Schlagartig verstummte nun der Sturm der Gesichter und er fand sich schließlich in seiner Studentenbude wieder, flankiert von seinen Freunden, von Camillo und Hartmut mit dem Gesicht über einem Teller Spaghetti. Ihrem dürftigen Essen, billig und schnell gemacht, das ihnen damals aber wie ein Festessen schmeckte, bestreut mit Parmesan und mit Maggi verfeinert. Deutlich konnte er die Gerüche von damals riechen, vor allem drängte sich das typische Aroma von Maggi in den Vordergrund und steigerte sich zu einer Duftfahne die ihm den Atem nahm. Schwer atmend erwachte van Geerden.
Halt! War da nicht ein Geräusch gewesen? Oder hatte ihn der Traum genarrt? Leise knackte ein Ast. Angst kam in ihm auf. Er mochte die Dunkelheit nicht. Diese Zeit, die finstere Nacht. Er versuchte sich zu orientieren. Hier im Unterholz konnten seine Augen keinen Lichtstrahl erhaschen. Seine Ohren mussten nun den Dienst übernehmen. Angestrengt horchte er in die stockdunkle Nacht. Kein Geräusch drang zu ihm. Gespenstische Ruhe lag über dem Waldstück. Doch da, ein Rascheln. Schweiß trat auf seine Stirn. Ein Gefühl des Ausgeliefertseins presste seinen Brustkorb wie ein Schraubstock zusammen. Ruhe.
Knack. Ein Steinchen rollte auf dem Weg. Die Furcht drängte nun mit all seiner Macht in sein Bewusstsein. So leise wie möglich zog er den Reißverschluss seines Schlafsacks nach unten. Kalt und feucht drang die nachtkalte Luft nach innen. Vorsichtig griff er nach seiner Taschenlampe und leuchtete ins Unterholz. Nichts. Alles nur ein Hirngespinst. Er spürte wie seine Hand zitterte, der Lichtkegel der Stablampe vor Aufregung über den Boden tanzte. Hier war nichts. Er war alleine. Fröstelnd zog er den Verschluss seiner stoffenen Umhüllung wieder zu und schloss die Augen. Lange lag er noch wach und hörte auf die Geräusche. Lange dauerte es, bis der Schlaf wieder seine Finger nach ihm ausstreckte.
Knack. Erneut riss es ihn hoch. Was war das? Im Unterbewusstsein hatte er den Ton gehört. Sein Puls beschleunigte sich wieder. Stille. Da, ein Geräusch. Deutlich waren Schritte zu hören. Wieder trat gespenstische Ruhe ein. Er lauschte. Wie aus heiterem Himmel durchzuckte ein Lichtblitz die Schwärze der Nacht. »Da! Schaut mal. Da liegt ein Penner«, rief die Stimme eines scheinbar jungen Mannes der hinter der gleisend hellen Lichtquelle zu stehen schien, »da will ich nur mal pissen gehen und dann liegt da ein Penner.« Der Schein der Taschenlampe die ihn anstrahlte, brannte ihm in den Pupillen. Nur durch zwei winzige Schlitze die durch das Zusammenkneifen seiner Augen verblieben, konnte Andreas sehen. Erkennen konnte er jedoch nichts.
»He. Du hattest Recht!«, rief eine zweite Stimme. Aus dem überhellen Lichtstrahl trat nun ein, nein zwei weitere Jugendliche hervor. Sie mochten vielleicht achtzehn, möglicherweise zwanzig Jahre sein. »He Du«, ein blonder Junge, noch nicht richtig der Pubertät entwachsen, trat nun auf Andreas zu, »was machst Du hier?« Mit einem derben Tritt in die Rippen der van Geerden die Luft zum Atmen nahm, schob er sofort den zweiten Satz nach: »Kannst Du nicht antworten? Verstehst Du unsere Sprache nicht?« »Doch, doch. Ich verstehe Euch. Ich schlafe hier!«, röchelte der Gefragte. »Ach, habt Ihr gehört? Er schläft hier«, höhnte der Blonde, »einfach so. Der pennt hier in unserem Wald.« »Schau mal, was er dabei hat«, ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund, »vielleicht hat er was zu trinken dabei.«
Nun wurde es Andreas zu viel. Er versuchte den Reißverschluss nach unten zu ziehen. »Ey, pass auf. Der will da raus.« Schon setzte der Blonde seinen Fuß auf Andreas Brust, machte ein öffnen unmöglich. Heftig wand sich van Geerden, versuchte sich zu befreien. »Schaut mal, wie er sich windet. Wie ein dreckiger, kleiner Wurm«, brüllte einer der Jugendlichen, »Los Du Penner. Sag was Du bist. Ein dreckiger Wurm!« »Lasst mich los«, schrie Andreas. Mit Wucht traf ihn eine Faust die urplötzlich hinter dem gleisenden Licht hervorgeschossen kam, genau auf die Nase. Eine Welle Schmerzen schoss durch seinen Kopf. Sein Nase war noch geschwollen vom Angriff er alten Dame am Nachmittag. Noch mehr schmerzten ihn jedoch das Hohngelächter seiner Peiniger.
»Los. Schau mal nach was der Penner alles dabei hat!« Schon riss ein weiterer Junge den Rucksack auf. »Scheiße. Mein Geld!« Panik erfasste van Geerden. Wenn Sie sein Geld fanden, war er mittellos. Hilflos sah er zu wie der Junge seine Kleider aus dem Rucksack riss. Wild flog seine Unterwäsche ins Unterholz. Der Jugendliche wühlte im Beutel herum. »Scheiße. Der Arsch hat überhaupt nichts zu saufen dabei. Nur wertlosen Scheiß hat er!« Mit einer weit ausholenden Bewegung warf er den Rucksack ins Dickicht.
