleichzeitig auch wieder alle verdrängten Erinnerungen hoch.

      „Nein, bitte nicht…“, schoss es ihm durch den Kopf.

      Den ganzen Tag war er nicht auf Toilette gewesen. Er versuchte jeden einzelnen Toilettengang immer soweit es ging hinauszuzögern. Im Krankenhaus hatten sie ihm einen Dauerkatheter geben wollen, doch durch den Katheter, der mehr als einen Monat in ihm drin war, hatte sich eine Entzündung in der neuen Harnröhre gebildet. Die Entzündung wurde einen Tag vor der Entlassung bemerkt und schließlich mussten sie den Katheter wieder entfernen und konnten ihn nicht mit dem Dauerkatheter nach Hause gehen lassen. Seitdem war er ein einziges Mal auf Toilette gegangen. Es war schrecklich gewesen. Lieber würde er sich in die Hose machen. Am liebsten hätte er Yannick angerufen, um ihn zu bitten, ihm in dieser Situation beizustehen. Schnell verschlug er diesen Gedanken wieder. Doch nicht wegen so einer Lappalie!

      Mit Yannick hatte er noch nicht über diese Belastung geredet. Und er hatte es eigentlich auch nicht vor. Zu groß war die Scham und Trauer, obwohl er wusste, dass er sich für nichts schämen brauchte. Erst recht nicht vor seinem langjährigen besten Freund.

      Angeekelt stand er im Badezimmer und kämpfte mit sich selbst, endlich die Blase zu leeren. Den Klodeckel hatte er bereits hochgeklappt, doch er brachte es einfach nicht fertig, sich hinzusetzen.

      Nie wieder im Stehen pinkeln können… Felix war eigentlich kein Stehpinkler, doch diese Tatsache tat ihm im Herzen weh. Manchmal war es nämlich wirklich praktisch gewesen. Er merkte, wie seine Gedanken wirr durcheinanderflogen und ihm Kopfschmerzen verursachten. Er merkte, wie ihm die Röte ins Gesicht stieg. War es Ärger oder Scham?Es war die Scham. Obwohl keiner mit ihm im Raum war, war es ihm unglaublich peinlich, so auf Toilette gehen zu müssen. Peinlich war es auch, so ein Theater um einen verdammten Toilettengang zu machen, war Felix der Meinung. Doch er konnte es einfach nicht abschütteln. Die Scham war da und blieb. Zehn Minuten hatte er gebraucht, um sich endlich auf den Deckel zu setzen. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er Wasser zu lassen. Den Anblick, der jetzt anstelle seines Penis zwischen den Beinen war, konnte er nicht anders aushalten.

      Er spürte den warmen Urin an den Innenseiten seiner Oberschenkel entlanglaufen. Zwischen seinen Beinen war es noch leicht geschwollen, hatten die Ärzte ihm mitgeteilt. Die Schwellung würde aber bald nachlassen.Ein erneuter Ekel überfiel ihn. Ein Ekel, der so stark war, dass er ihm eine Gänsehaut auf der Haut hinterließ. „So etwas, was Ihnen zugefügt wurde, haben wir noch nie erlebt.“, erinnerte er sich an die Worte der Kriminalkommissarin Brünjes. Auch die Ärzte im Krankenhaus haben so einen Fall von schwerer Körperverletzung noch nie zuvor bei sich liegen gehabt. Schwere Körperverletzung… Sein Leben wurde ihm zerstört und man nannte es bloß schwere Körperverletzung! Felix war schon immer der Meinung, dass die Justiz ein Witz war, doch durch diese Aussage der Polizei war er nun hundert prozentig davon überzeugt.

      Das Wasser hörte langsam auf zu laufen und tröpfelte nur noch. Jetzt kam der schrecklichste Moment. Blitzschnell zog er sich die Hose hoch und merkte, wie die letzten Tropfen des Urins seine Boxershorts durchnässten. „Lange ertrage ich das nicht mehr!“, war er sich sicher.

      Im Spiegelschrank über dem Waschbecken bot sich Felix ein trauriges, blasses, fremdes Bild seines Selbst. Dicke Augenringe markierten seine Augenränder. Die einst fröhlichen grünen Augen waren leer und man sah ihnen an, dass sie tagelang geweint haben mussten. Die Blässe im Gesicht hätte von einer Leiche stammen können. Die Unterlippe war gerissen vom ständigen Kauen auf ihr. Die dunkelblonden Haare standen zerzaust vom Kopf ab und glichen dem Beispiel einer Reibungselektrizität, die man mithilfe eines Luftballons verursachen konnte. Insgesamt sah er sich an, dass er viel abgenommen hatte. Die Knochen an den Armen waren schon leicht zu erkennen und auch sein Gesicht sah ziemlich mager aus. Kann man so wirklich leben?Felix wollte nicht wahrhaben, dass er die Person war, die ihn im Spiegel anstarrte. Das war nicht mehr er. Die Tat hatte nicht nur physische Spuren hinterlassen, sondern auch psychische.

      Der unglaubliche Zorn, gemischt mit der unterdrückten Traurigkeit machte sich in ihm bemerkbar. Mit einem Mal prasselten alle Emotionen auf ihn ein, wie ein starker Schneehagel.

      Wütend zerschlug Felix mit der Faust den Spiegel und somit auch sein Spiegelbild. Adrenalingeladen blickte er auf die Scherben, die auf dem Boden verteilt waren. Dass er blutete, nahm er zunächst nicht wahr. Er bemerkte es erst, als das Blut von seiner Hand auf die weißen Fliesen tropfte.

      „WARUM ICH?“, hallte sein Schrei im Badezimmer wider.

      Immer wieder schlug Felix auf den demolierten Spiegel ein. Das Bild sollte für immer verschwinden. Völlig in