„Mon fleur d’allemagne“, stellte er Clea vor. Das störte sie nicht weiter. Nur das ‘mon‘ war ihr etwas zu besitzergreifend. So entzog sie ihm unwillig ihre Hand. Die Begrüßungen, alle mit Küsschen rechts, Küsschen links, Küsschen rechts, dauerten eine Weile. Die schnell gesprochenen französischen Sätze blieben für Clea unverständlich. Ab und an hörte sie ein Wort heraus, dessen Bedeutung sie kannte, doch es reichte bei weitem nicht aus, den Sinn des Gesagten zu verstehen. Also beschränkte sie sich auf ein freundliches Lächeln und es schien auch keiner mehr von ihr zu erwarten. Sogar diejenigen, die sie direkt ansprachen, warteten keine Antwort ab. Allmählich löste sich die Gruppe um sie und Jean-Paul auf. Clea entdeckte Betty im hinteren Teil des Salons und steuerte zielstrebig auf sie zu.
„Puh“, sagte sie zu ihr, „mir schwirrt der Kopf. Diesen Geschwindigkeiten ist mein Französisch überhaupt nicht gewachsen“. Betty verzog keine Miene, zuckte nur leicht die Schultern. Anscheinend versteht sie heute Abend auch kein deutsch, dachte Clea verärgert. Das kann ja heiter werden.
So schaute sie ziellos im Raum umher, entdeckte plötzlich das große Glasgefäß mit der Bowle und fragte:
„Hast du die Bowle gemacht?“ Dabei bewegte sie sich auf den Tisch mit der Rosenbowle zu und, o Wunder, Betty folgte ihr.
„Sieht wunderschön aus!“ sagte sie anerkennend.
„Danke“, erwiderte Betty auf Deutsch.
„Ich habe so etwas noch niemals getrunken. Kann man die Blüten auch essen?“
„Ja, sie schmecken gut, du wirst sehen. Aber es dauert noch etwas. Sie müssen noch mindestens eine Stunde stehen, bevor wir sie aufgießen können.“
„Womit hast du sie angesetzt?“
„Diesmal habe ich sie mit Weißwein angesetzt, weil ich nur eine Rosensorte genommen habe. Sie heißt Aida. Es ist eine Edelrose. Durch den warmen trockenen Mai, blüht sie dies Jahr besonders schön. Sie hat ein Erdbeeraroma und ....“
„Erdbeeraroma? Eine Rose mit Erdbeeraroma?“
Betty musste lächeln.
„Ja, du wirst sehen. Es kommt am besten mit Weißwein zur Geltung. Außerdem ist noch Vanille im Ansatz, etwas Zimt. Aber sehr sparsam. Orangensaft und Rosenlikör. Den setzt Maman immer selber an. Den Wein muss man ein wenig warm machen, so handwarm, bevor man ihn über die Zutaten gießt. Und dann sechs Stunden ziehen lassen.“
„Und nachher Sekt dazu?“
„Ja, und Eiswürfel, mit kleinen Rosenblüten.“
„Muss wunderschön aussehen, wenn sie fertig ist. Viel zu schade zum Trinken!“
Unvermittelt ging ein Strahlen über Bettys Gesicht. Doch es galt nicht Cleas Bemerkung über ihre Bowle. Es war plötzlich eine Bewegung im Raum entstanden, wie bei Cleas und Jean-Pauls Ankunft. Betty setzte sich Richtung Tür in Bewegung. Clea drehte sich um und schaute ihr nach. Im Türrahmen stand ein hoch gewachsener, schlaksig wirkender Junge. Höchstens zwanzig Jahre, dachte Clea. Viel zu jung für Betty. Der Knabe strich sich mit lässiger Geste den überlangen Pony aus dem Gesicht, breitete die Arme weit aus und sagte irgendetwas auf Französisch. Clea verstand einzig die Worte ‘mes amis‘. Es fand die gleiche Begrüßungsprozedur statt wie schon zuvor. So von außen betrachtet kam ihr alles noch wesentlich hektischer vor. Es war heftig Bewegung in der Gruppe. Jeder schien gleichzeitig mit jedem zu reden und die Gesprächspartner wechselten in Sekundenschnelle.
Clea setzte sich noch etwas mehr ab und lehnte sich mit dem Rücken ans offene Fenster. Es war immer noch hell draußen. Über dem Tal hing ein riesiger Cirrus. Sah aus wie eine abgenagte Fischgräte. Die Luft war warm und drückend. Aus den Augenwinkeln nahm sie eine Bewegung war. Jean-Paul steuerte mit dem Neuankömmling im Schlepptau auf sie zu. Du liebe Güte, dachte Clea, hoffentlich nicht wieder die fleur d’allmagne Tour. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass es Betty gefallen würde.
