»Ja, sofort«, bestätigte er die Aufforderung, »In meinem Rucksack. Er ist da drin!« »Dann holen Sie ihn. Oder brauchen Sie eine Extra-Aufforderung?« Andreas ging zu seinem Rucksack der nur etwa zwei Meter entfernt lag und begann drin zu kramen. Seine Gedanken rasten. Wie konnte er hier rauskommen? Es gab nur eine Möglichkeit. Noch bevor seine Idee zum Gehirn vorgedrungen war, rissen seine Hände die Tüte mir den neuen Kleidern und seinen Rucksack nach oben, schon rannten seine Beine. Er wusste nicht wohin er lief, denn er rannte einfach kopflos davon. Wie von ferne hörte er die Rufe der Polizisten, ihre Schritte auf dem Straßenpflaster, die Geräusche, die von den eng stehenden Häuserwänden reflektiert wurden. Die Schreie der Menschen, die ihn eben noch festgehalten hatten, wurden immer leiser. Nach nur wenigen Metern übertönte sein rasselnder Atem alles.
Aus den Augenwinkeln sah er die beiden Beamten hinter ihm her rennen. Eine leichte Kopfbewegung reichte aus um die ganze, verworren zusammenstehende Gruppe Menschen wahrzunehmen. Er hatte den einzigen Moment ausgenützt den er zur Verfügung hatte. Wieder eine leichte Drehung und er sah die beiden Verfolger, die immer kleiner wurden und schließlich stehen blieben. Erleichterung trat ein. Zum einen, weil er den mit Bäumen bestandenen Feldern immer näher kam. Das Gestrüpp konnte seine Rettung sein, sein Sichtschutz vor den Häschern. Zum anderen, weil diese Polizisten anscheinend ihren Sportunterricht regelmäßig zu schwänzen schienen. Ein weiterer Blick bestätige seine Vermutung. Die Beiden waren stehen geblieben, beugten sich vor, stützten ihre Hände auf die Knie, rangen nach Luft. Nun spürte er seine Lungen brennen. Seine Beine schmerzten. Hier stieg die Straße, die mittlerweile in einen Feldweg übergegangen war, schon mächtig an. Aber die Angst verlieh im Flügel. Nie hätte er geahnt, dass solch ein sportlicher Kerl in ihm ruhte. Und er lief, weiter und weiter. Immer wieder versuchte er die Geräusche zu deuten. Er erwartete, dass ihn die Beamten weiter verfolgen würden. Möglicherweise mit dem Auto. Also musste er hier weg. Also rannte er. Er lief so schnell wie ihn seine Beine tragen konnten. Und er schwitzte. Sein Fat-Suite, den er immer noch trug, war durchnässt vom Schweiß. Endlich erreichte er die Bäume, den Wald. Aber er lief weiter.
Schweißtropfen liefen ihm über die Stirn, blieben in den Augenbrauen hängen. Aber er lief. Erst als eine dieser salzgeschwängerten Perlen in sein Auge lief, sich hinter die noch immer auf dem Augapfel sitzende Kontaktlinse setzte, und sich partout nicht wegblinzeln ließ, wurde er langsamer. Er sah sich um. Zu seiner rechten Seite stieg der Berg nun steil an, stand dichtes Unterholz bis dicht an den Weg. Links fielen Bergwiesen steil ab. Er war sich sicher, hier stand er wie auf einem Präsentierteller, gut sichtbar für jeden der ihn verfolgte. Mit ein paar beherzten Schritten war er im dichten Unterholz verschwunden. Wie eine Mauer schlugen die Pflanzen hinter ihm zu, so als wollten sie sagen: »Fühl Dich sicher. Wir beschützen Dich!«
Hinter dem dichten Heckenbewuchs fand er nun einen, mit alten, hohen Fichten bewachsenen Wald vor, der jedes Herz erfreut hätte. Der Boden war moosbewachsen, wenig Unterwuchs verdeckte die Sicht, einfach eine Einladung der Natur, ihre Schönheit zu sehen, zu riechen und eine Zeit zu verweilen. Eine Schatzkammer der Natur, die dem Wanderer verlockende Versprechungen machte. Er jedoch hatte keinen Blick für die Schönheiten die ihm dieser Fleck bot. Er warf sich auf den feuchten, modrig riechenden Waldboden und war froh, dass das Moos seinen Fall bremste. Schwer atmend lauschte er nach den Geräuschen die vom Weg zu ihm drangen. Stille. Er glaubte, in der Ferne das Tuckern eines Traktors zu hören. Aber sonst war es still. Mit spitzen, vor Anstrengung zitternden Fingern, versuchte er die feurig brennenden Kontaktlinsen aus seinen Augen zu bekommen. Links reichte ein Versuch aus und schon lag die kleine, bunte Plastikschale auf seinem Finger. An seinem rechten Auge musste er länger herumfingern. Aber auch hier gelang es schließlich.
Sein Atem jagte noch immer. Nun fühlte er auch seine brennenden Oberschenkel, seine Waden die das steile Bergstück hoch die härteste Arbeit hatten leisten müssen. »So eine Scheiße!«, raunte er leise, »Fast wäre alles verloren gewesen. Und das nur, weil ich Idiot jemanden helfen wollte.« Eiskalt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Sein Geld! Seine ganzen Geldvorräte waren im Rucksack versteckt. Hoffentlich hatte er nichts verloren.