»Ach lasst doch den dummen, alten Sack« hörte Andreas nun eine eindeutig weibliche Stimme. »Die alte Schwuchtel soll doch hier pennen wenn er will!« Der Druck des Fußes auf seiner Brust wurde nun schwächer und er konnte seine Arme wieder bewegen. Eine Hand fasste nun seinen Kragen und ein dunkel erscheinendes Gesicht kam bis auf wenige Zentimeter vor seine Nase. »Weißt Du, auf was ich jetzt Lust hätte?«, klatschte die Frage, begleitet von winzigkleinen Speicheltröpfchen, in Andreas Gesicht, »Ich frage mich schon die ganze Zeit, wie es ist, einen Penner zu erschlagen.« Van Geerden erstarrte. »Bitte lass Sie verschwinden. Bitte lass es nicht eskalieren!«, flehte er still zu einem Gott den er im normalen Leben niemals beachten würde. Eine Fahne von Alkohol, gemischt mit Zwiebeln und Knoblauch, schlugen ihm entgegen. »Sollen wir mal?«, fragte der vor ihm stehende in Richtung seiner Freunde. Johlend stimmten die jungen Männer ein. Andreas hörte wie Äst abgebrochen wurden. Noch immer blendete ihn der Strahl der Taschenlampe. Dann erscholl die weibliche Stimme erneut: »Ach Ihr Idioten. Lasst den Typ in Ruhe. Es reicht jetzt!« Sofort erstarben die eben noch so aktiven Vorbereitungen auf seinen Tod. Der stinkende Junge der ihn immer noch am Kragen hatte, lockerte seinen Griff: »Na, da hast Du jetzt aber Glück gehabt. Aber wenn Lori das so will.« Sein Griff löste sich nun komplett und van Geerden atmete auf. Eine Sekunde später traf ihn der Fuß des Stinkenden in die Rippen, raubten die Schmerzen seine Denkfähigkeit und seinen Atem.
Als er die Augen wieder öffnete, war das Licht verschwunden. Noch immer konnte er nichts sehen. Lachend und feixend, mit einem Heidenlärm, verschwand die Gruppe in Richtung Straße. Andreas riss den Reißverschluss seines Schlafsacks auf. Trotz seiner Schmerzen gelang es ihm, sich aus der Hülle zu winden. Endlich stand er wieder auf den Beinen. Er griff nach seiner Taschenlampe und begann zu rennen. Es war ihm egal wohin er lief, es war nur wichtig, dass es weg von seinen Peinigern war. Kopflos, von einer Todesangst getrieben, rannte er, fiel immer wieder hin, stieß gegen Äste und Stämme. Erst nach geraumer Zeit blieb er stehen, drückte seinen erhitzten Körper gegen den Stamm einer Fichte, spürte ihre grobe Struktur, roch das harzgetränkte Holz. Sein Atem raste, sein Herz schien jeden Moment von seinem gewohnten Platz fliehen zu wollen.
Lange stand er da, ohne jedes Zeitgefühl, vielleicht Minuten, möglicherweise auch länger. Er lauschte. In der Ferne wurde ein Auto gestartet. Leise knisternd rollten Reifen über groben Schotterbelag. Stille. Herzklopfen, schweres, lautes Atmen. Ruhe. Gedankenfetzen. Zweifel.
Aus welcher Richtung war er überhaupt gekommen? Wo war sein Rucksack? Waren seine Angreifer weg? Seine Gedanken überschlugen sich. Er konnte nichts mehr richtig einschätzen. Waren es die Wolken die nun allmählich dem Mondlicht den Weg freigaben, war es der Morgen der allmählich graute? Grau in Grau lag der Wald nun vor ihm. Alles sah so friedlich aus. Dunkel zog sich eine Spur durch den Wald. Seine Spur. Deutlich erkennbar durch das feuchte, modrige Laub des Vorjahres, das jetzt umgedreht und gewendet, eine klar erkennbare Fährte bildete, seinen Weg preisgab.
Ängstlich, Schritt für Schritt, nur unterbrochen von gelegentlichem Stehen und Lauschen folgte er seiner Spur. Erst als die Dämonen der Dunkelheit vollends vom Licht vertrieben worden waren, fand er seinen Lagerplatz, die Stelle seines wahr gewordenen, nächtlichen Alptraums, wieder. Alles lag nun so friedlich da. Immer wieder sah er sich um. Niemand außer ihm war hier. Ein Blick in seinen Rucksack, ein Abtasten des Bodens und er war sicher, dass alles noch da war. Vorsichtig, sich immer wieder versichernd dass niemand sonst hier war, suchte er seine Sachen zusammen. Säubern und einräumen ging nun schnell. Reisefertig!
Dann trat er durch das Dickicht auf den Weg. Er atmete auf. Sonne drang durch die aufgerissenen Wolken und tauchte den Weg in helles Licht. Es war wie eine Befreiung. Die Geister der Nacht schienen in dem engen Netz des Gestrüpps hängengeblieben zu sein. Eben noch den Gefahren eines frühen Todes ausgesetzt, befreiten ihn die Sonnenstrahlen nun von der Last die noch auf seinen Schultern lag. Er sah sich um. Alles war so friedlich. In der Ferne, aus der Richtung von der er am