Fühl mal, Schätzchen. Ulrike Linnenbrink. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Ulrike Linnenbrink
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847668381
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      Ich fülle das Glas auf meinem Nachtschränkchen, klopfe dann auffordernd auf den Platz neben mir. »Komm, Schatzl, du wolltest mir doch etwas erzählen.«

      Sofort stürzt sie zu mir herüber, schlingt mir beide Arme um den Hals und beginnt heftig zu schluchzen. »Alles meine Schuld, Mama«, weint sie, »das ist alles meine Schuld.«

      »Deine Schuld? Was ist deine Schuld?« Ich bin etwas verwirrt.

      »Na, das mit Papa! Das ist alles meine Schuld.«

      »Blödsinn! Was soll daran denn deine Schuld sein?«

      Sie schluckt an ihren Tränen. »Ich habe in meinem Zimmer am Sonntag eine Kerze angezündet und sie ganz fest angeschaut.

      Katrin aus meiner Klasse hat gesagt, dass man so zaubern kann. Wenn man sich ganz doll konzentriert und sich dabei ganz fest etwas wünscht, geht das in Erfüllung, hat sie gesagt.«

      Erstaunt tupfe ich ihr beim Zuhören mit meinem Papiertaschentuch übers Gesicht.

      »Und dann«, sie kann kaum weitersprechen, »dann habe ich mir gewünscht, dass Papa stirbt. Ich habe in die Kerze geschaut und mir das ganz fest und ganz lange gewünscht.«

      »Britta«, rüttele ich sie und halte sie an den Schultern ein Stück von mir weg. »Das ist doch Unsinn!« Unglaublich! Sie scheint tatsächlich davon überzeugt zu sein, dass sie das alles bewegt hat! Mit welchem Schuldgefühl muss sie sich seit Tagen herumquälen?

      Ich ziehe sie wieder heran, drücke sie an mich. »So etwas gibt es nicht, mein Schatz. Katrin hat dir Blödsinn erzählt. Du musst nicht alles glauben, was die sagt. Papa ist im Bett mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen. Er ist selbst Schuld, weshalb raucht er auch dauernd im Bett ...?«

      »Aber das machst du doch auch, Mami«, jammert sie an meiner Schulter.

      »Ja, aber ich mache das immer nur dann, wenn ich ganz wach bin und dabei nicht einschlafen kann.«

      Im Grunde hat sie natürlich Recht. Und Richard wäre das ohne mein Zutun auch nicht passiert. Zumindest nicht an diesem Tag ...

      4

      Barfuß wate ich durch sumpfig morastiges Gelände, fühle, wie der schlammige Boden sich zwischen meinen Zehen hindurch drückt. Mein Weg ist gesäumt von unzähligen Teichen, in denen eine träge, dunkle Masse brodelt und Blasen wirft. Sie zerplatzen und geben giftiggrauen Nebel frei, der seine wabernden Finger nach mir auszustrecken scheint. Ich weiß, dass ich den festen Landstreifen gegenüber erreichen muss, um nicht stecken zu bleiben und zu versinken. Plötzlich taucht aus dem Nebel ein alter Sandstein-Turm vor mir auf. Eine schmale Treppe führt hinauf zu einer schweren Holztür. Das Knarren hallt aus dem Nebel zurück, als die Tür sich wie von Geisterhand geführt öffnet. Irgend etwas drängt mich, die abgetretenen Stufen emporzusteigen. Vorsichtig wage ich die ersten Schritte, bin etwa auf halbem Weg nach oben, als eine dunkel gekleidete, gesichtslose Gestalt aus der Tür tritt und mit hoch erhobenem Henkersbeil zu mir herunter steigt. »Du bist schuldig!«, dröhnt eine dunkle Stimme, während das Beil auf mich zu rast ...

      Mein eigener Schrei reißt mich aus dem Schlaf. Es dauert ein paar Sekunden, bis ich die Orientierung wiedergefunden habe. Nur ein Traum, denke ich, Gott sei Dank, nur ein Traum.

      Mir ist übel. Ich werfe meine Bettdecke zurück und taumele hinüber ins Bad. Dort schaffe ich es eben noch, die Toilette zu erreichen.

      Das passiert mir nun seit ein paar Tagen. Hinzu kommt, dass meine Periode seit etwa zwei Wochen überfällig ist. Ich werde doch nicht schon wieder ...? Mit fast sechsunddreißig noch ein Baby? Dazu unter diesen Umständen? Nein, das darf nicht wahr sein!

      Ich habe meine Mutter nicht kommen hören. Ganz plötzlich steht sie im Türrahmen, ihren Morgenrock über der Brust zusammenhaltend. Ich versuche, ihrem Blick auszuweichen, taste nach einem Halt, ziehe mich wieder auf die Beine und setze mich auf den Rand der Badewanne.

