Hüttenkoller. Michael Dohr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Dohr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738052060
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würde bald sein knöchernes Skelett freigeben und ein neues Riff formen, irgendwo am Meeresgrund. Sie stupst ihre Freundin mit einer Zehe an und flüstert : »Thandra, Thandra wach auf!« Frederike wundert sich, warum es ihr nicht mehr gelingen mag, ein simples S richtig auszusprechen und versucht es erneut : »Thandra, Thandra, Thandra!« Verdammt, denkt sie sich und tastet zunächst mit der Zunge und dann mit den Fingern ihren Mundraum ab. Es fühlt sich komisch an. Plötzlich beginnt Sandra zu zucken und zu wimmern. Frederike packt sie an den Schultern und dreht sie auf den Rücken. Auch Sandra sieht mitgenommen aus, ansonsten scheint sie aber nicht weiter verletzt zu sein. Schließlich fällt Frederikes Blick auf Sandras neue Halskette, die an eine Zahnprothese erinnert, und ihre schreckliche Vermutung wird zur grausamen Realität. Beinahe gelähmt vor Verzweiflung schafft sie es nicht, den Blick von den sauber aufgefädelten Zähnen abzuwenden. Unweigerlich muss sie an die harten Jugendjahre denken, in denen ihr eine riesige Apparatur, die einem Vogelkäfig ähnelte, den Kiefer spreizte und einen Schatten ins Gesicht und in die Seele warf. Die tröstenden Worte des Zahnarztes, der meinte, sie sollte doch froh sein, dass der Schatten ihr unsymmetrisches Gesicht verberge, ließen Frederike in eine noch tiefere Depression fallen.

       Auch Sandra kommt langsam zu sich. Sie hat schreckliche Kopfschmerzen und mit den Gefühlsregungen von Frederike weiß sie momentan überhaupt nichts anzufangen. »Frederike, beruhige dich, um Himmels willen! Sag mir lieber, was wir jetzt machen sollen!« Frederike, die, aufgrund ihrer Sprachprobleme, nur noch das Nötigste sagt und jedes S zu vermeiden sucht, meint : »Feuer, mich friert!«

       Sie machen sich auf, um Feuerholz zu sammeln und begeben sich zum nahen Waldrand, wo Bäume und Meer seit Langem ineinander wachsen. Dort fällt ihnen bald auf, dass zahlreiche Meerschweinchen die Bucht bevölkern. Sie sind überall. Auf den Palmen, in den Kokosnüssen und sogar im Meer. Sind ja auch Meerschweinchen, denken sich die beiden und beschließen, einige besonders dicke und altersschwache Exemplare, denen der Tod ohnehin schon aus den Poren kriecht, zu erwürgen, um sich endlich eine Mahlzeit zuzubereiten. Frederike, die seit dem Zahnverlust gezwungen ist, die Nahrung im Ganzen zu schlucken, erinnert sich an die unmanierliche Technik ihres alten Katers Smörebröd und windet sich während des Schluckvorganges wie eine Schlange im weichen Sand. Oft genug hat sie Smörebröd dabei beobachtet und irgendwie scheint es auch bei ihr gut zu funktionieren. Erschöpft und satt schlafen beide ein.

      Am nächsten Morgen wachen sie früh auf. Sie sind neugierig und wollen den Regenwald erkunden. Planlos irren sie herum. Stundenlang – vielleicht sind es auch Tageversuchen sie, den Ausgang zu finden, doch einen Ausgang scheint es nicht zu geben. Überall nur Wald, Insekten und das Gefühl, von allen Seiten permanent unter Beobachtung zu stehen. »Der Wald ist die Heimat der Fliegen und Vagabunden«, hat Frederikes Tante Gundula immer gesagt. Ihr Mann war Förster und eines Tages nicht mehr aus dem Wald zurückgekehrt. Sie vergoss keine Träne, da sie längst wusste, er würde irgendwann dort bleiben. Sprach man sie darauf an, meinte Gundula beiläufig: »Das Leben gibt, das Leben nimmt!« Wie recht sie doch hatte, stellt Frederike fest und lässt in Gedanken die schönen Augenblicke Revue passieren, die sie auf ihrer Reise bisher erlebt haben. Es wäre nur fair, würde sie der Wald jetzt auch holen, wie er vormals ihren Onkel geholt hatte. Das Abenteuer war erlebt, eine Steigerung kaum noch möglich. Das Leben gibt, das Leben nimmt.

       Eines Morgens, Resignation steckt den beiden tief in den Knochen, werden sie von vertrauten Geräuschen aus dem Schlaf gerissen. Es scheinen Trommelschläge zu sein, die aus der Ferne durch den Dschungel hallen. Neugierig machen sich Sandra und Frederike auf den Weg, um den Ursprung der rhythmischen Trommelei zu ergründen, die ihnen, inmitten des wirren Gesanges der Urwaldvögel, wie das Schlagen eines menschlichen Herzens erscheint. Vom vertrauten Leben angezogen, kämpfen sie sich tapfer durch dichtesten Urwald, überqueren kleinere und größere Bäche, die warm sind wie Blut und wie Lebensadern den Wald und seine Bewohner versorgen. Sie wandern auf einen Berg, der am höchsten Punkt unbewaldet ist und den Blick über eine grüne Welt preisgibt. Wald. Soweit das Auge reicht, nichts als Bäume. Wenn es einen Platz gibt auf der Welt, an dem man sich jeden Tag aufs Neue verlieren kann, dann haben sie ihn hier gefunden. Alle paar Meter ritzen sie Markierungen in die Stämme, um im Notfall den Weg zurückzufinden.

