Fühl mal, Schätzchen. Ulrike Linnenbrink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrike Linnenbrink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668381
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      Vielleicht liegt es daran, dass ich im Augenblick abgelenkt bin. Dass die Organisation des Wiederaufbaus unseres Hauses mich in Atem hält. Dass ich jede Gelegenheit nutze, um mich aus meinen bedrohlichen Erinnerungen fortzustehlen.

      Doch wenn ich mit mir und meinen Gedanken allein bin, überfällt mich wieder die Angst, tauchen die schrecklichen Bilder wieder auf, spüre ich wieder die Fäuste in meinem Gesicht. Ich ahne, dass alles von vorn beginnen wird, wenn er zu Hause ist, und ich denke fieberhaft über eine andere Lösung nach, über eine Möglichkeit, dem zu entgehen, über Flucht, über einen Ausweg. Aber mir fällt nichts ein, fühle mich wie gelähmt.

      Ich hasse diese Besuche bei ihm. Auch, weil sie mich weich machen, weil sie die Situation für mich verfremden, ihn in ein anderes Licht tauchen. Aber ich muss es tun. Muss den Schein wahren. Schon wegen des Argwohns, den die Polizei gegen mich hegt.

      Sie haben einen Verdacht, ganz offensichtlich. Meine Freundin Helga musste bestätigen, dass ich tatsächlich bei ihr war. Die Prospekte des Reisebüros liegen inzwischen tatsächlich in meinem Kofferraum. Zur Sicherheit. Ich kann nur hoffen, dass die Büroangestellte sich nicht erinnern kann, ob ich am Montag oder am Dienstag bei ihr war.

      Seit meine harte Schale wieder aufgesprungen ist, kann ich nicht verstehen, wie das alles geschehen konnte, und ich frage mich, wie ich den Mut zu einer so ungeheuren Tag aufgebracht habe.

      »Ja, Frau Brink, lassen Sie sich gratulieren.«

      Verdammt! Ich habe es geahnt. Den gleichen Satz hat sie mir schon zweimal gesagt. Damals habe ich mich gefreut, besonders bei Britta, beim ersten Mal.

      »Heißt das ...?« Ich kann es kaum aussprechen. Wie sehr habe ich gehofft, dass ich mich irre.

      »Ja, das heißt, dass Sie wieder schwanger sind.«

      Sie bemerkt mein Entsetzen, zieht erstaunt die Augenbrauen hoch.

      »Freuen Sie sich etwa nicht? Wollten Sie kein drittes Kind?«

      Ich kann nicht antworten, habe ein Gefühl, als wäre mein Mund plötzlich zu klein für meine Zunge.

      »Um Gottes Willen, was ist mit Ihnen? Sie werden ja kalkweiß!« Sie springt aus ihrem Ledersessel, greift nach dem Blutdruck-Messgerät. Ich fühle die kalte, graue Matte an meinem Oberarm und lehne mich zurück. Nur mit Mühe halte ich das Würgen im Hals zurück.

      »Ihr Blutdruck ist ja völlig im Keller!«, ruft sie, nimmt das Stethoskop wieder aus den Ohren und löst die Klettverschlüsse der Manschette an meinem Arm.

      Ich räuspere mich. »Nein, diesmal freue ich mich nicht.«

      »Ist es wegen Ihres Mannes? Ich habe in der Zeitung davon gelesen. Ist es, weil Sie nicht wissen, ob er Ihnen und Ihren Kindern erhalten bleibt? Ich kann mir vorstellen, dass es im Augenblick in Ihrem Leben drunter und drüber geht. Muss eine schreckliche Belastung für Ihre Familie sein.«

      Ich greife gern nach diesem Strohhalm. »Ja, es ist wegen meines Mannes. Ich will auf keinen Fall noch ein Baby, auf gar keinen Fall. Das würde mich im Moment total überfordern.«

      »Ich verstehe. Dass Sie in all Ihrer Sorge jetzt so fühlen, dazu noch schwanger mit den dazugehörigen Stimmungsschwankungen, ist im Grunde ganz normal«, sagt sie. »Denken Sie aber trotzdem noch einmal darüber nach. Ich bitte Sie. Sie sind augenblicklich sehr empfindlich. In ein paar Tagen sieht vielleicht alles schon ganz anders aus.«

      Ich komme kaum hoch. Sie hilft mir aus meinem Stuhl. Ich wanke und mir wird schwarz vor Augen. Sie beeilt sich, meinen Sturz zu verhindern.

      »So lasse ich Sie nicht auf die Straße«, sagt sie. »Sie können sich im Nebenzimmer noch etwas hinlegen und ausruhen. Wenn der Blutdruck sich wieder stabilisiert hat, können Sie gehen.«

      Entschlossen greift sie mir unter den Arm und führt mich nach nebenan zu einer schmalen, weißen Liege. Sie hilft mir hinauf, geht dann in einen Nebenraum. Kurz darauf ist sie mit einer grauen Wolldecke wieder bei mir, hüllt mich darin ein und legt ihre Hand auf meinen Bauch. »Noch bleiben ja ein paar Wochen Zeit, Frau Brink. Aber Sie sollten sich das wirklich noch einmal in Ruhe überlegen.« Ich versuche, sie anzusehen, doch meine Lider sind zu schwer.