„Antoine, Paris. Clea, Berlin!“, machte er die beiden miteinander bekannt.
„Berlin, o Berlin mon amour!“, erklärte Antoine überschwänglich und gab der überraschten Clea einen stilsicheren Handkuss. Jean-Paul genoss die Szene unübersehbar. Clea schnitt eine Grimasse und schaute kurz zu Betty, die immer noch wie eine Säule auf der anderen Seite des Raums stand und so tat als wäre sie völlig uninteressiert an allem, was da so vor sich ging. Antoine konnte leider auch kaum Deutsch. Also versuchte sie auf Französisch zu ergründen, was er an Berlin so liebte. Als Jean-Paul in den Tiefen des Raumes verschwunden war, änderte sich Antoines Haltung plötzlich. Irgendwie wurde er normaler, fand Clea.
„Do you speak english?“, fragte er Clea unvermittelt. Das brachte ihre Konversation außerordentlich in Schwung. Antoine war schon mehrmals in Berlin gewesen. Er hatte dort Freunde, bei denen er übernachten konnte. In den Ferien wollte er wieder hin und er fragte Clea nach ihrer Telefonnummer. Die gab sie ihm bereitwillig und zwar nicht nur vom Laden, sondern auch von ihrer Wohnung.
„Ist beides im selben Haus“, erklärte sie ihm. „Irgendwo erwischt du mich immer.“
Inzwischen hatte sie erfahren, das Antoine die Schauspielschule besuchte, dass seine Lieblingsbar in Berlin ‘Chez Barbra‘ hieß und das er Klaus Kinski für den größten Mimen aller Zeiten hielt. Diese Ansicht erschien Clea nun nicht besonders professionell. Sie fand Kinski eher unheimlich und ansonsten durchschnittlich. Doch Antoine legte sich heftig ins Zeug, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er schwärmte von einer alten Tonaufnahme: Kinski spricht Villon. Mehrmals imitierte er eine Verszeile mit unverkennbar französischem Akzent:
„Isch ‘ab misch soo nach deinem rrroten Erdbeermund gesäähnt.“
Passenderweise gab’s endlich die Rosenbowle mit Erdbeeraroma. Betty spielte die Hausherrin beim Austeilen und Clea fiel auf, das sie immer noch nicht wusste, wem die Villa gehörte. Sie suchte nach Jean-Paul. Doch der war nicht in Sicht, so fragte sie kurz entschlossen Betty. Allerdings lobte sie zuerst die Bowle, die wirklich ganz ausgezeichnet gelungen war. Die spröde Betty errötete zart bei Cleas Lob und beantwortete dann bereitwillig ihre Frage. Sie deutete auf einen der anwesenden Jungen und erklärte:
„Aber sie gehört nicht ihm, sondern seinen Eltern. Die leben schon seit Jahren getrennt und keiner hat Verwendung für das Haus.“
„Du magst Antoine“, wechselte sie unvermittelt das Thema. „Was glaubst du, wie alt er ist?“
„Zwanzig, höchstens einundzwanzig.“
„Das denken alle“, erwiderte Betty mit einem triumphierenden Ausdruck im Gesicht. „Er ist schon 26. Er ist drei Monate älter als ich!“
Irgendjemand drehte die Musikanlage auf. So kam Clea um eine Antwort herum. Die meisten fingen an nach der Musik zu tanzen, paarweise oder auch allein. Clea gesellte sich zu den Tanzenden. Sie brauchte etwas, bis sie im Rhythmus war, aber dann machte es Spaß und sie bewegte sich ausgelassen durch die Tanzenden hindurch. Leider war sie ziemlich bald völlig aus der Puste und sank auf einen der gedrechselten Stühle, die an der Längsseite des Raumes aufgestellt waren.
Ganz schön aus der Übung, dachte sie. Nun ja, meine Liebe, gehst ja auch stark auf die Vierzig zu! Komisch, wie schnell die Zeit vergeht. Vor acht Jahren war ich gerade in den Zwanzigern. Und jetzt? Eine Frau mittleren Alters, die stark auf die Vierzig zugeht. Ach was, keine negativen Gedanken. Solange du für Jean-Paul immer noch ‘mon fleur‘ bist, kann’s ja nicht so schlimm sein!
Sie lehnte sich zufrieden auf dem Stuhl zurück, zog ein Knie hoch bis unters Kinn und betrachtete entspannt das Partygeschehen. Neben ihr führte eine angelehnte Tür ins Innere des Hauses. Sie hörte leise Stimmen und plötzlich vermeinte sie den Geruch von Haschisch wahrzunehmen.
Na, typisch Studentenfete, Alkohol und Drogen. Fehlt nur noch der Sex. Aber das wird wohl auch noch kommen. Bei dem Gedanken fiel ihr auf, dass es mittlerweile ziemlich dämmerig