Tatsächlich spielte ihre Mutter bereits mit dem Gedanken, die Heizung im Keller einzuschalten, aber die Gewissheit, dass das Wetter am darauf folgenden Tag wieder ins krasse Gegenteil umschlagen würde, hielt sie davon ab.
Schließlich übernahmen die dicken Pullover und Leggins, die in der Tiefe des Kleiderschranks vergraben waren, die Aufgabe des Warmhaltens.
Und so flogen an jenem besagten Sonntag der rosa Pullover samt den geblümten Strumpfhosen im hohen Bogen zurück in den Kleiderschrank und wurden durch eine leichtere Bekleidung ersetzt, denn heute war Frühlingswetter.
Der Himmel lag in einem zarten Blau, durchwandert von weißen Wolken und der Sonne. Die Luft war lau und die Vögel zwitscherten, während der Wind durch das Blattwerk der Bäume streifte und ihnen ein leises Rascheln entlockte.
Gina betrachtete sich in ihrem großen Wandspiegel und zupfte zufrieden die zarten Rüschen an den breiten Trägern ihres hellgelben Kleides, das mit winzigen braunen Punkten übersät war, zurecht. Nur so und nicht anders würde sie den Radausflug, für den sich ihre Familie aufgrund des schönen Wetters entschlossen hatte, mitmachen.
Dieser herrliche Tag bot natürlich auch all den anderen Menschen aus der näheren oder weiteren Umgebung die Gelegenheit, ihren Häusern zu entfliehen. Es zog sie hinaus in die Natur, um in den Wäldern durchzuatmen, durch die Wiesen zu streifen und sich beim Picknick die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Kurzum, alles was Beine hatte, bewegte sich an der frischen Luft und genoss die Wärme.
Niemand störte sich daran, dass die Sommerzeit schon längst verstrichen war und das Erntedankfest vor der Tür stand. Vom Herbst war auch an jenem Tag weit und breit noch nichts zu spüren und zu sehen.
2. Kapitel
Nun radelte Familie Keck schon über eine Stunde und erfreute sich an dem kühlen Lüftchen, das ihnen beim Strampeln um die Nase und durch die Haare wehte.
Die Stadt lag schon weit hinter ihnen, als sie an einer bunten Blumenwiese anhielten. In der Nähe befand sich ein Wald, unter dessen Bäumen sie Schatten finden konnten, falls die Sonne sommerliche Kräfte annehmen würde.
Schon beim Verteilen der mitgebrachten Speisen auf der rot-grün-karierten Picknick-Decke, lief ihnen das Wasser im Mund zusammen - kalter Braten, würzige Hühnerbeine, knackige Würste, knuspriges Bauernbrot und jede Menge rohes Gemüse und frisches Obst sowie prickelnde Limonade für die Kinder und roten Wein für die Eltern.
Nachdem sie sich satt gegessen und getrunken hatten und nicht zuletzt wegen der ungewohnten sportlichen Betätigung des Radfahrens, übermannte sie die Müdigkeit und sie dösten in der Mittagssonne ein.
Das galt zumindest für Mama, Papa und den kleinen Bruder Ben, nicht jedoch für Gina. Sie schlief nicht. Sie war nicht müde, und sie verstand beim besten Willen nicht, wie man einen so herrlichen Tag verschlafen konnte.
«Schlafen, tut man in der Nacht», murmelte sie zu sich selbst und schlich leise davon.
Sie lief durch die Wiese und suchte Heuschrecken, denen sie flink nach hüpfte oder sie mit geschickten Händen einfing, um sie dann nach kurzer Zeit wieder frei zu lassen.
Die langen Grashalme kitzelten Ginas nackte Beine, als sie mit den Armen auf und ab schwingend durch die Wiese tanzte und sich anmutig auf ihren Zehenspitzen drehte. Dabei lösten sich die Samen der Pusteblumen von ihren Stempeln und schwebten sanft im Luftzug ihrer Bewegungen nach.
Nach einer Weile legte sich Gina außer Atem, aber sehr glücklich, zwischen den roten Mohn und streckte Arme und Beine weit von sich. Entspannt suchte sie den Himmel nach Wolkenbildern ab und entdeckte einen Hund mit fünf Schwänzen, eine Maus mit Hasenohren und ein großes Schiff in Seenot. Die Sonne schien kräftig und hell dabei, sodass Gina ihre Augen zusammen kniff, was sie schläfrig machte. Zufrieden seufzend drehte sie sich zur Seite, gähnte herzhaft und blickte in das immer noch grüne Laub der Bäume.