Er riss den Verschluss des Beutels auf und warf seine Wechselwäsche auf den Boden. Mit zittrigen Händen ertastete er den Boden, spürte die Geldbündel darunter. In mühevoller Arbeit hatte er einen zweiten Boden in den Rucksack eingenäht. Mit jedem seiner Versuche, mit jedem Nadelstich stieg dabei seine Bewunderung für die Menschen die nähten, eine so gute Fingerfertigkeit hatten, dass sie solche Wunderdinge herstellen konnten. Im alltäglichen Leben beachtete niemand diese Gegenstände so, wie sie es verdient hätten. Erleichtert atmete er auf. Alles noch da. Zittrig begann er die Kleidungsstücke wieder auf ihren Platz zu räumen.
Mit jedem Atemzug beruhigte sich sein erhitzter Körper wieder. Nun spürte er die Kälte, die Feuchte seines T-Shirts, seines Fett-Anzuges. Behutsam zog er die Sachen aus und streifte seine neuen, in Bregenz erstandenen Kleider über. Mit jedem neuen Kleidungsstück verwandelte er sich in einen neuen, ganz anderen Menschen. Eine Person nach der die Polizei nie suchen würde.
Noch eine Stunde blieb er sitzen, verscharrte seine alten Sachen im weichen Waldboden und spähte dann vorsichtig durch die Hecken auf den Weg. Alles war menschenleer. Trotz seiner müden Beine, einer den ganzen Körper umfassenden Erschöpfung, fiel ihm nun jeder Schritt deutlich leichter. Die Müdigkeit und die obendrein langsam hereinbrechende Dämmerung ermahnten ihn aber auch, sich Gedanken über einen Schlafplatz zu machen. Schon reifte in Andreas der Plan, in einem Waldstück wie diesem, würde er sein Lager aufschlagen, seinen neuen Schlafsack ausrollen und einfach der Welt entfliehen. Aber noch musste er weiter. Er wollte sich so weit wie möglich aus dem Einzugskreis der Stadt entfernen und somit weniger entdeckbar werden.
Nun stieg die Straße stetig an, rechts immer noch gesäumt von üppigem Wald, links die Sicht freigebend auf die fetten, hügeligen Wiesen auf denen vereinzelt in der Ferne Rinder standen. Schweiß lief Andreas über den Rücken, schwer ging sein Atem. Zunehmen spürte er die Ermüdung. Er war seit seinem Kleiderwechsel erst eine halbe Stunde gegangen und schon sehnte er sich nach einer Pause. Er zwang sich aber, weiter zu gehen und noch nicht aufzugeben. Wie wollte er ein neues Leben beginnen, wenn er nicht einmal die Kraft und das Durchhaltevermögen zum Weglaufen besaß? Also ging er langsam weiter. Und diese Langsamkeit verhalf ihm wieder zu neuer Kraft.
Erst jetzt fielen ihm die Blumen auf, die den Wegrand säumten. Wunderschöne Blüten schmückten die Wiesenblumen, in der Abendsonne Juwelen gleichend. Erstmals roch er auch den Wald, nahm die verschiedensten Gerüche wahr. Düfte, die ihm noch nie aufgefallen waren. Vielleicht versagte der Geruchssinn des Stadtmenschen, wenn er durch die ständige Feinstaub- und Abgasbelastung geschädigt, um das Stadtleben erträglich zu machen. Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte er das Gefühl in einer realen Welt zu leben, geprägt und beeinflusst durch natürliche Vorgänge, Gerüche und auch die Anstrengung die er seinem Körper gerade abverlangte. Diese Eindrücke schienen sich mit der Dämmerung die nun langsam weiter fortschritt, noch verstärkt zu werden. Immer mehr gab nun die verschwindende Sonne den Platz frei für die Kühle der Nacht. Leise klang von unendlich weit weg die Glocke eines Kirchturmes, verkündete vom nahenden Abend.
Er musste sich jetzt im langsam schwindenden Licht einen Schlafplatz suchen. Also schob er sich wieder durch den dichten Heckenbewuchs. Hier war der Hochwald nicht so ausgeprägt wie der den er nachmittags gesehen hatte. Ziemlich dichter Unterwuchs war zwischen den Bäumen aufgegangen, bildeten so kleine Heckeninseln die umwachsen waren mit einer dichten, dicken Moosschicht die ihm nun als Nachtquartier dienen sollte. Alte Fichten- und Tannenbeständen, vereinzelt mit einigen Laubbäumen durchzogen, waren hier mit viel Abstand auf der Fläche verteilt und ermöglichten somit das neu aufkeimende Leben darunter, nahmen aber durch ihre ziemlich dicht stehenden Kronen so viel Licht weg, dass es hier im Wald schon deutlich lichtärmer war, als eben noch auf dem Weg. Verstärkt wurde die zunehmende Dunkelheit auch, durch die Wolken, die sich nun zunehmen vor die verschwindende Sonne legten.
In einem der Jungpflanzeninseln machte sich Andreas sein Lager. Hier war er vor Blicken geschützt. Sorgsam entfernte er alle Äste