      »Hältst du mich eigentlich für blind?«, fragt sie, bindet nun den Gürtel ihres Bademantels zu einer Schleife. »Glaubst du, ich merke nicht, was in dir vorgeht - die ganze Zeit schon? Warum sprichst du nicht mit mir?«

      Der Boden unter mir gerät ins Wanken, das Bad scheint sich in Bewegung zu setzen, zu rotieren. Für einen Moment trübt sich mein Bewusstsein, und ich sacke in mich zusammen. Meine Mutter ist schnell genug bei mir. Sie umklammert mich, gemeinsam rutschen wir an der Badewanne herab auf die Bodenfliesen. Sie drückt meinen Kopf gegen ihre Schulter, streicht mir übers Haar. »Für dich wäre es besser gewesen, wenn er es nicht geschafft hätte, nicht wahr?«, fragt sie leise an mein Ohr.

      Tränen schießen mir in die Augen. Ich nicke nur kraftlos, wühle in der Tasche ihres Morgenmantels nach einem Taschentuch. Ich weiß, dass dort immer eines zu finden ist.

      »Wie lange geht das denn schon so?«, fragt sie.

      Geräuschvoll putze ich mir die Nase. »Wie lange weißt du es denn schon?«

      »Nur so eine Ahnung. Aber seit einigen Monaten kommst du mir sehr verändert vor. Bist immer so ernst und in dich gekehrt. Dann deine ständigen ‚Unfälle‘.«

      Sie stockt einen Moment. »Ich kenne das sehr gut, Kind.«

      Jetzt schaue ich ihr direkt ins Gesicht. »Ich weiß. Du warst vermutlich eine genauso schlechte Schauspielerin wie ich. Wie hast du das nur bis heute ausgehalten?«

      »Seit seinem ersten Schlaganfall hab ich Ruhe«, sagt sie, »da kann er nicht mehr so. Er ist ein alter Mann geworden.«

      »Warum hast du ihn nicht verlassen?«

      Gedankenverloren sieht sie eine Weile stumm vor sich hin. »Ach, weißt du, wir sind früher nicht so schnell auseinander gerannt. Wir haben irgendwie miteinander ausgehalten, schon wegen der Kinder. Was sollte ich auch anfangen - ohne abgeschlossene Berufsausbildung und mit zwei kleinen Kindern? Außerdem könnte ich dich das Gleiche fragen.«

      Ich nicke seufzend. Eine Weile sitzen wir schweigend und eng umschlungen auf dem Boden und spüren unserer Verbundenheit in unserem gemeinsamen Schicksal nach. Draußen zieht langsam die Morgendämmerung herauf.

      »Mein Hintern wird kalt«, sage ich und versuche ein Lächeln.

      »Dann wollen wir mal. Müssen uns hier ja nicht auch noch erkälten«, lächelt sie zurück.

      Ich erhebe mich, reiche ihr beide Hände und ziehe sie vom Boden hoch.

      »Fährst du heute hin?«, fragt sie.

      »Ja, heute Nachmittag. Sie haben ihn verlegt. Der Arzt hat gesagt, dass er nun ganz sicher über den Berg ist. Ich muss mich jedes Mal furchtbar zusammenreißen, habe solche Angst vor diesen Besuchen. Erst konnte ich seinen Anblick nicht ertragen, und jetzt krampft mein Magen, wenn er mir erzählt, dass er sich auf seine Rückkehr freut und nach den Fortschritten am Haus fragt. Wie soll ich denn jemals wieder mit ihm in diesem Haus leben? Wie kann ich überhaupt jemals wieder mit ihm zusammenleben? Ich weiß nicht, was ich tun soll.«

      »Vielleicht solltest du zuerst einmal deine Frauenärztin aufsuchen«, sagt sie mit einem vielsagenden Blick, streicht mir über die Wange und verlässt das Bad. »Ich werde uns Kaffee machen. Ist zwar noch ein bisschen früh, aber schlafen können wir nun doch nicht mehr. Kommst du runter in die Küche?«

      Wieder nicke ich wortlos, und sie steigt die Treppe hinunter.

      Ich gehe zurück in mein Zimmer und beginne damit, mich anzuziehen. Warum schwanke ich nur so?, denke ich dabei, warum pendele ich so entsetzlich mit meinen Gefühlen von einem Extrem ins andere? Einmal droht mein Hass gegen Richard mich fast zu ersticken, dann wieder bin ich froh, dass er überlebt hat, bin erleichtert, wenn eine neue Transplantation vom Körper angenommen wurde, wenn er mich mit einem gequälten Lächeln empfängt. Jedes Bild, das in meinen Gedanken auftaucht, löst eine andere Stimmung aus. Angst, Wehmut, Trauer, Hoffnung.

      Er ist einfach hilflos im Moment und hat so gar nichts mehr von dem bedrohlichen Riesen,