       Nach einer gefühlten Unendlichkeit wird der Wald lichter und die beiden rasten schließlich am Rand einer ausgedehnten Lichtung. Im Zentrum erspähen sie eine kleine Ansammlung von Hütten. Schnell sind sich beide einig, Kontakt mit den Bewohnern aufnehmen zu wollen. Sie verlassen den Schutz der Bäume, schälen sich mühsam heraus aus Blättern, Ranken und Zweigen und spazieren langsam auf das Zentrum der Lichtung zu.

       Bald erreichen sie die ersten Hütten und marschieren unbeirrt weiter in Richtung Dorfplatz, wo sich das gesamte Leben abzuspielen scheint. Eine Gruppe älterer Frauen ist mit feinen Stickarbeiten beschäftigt, während ein paar Männer gerade dabei sind, an der Feuerstelle Meerschweinchen zu erschlagen und für die nächste Mahlzeit vorzubereiten. Das Meerschweinchen scheint einen sehr hohen Stellenwert im Dorfleben zu genießen. Die meisten Männer und Frauen tragen überdimensionale Gesichter, die an Meerschweinchen erinnern und aus denen Geräusche dringen von Nagetieren und von Idiotie. Es sind Gesichter, die der Mensch seit jeher trägt. Gesichter, die die moderne Zivilisation so erfolgreich zu verbergen weiß, dass ihre Existenz nur noch aus Erzählungen abgeleitet werden kann. Gesichter, die eine Verbindung darstellen, zwischen Mensch und Natur. Eine Verbindung, die bei den Menschen im Dschungel noch stark ist und unverbraucht. Sandra und Frederike können diese Verbindung spüren, als sie zwischen den Hütten hervortreten und auf den Dorfplatz spazieren. Unter der Dorfbevölkerung bricht Panik aus. Die Frauen und auch manche Männer laufen wild schreiend durch die Gegend. Ihre Angst überträgt sich auf die Schweißerinnen, die wie versteinert stehenbleiben. Eine Gruppe mutiger Dorfkrieger greift indes zu den Waffen und stellt sich Sandra und Frederike entschlossen entgegen. Es ist ein Aufeinandertreffen von Menschen, die sich in ferner Vergangenheit getrennt und in unterschiedlichen Welten entwickelt haben. Mehrfach waren sie sich im Laufe der Geschichte begegnet und selten war es gut ausgegangen. Diesmal ist es anders. Wenn Sandra und Frederike von etwas eine Ahnung haben, dann sei hier wohl das Schweißen angeführt. Auch Menschen könnten geschweißt werden. Das Prinzip bliebe dasselbe. Es müssten lediglich Verbindungspunkte geschaffen werden, die beide Seiten aneinanderheften. Selbstverständlich stellte dies, wie jede Schweißarbeit, kein leichtes Unterfangen dar. Zunächst müssten sämtliche Eitelkeiten fallengelassen werden und Eitelkeiten gibt es zuhauf dieser Tage. Manche Eitelkeit ist dermaßen groß, dass der Mensch, der sich dahinter verbirgt, gar nicht mehr als solcher zu erkennen ist. Dies mag jetzt unglaublich klingen, aber in manchen Straßenzügen sind längst keine Menschen mehr zu finden. Wo früher die Bewohner der Stadt wandelten, schieben sich heute Eitelkeiten dünnhäutig aneinander vorüber. Wehe da, die eine Eitelkeit stößt an die andere. Es könnte kaum etwas Schlimmeres passieren. Schrill und splitternd schreien sie dann, die Eitelkeiten. Wie im Kirchenchor, nur tausendmal so falsch. Auch Sandra und Frederike schreien sich gemeinsam mit ihren indigenen Bekannten die Eitelkeiten aus dem Leib, bis nur noch der pure Mensch übrig bleibt. Und der pure Mensch, der versteht sich. Der pure Mensch kennt keine Sprachbarriere, der kennt keine kulturelle Divergenz. Mit einem Mal ist kein verbaler Austausch mehr von Nöten, um die Gedanken seines Gegenübers auszulesen. Zahlreichen Schrecken der Weltgeschichte liegen unglaubliche Missverständnisse zugrunde, die vermeidbar gewesen wären, hätten sich die Menschen rechtzeitig ihrer ausufernden Eitelkeiten entledigt. Es ist immer dasselbe. Die ganze Welt eine einzige Eitelkeit, die ganze Welt ein einziges Missverständnis.

       Als pure Menschen voll Weltweisheit stehen sich Sandra, Frederike und die Dorfbevölkerung nun gegenüber. Ohne Dekoration, ohne Missverständnisse, ohne Eitelkeit, ohne Angst. Ganz deutlich offenbart sich ihnen das Leben des jeweils anderen. Sandra und Frederike erkennen die schicksalhafte Verbindung, die die Dorfbewohner mit den Meerschweinchen eingegangen sind. Das Meerschweinchen ist ihre Religion, ihre Identität, ihre Lebensgrundlage. Die beiden erkennen auch, dass diese Lebensgrundlage bedroht ist. Dass seit Langem schon schwarzer Ruß, wie Sandra und Frederike ihn aus ihrer Fabrik kennen, auf den Pflanzen des Waldes zu finden ist und die Meerschweinchen daran zugrunde gehen. »El morte negro« wird er von den Dorfbewohnern genannt. Einen