Sie machte eine Pause. Es blieb ganz still im Raum. Nur das Knistern des Kaminfeuers brachte etwas Erleichterung in die lähmende Ruhe. Clea tat es jetzt leid, die alte Frau zum Reden animiert zu haben. Man konnte ihr ansehen, wie weh ihr diese demütigende Erinnerung tat. Plötzlich schoss Clea eine Erzählung ihres Vaters durch den Kopf.
„Simon hat etwas Ähnliches erlebt, nachdem sein Vater verhaftet worden war.“ Alle Augen wurden nun auf Cleas Vater gerichtet.
„Das stimmt“, bestätigte er. Gleichzeitig nickte er Claudine Schneider tröstend zu. „Nachdem mein Vater abgeholt worden war, bin ich mit der roten Fahne auf dem Fahrrad durch Storkow gefahren. Bei der zweiten Runde holten mich einige, ebenfalls sehr honorige Herren vom Rad und prügelten mich grün und blau.“ Er schaute in die Runde und fuhr dann fort: „Und genau diese ehrenwerten Herren sind von unseren russischen Befreiern wieder ins Amt gebracht worden. Mein Vater musste das miterleben, als er aus dem KZ kam. Seine heiß ersehnten großen Brüder aus der kommunistischen Sowjetunion brachten die Nazis seiner Heimatstadt wieder in Amt und Würden! Ich bin bis heute davon überzeugt, dass er deswegen ein halbes Jahr später starb. Ja, er ist an gebrochenem Herzen gestorben, nachdem er seine Ideale schon zuvor zu Grabe getragen hatte.“
„Mein jüngerer Bruder hat ebenfalls ziemlich heftig reagiert“, nahm Moniques Mutter ihre Erzählung wieder auf, während ihre Tochter für Henri noch einiges von Simons Erzählung ins Französische übersetzte. „Wie alt war er damals? Noch nicht ganz vierzehn, ja im Juli ist sein Geburtstag. Er hat mit ein paar Freunden zusammen den Hund des Bürgermeisters entführt. Das war ein deutscher Schäferhund, ein wirklich prachtvolles Tier. Der ganze Stolz des Bürgermeisters. Die Jungen haben ihn also eingefangen und dem armen Tier den Hintern glatt rasiert sowie den ganzen Schwanz und den oberen Teil der Hinterbeine. Ich sehe ihn noch heute vor mir, sah aus wie ein Pavian. Aber das Beste war, sie haben auf seine beiden kahlen Hinterbacken mit Tinte zwei große Hakenkreuze gemalt. Danach brachten sie das Tier auf die andere Seite der Stadt und ließen ihn los. Auf seinem Weg nach Haus musste er die ganze Stadt durchqueren.“
Clea konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Die Vorstellung war einfach zu komisch. Doch die alte Frau ließ sich nicht aus ihren Erinnerungen holen.
„Aber es war genau so nutzlos wie ihre Fahrt mit der roten Fahne“, sagte sie zu Simon. „Zu dem Zeitpunkt war bereits die ganze Stadt davon überzeugt, ausnahmslos in der Resistance gewesen zu sein. Ausnahmslos, bis auf mich. Ich war ihr Alibi. Nun ja, so ist das Leben.“
„War das hier in Veules?“, fragte Clea.
„Nein, ich bin niemals dorthin zurückgekehrt. Und ich hatte und habe kein Heimweh dorthin“, beantwortete sie nun Cleas anfängliche Frage ganz direkt. „Nicht mal Heimweh nach Frankreich in den ersten Jahren. Aber ich musste es noch fast zwei Jahre aushalten, bis Konrads Brief kam in dem er mich einlud nach Karlsruhe zu kommen und seine Frau zu werden. Ich packte auf der Stelle meine Koffer und bin zu ihm. Ich habe sogar versucht zu vergessen, dass ich Französin bin. Allerdings änderte sich mein Standpunkt mit den Jahren, als ich endlich begriff, dass es auch in Deutschland nicht anders war. Da hatte es scheinbar, genau wie in Frankreich, nie einen Nazi gegeben. Jedenfalls konnte sich niemand daran erinnern! Diese Zeit war ja auch in Deutschland ein Tabuthema. Aber wenn sie wirklich mal zur Sprache kam, hat keiner von irgendetwas gewusst. Der einzige Unterschied zu meinen Landsleuten bestand darin, das die nachträglich alle behaupteten, in der Resistance, im Widerstand gewesen zu sein, während es in Deutschland nur arme Opfer gab, aber keine Täter. Nun ja, lassen wir das, es bringt nichts.“
„Trinken wir auf die Liebe. Vive l’amour!“, forderte Henri David mit seinem erhobenen Weinglas auf. Alle stießen erleichtert mit ihm an. Nur Clea dachte: Bei mir haut leider nicht mal das hin. Was für ein Käse! Be a rolling stone, Clea. Die anderen können das doch auch!