«Ob sich die Blätter jemals wieder rot und gelb färben», dachte sie bei sich.
«Der Sommer ist schon cool, aber mit der Zeit ist er auch langweilig. Ich hätte nichts gegen etwas mehr herbstlicher Farbe an den Bäumen.»
Sie seufzte tief und hing ihren Gedanken nach, was sie zu dem Schluss brachte, dass sich am Wetter wohl so schnell nichts ändern und es für immer ein chaotischer Sommer bleiben würde. Man musste sich wohl oder übel an den Anblick von immergrünen Wiesen und Wälder gewöhnen.
Gina wurde es plötzlich heiß, nicht wegen der Mittagssonne, die mittlerweile kräftig vom Himmel herab schien, auch nicht weil sich kein Lüftchen regte, das Kühlung gebracht hätte, sondern weil die Blätter an den Bäumen plötzlich zu rascheln begannen und das trotz der absoluten Windstille, die gerade herrschte.
Ginas Nackenhaare stellten sich und kitzelten sie merkwürdig. Das war für das aufgeweckte und feinfühlige Mädchen ein ernstes Zeichen, dass irgendetwas nicht stimmte, nicht zusammenpasste oder in irgendeiner Form nicht richtig war - so wie jetzt in diesem Augenblick.
Sie setzte sich auf und spähte mit wachen und großen Augen in den Wald hinein. Nichts Ungewöhnliches war in den Wipfeln der Bäume zu sehen, kein Vögelchen, kein Eichhörnchen oder irgend etwas anderes dieser Art, welches das Laub hätte bewegen können. So saß sie ganz still und beobachtete aufmerksam weiter.
Dann kam er doch - der Wind - und trug eine zarte, helle Stimme mit sich, dessen Melodie Gina sehr vertraut vorkam.
«Ein Kinderlied», dachte sie.
Wortfetzen drangen an ihr Ohr und beides, Melodie und Text, fügten sich zu einem ihr wohl bekannten Liedchen zusammen.
«Es war eine Mutter, die hatte vier Kinder, den Frühling, den Sommer, den Herbst und den Winter...»
Der Wind verlor sich, aber die Stimme sang weiter.
«...der Frühling bringt Blumen, der Sommer den Klee, der Herbst bringt die Trauben, der Winter den Schnee.»
Das letzte Stück des Liedchens ging in einem herzzerreißenden Schluchzen unter.
Leise, um den Gesang nicht aus den Ohren zu verlieren, erhob sich Gina von ihrem Platz und richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Stimme, die aus dem Wald zu ihr herüber hallte.
Plötzlich und heftig kehrte der Wind zurück und riss die zarte Melodie räuberisch mit sich fort und hinterließ lediglich das gewöhnliche Rascheln der Blätter.
Zögernd schritt Gina auf das Gehölz zu, um nach dem Gesang zu lauschen, dabei wirbelte der Wind wild um sie herum. Er zog übermütig an ihren braunen, geflochtenen Zöpfen und zupfte an ihrem feinen Kleidchen, sodass die Nähte beinahe rissen. Er schubste sie, energisch und sanft zugleich vorwärts und strich ihr dabei ermutigend über die Wangen, als wolle er sagen: «Geh! Los, geh in den Wald hinein.»
Gina war etwas mulmig zumute und dennoch lockte das Abenteuer. Sie warf einen unsicheren Blick zu ihren Eltern hinüber, als fände sie dort eine Antwort. Vater, Mutter und Ben lagen jedoch entspannt und in süßen Träume versunken in der Sonne und lächelten zufrieden im Schlaf. Um sie herum lag die Natur friedlich und völlig windstill.
Abermals vernahm Gina das traurige Schluchzen, das aus dem Wald zu ihr herüber drang.
«Da weint doch jemand», dachte Gina.
«Vielleicht ist es ein Kind, das sich verlaufen hat und ich bin womöglich die Einzige, die ihm helfen kann!»
Beherzt marschierte sie in den Wald hinein und ließ sich durch die Hand des Windes führen, bis sie nach einer Weile eine winzige Lichtung erreichten. Dort verschwand er und ließ sie alleine zurück.
So stand Gina nun mitten im tiefen Wald unter hohen dicken Eichen, die das Fleckchen Erde darunter in dunkle Schatten hüllten. Dennoch hatte sie keine Angst, da von diesem Platz nichts Sonderbares ausging,