      Mein Bewusstsein schwimmt fort, und das einzige, was ich noch spüre, ist der Einstich in meinem linken Arm.

      Fast eine Stunde muss ich geschlafen haben. Jemand klappert im Hintergrund mit Metallgegenständen. Endlich kann ich meine Augen öffnen. Frau Doktor Beckmann steht neben mir und fühlt meinen Puls.

      »Na, wieder da? Sie haben uns ja einen gehörigen Schrecken eingejagt! Kollabieren hier so einfach weg. Ich habe Ihnen ein Kreislaufmittel gespritzt. Hätte nicht gedacht, dass die Nachricht Sie so umhaut. Die meisten Frauen freuen sich darüber. Einige kommen am nächsten Tag sogar mit einer Flasche Sekt vorbei«, versucht sie zu scherzen. »Lassen Sie sich das Ganze doch bitte erst einmal in Ruhe durch den Kopf gehen.«

      Ich ringe mir ein Lächeln ab. Fühle mich ein wenig gestärkt. »Ich werde darüber nachdenken«, sage ich.

      Richard hat das Kopfteil seines Bettes hochgestellt und legt sein Buch zur Seite. Er kann schon wieder sitzen und lesen. Aha, ein weiterer Fortschritt.

      Während ich mich auf dem Hocker neben seinem Bett niederlasse, werfe ich beiläufig einen Blick auf das Buchcover. Er liest etwas über Männer, die lieben lassen. Populärpsychologische Literatur. So so. Die Wochen ohne Alkohol haben offensichtlich seinen Kopf wieder für Ursachenforschung, eventuell sogar selbstkritische Überlegungen freigeschaufelt. In mir keimt eine Spur von Hoffnung.

      Von meinem Besuch bei der Frauenärztin erzähle ich zunächst nichts. Ich weiß noch nicht, wie ich mich entscheiden werde. Nach den Ferien und nach der Zeit bei Elvira werde ich vermutlich klarer sehen.

      »Ach Lisa«, seufzt Richard. Er scheint heute einen sensiblen Tag zu haben. Er greift nach meiner Hand, umschließt sie mit festem Griff, so dass mein reflexartiges Zurückzucken keinen Erfolg hat.

      »Ich weiß gar nicht, was ich dir zuerst sagen soll. Ich habe so viel Zeit zum Nachdenken im Moment.«

      Ja, und keine Gelegenheit, deine Sinne zu betäuben, denke ich bitter.

      »Ich habe so viel falsch gemacht in der letzten Zeit. Eigentlich alles.« Da gebe ich ihm innerlich uneingeschränkt Recht. So ganz kann ich allerdings nicht einordnen, ob er sich im Augenblick in Selbstmitleid

      ergeht, oder ob es wirkliche Reue ist, die sich zu entwickeln scheint, ob er wirklich erfasst, was er seiner Familie angetan hat. Trotzdem spüre ich, wie das Eis in mir zu tauen beginnt.

      »Wenn ich wieder zu Hause bin«, redet er weiter, »fangen wir noch einmal ganz von vorn an, ja?«

      Als ich nicht gleich reagiere, rüttelt er an meinen Arm. »Hast du gehört? Wir werden noch einmal ganz von vorn anfangen.«

      »Die Versicherung will nicht zahlen«, weiche ich aus. »Wegen Eigenverschulden, haben sie geschrieben, weil du im Bett geraucht hast. Hier ...« Ich reiche ihm den Umschlag. Der Brief war auch für mich ein Schlag.

      Er lässt mich los, greift danach und liest. Anschließend sinkt in sein Kissen zurück. »Ach du Scheiße.«

      »Ja, ausgesprochen große Scheiße«, sage ich. »Hast du schon eine Idee, was wir jetzt machen sollen?«

      Er denkt einen Moment nach. »Da ist noch ein Aktien-Depot und ein Schweizer Konto, von dem du nichts weißt«, sagt er zögernd. »Vielleicht reicht das. In meinem Schreibtisch, zweite Schublade rechts oben, müsstest du eine schwarze Ledermappe finden. Bring mir die doch mal mit.« Dann weiten sich seine Augen, und das Blut scheint aus seinem Gesicht zu weichen. »Oder sind die Sachen in meinem Arbeitszimmer etwa auch alle verbrannt?«

      »Nein«, sage ich tonlos, »dort haben nur Ruß und Löschwasser etliches zerstört. Die Möbel sehen fürchterlich aus - auch der Schreibtisch. Aber die Sachen in den Schubladen dürften noch heil sein, die sind ja fest verschlossen