Bis zum Frühstück war noch etwas Zeit. Lilo hatte gerade mit Kaspar das Haus verlassen. So klopfte Clea bei ihrem Vater an die Zimmertür. Er saß am Fenster und schaute hinaus in den Garten. Clea setzte sich dazu.
„Das war ein interessanter Abend“, sagte sie. „Aber wie hast du das nur alles weggesteckt. Den Krieg und all das. Und dann noch Mamas Tod?“
Er schwieg eine Weile bis er leicht die Schultern hob und erklärte:
„Nun ja, was blieb mir denn anderes übrig, Kind?“
Clea dachte über seine Antwort nach.
„Wieso krieg ich das nicht gebacken? Ich habe heute Nacht von Friedemann geträumt! Jetzt, wo ich ihn doch endgültig aus meinem Leben streichen will, da fang ich wieder an, von ihm zu träumen.“
„Was hast du denn geträumt?“
„Total peinlich, Paps! Ich stand mit ihm vor dem Traualtar. Richtig glücklich war ich dabei. Doch dann sagte der Priester, er könne uns nicht trauen, erst müsse ich mir den Kopf kahlrasieren lassen. Irgendjemand tauchte mit einer großen Schere auf und gab sie Friedemann. Doch ich wollte nicht. Plötzlich war ich dann in meinem Laden, allein. Aber es waren keine Blumen, die ich verkaufte, sondern Perücken. Dann ging die Ladenglocke und ich bin aufgewacht.“
„Nun ja“, beruhigte Simon sie, „ich bin kein Traumdeuter, wie du weißt. Aber ich finde der Traum hört sich gut an. Irgendwie sehr positiv.“
„Findest du?“
„Ja, wirklich. Du hast dich nicht unterkriegen lassen. So wie ich. Bist eben doch Papas Tochter!“
Kapitel 9
„Ist diese Blumenfrau denn immer noch in Urlaub?“, quengelte Plastrothmanns Mutter und schaute missbilligend auf seinen mitgebrachten Blumenstrauß. „Du weißt doch, ich verabscheue Schleierkraut! Das sieht so nach Beerdigung aus!“
Nein, er wusste das nicht. Er wusste überhaupt nicht viel von dieser Frau. Obwohl er sie jeden Samstag besuchte, pünktlich wie ein Uhrwerk. Von zwölf bis fünfzehn Uhr. Dabei redete sie die ganzen drei Stunden fast ununterbrochen. Doch er hörte ihr nicht zu. Das machte diese Pflichtbesuche so erträglich für ihn, fast entspannend. Sie redete und er dachte an gar nichts. Doch heute stieg bei ihrer Klage über den Blumenstrauß eine leise Wut in ihm hoch, stieg ihm kribbelnd ins Genick. Eine völlig untypische Reaktion für ihn, den eiskalten, disziplinierten Logiker. Er hatte für alles was er tat gute Gründe, für Emotionen war da kein Platz. Selbst diese Besuche bei seiner Mutter hatten nichts mit irgendwelchen Empfindungen für sie zu tun. Er tat es aus reinem Pflichtgefühl, jedoch nicht ihr gegenüber, weil sie ihn geboren hatte. Nein, nur seinem Vater gegenüber, weil der sie erwählt hatte, ihm einen Sohn zu schenken. Dessen Ehefrau, die Plastrothmann nach wie vor als seine wahre Mutter betrachtete, eine große nordische Blondine, war unfruchtbar gewesen; ein Irrtum der Vorsehung. Ein grausamer Irrtum, wie Heinrich zu sagen pflegte.
Er schaute ihr zu, wie sie die Blumen in einer Vase anordnete. Eine alte, verwelkte und verbitterte Frau, die mit all ihren Kräften, die ihr noch geblieben waren, darum kämpfte, die Reste ihres ehemaligen jugendlichen Aussehens zu bewahren. Viel mehr als das gab es auch nie an ihr. Sie war eine einfache Frau, die noch heute stolz darauf war, als Leihmutter eines so bedeutenden Mannes gedient zu haben. Dank ihrer Leichtlebigkeit empfand sie es auch nicht als Verlust, ihren Sohn von einer anderen großziehen zu lassen. Erst als Plastrothmann sich weigerte, sie nach dem plötzlichen Tod seiner Eltern in die geerbte Villa einziehen zu lassen, erlitt ihr Selbstwertgefühl einen recht heftigen Schlag.
Diese wunderschöne Villa, vollgestopft mit Antiquitäten, Kunstgegenständen und Gemälden, die heute noch als vermisst galten. Scheinbar verloren gegangen in den Wirren des zweiten Weltkrieges. Entartete Kunst. Heinrich hatte sie damals eigenhändig aus dem Verkehr gezogen, und es gefiel ihm überhaupt nicht, dass sein Enkel ebenso unbekümmert damit umging wie sein verstorbener Sohn.
„Wie findest du meine neue Tönung?“,