Hüttenkoller. Michael Dohr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Dohr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738052060
Скачать книгу
Ich kann mich einfach an nichts Genaueres erinnern. Macht nichts. Diese Buchstaben sind ein Zeichen und der Roman mein neuer Weg. Mein neues Leben. Meine Auszeit. Meine Möglichkeit, jemand zu sein, der ich nie war. Ich darf keinen Moment mehr vergeuden, muss endlich anfangen zu schreiben.

      Langsam versuche ich mich in meine Geschichte hineinzudenken und fange an, erste Ideen und vor allem Protagonisten herauszuarbeiten. Zunächst fällt mir ein Herr mit Dackel ein. Er könnte mein Hauptdarsteller sein. Viel zu einfach – oder doch nicht? Ich überlege weiter. Etwas Besseres fällt mir nicht ein und mich übermannt ein ungutes Gefühl. Ein Gefühl, als wäre ich ein Auslaufmodell. Eine alte Gerätschaft, der die Ersatzteile fehlten, ginge sie in die Brüche. Ein Museumsstück, das nur vom Staub der Jahre zusammengehalten wurde. Noch hier, aber doch schon eine Erinnerung. Wie furchtbar! Oder gar eine Erlösung? Nein, doch furchtbar. Ohne Umwege und mit der Angst im Nacken beginne ich also.

       Versuch 1

       Wenn Herr Trosborg früh morgens seine Wohnung verlässt, um mit dem struppigen Dackel Alfredo Gassi zu gehen, ärgert er sich zunächst über die Post, die wieder einmal nicht aufzufinden ist. Dann führt ihn sein Weg in ein kleines Gartenabteil unweit der Wohnung. Er hat es seit nunmehr dreißig Jahren angemietet, weil er besonders gerne frisches Gemüse isst. Das makellos aussehende Gemüse aus dem Supermarkt vertrage er nicht, meint er. Da stoße es ihm immer sauer auf. Auch das vom Biobauern, der jeden Freitag seinen Verkaufsstand am Marktplatz aufbaut, könne er nicht essen, denn davon bekäme er schreckliche Blähungen. »Das sind die biologischen Düngemittel«, behauptet er mit Überzeugung und beginnt die jungen Tomatenstöcke zu gießen, die er vor zwei Wochen gepflanzt hat. Sie sind beinahe zu groß für ihr Alter und wie alle Pflanzen am Grundstück in einem makellosen Zustand. Der gesamte Garten scheint einer Ordnung zu unterliegen, die jeden Besucher unweigerlich in die Rolle des Eindringlings zwängt, sodass sich die Schuldfrage im Falle einer geknickten Blume oder eines zerquetschten Regenwurms erst gar nicht stellt. Man ist schuld, sobald man den Garten betreten hat. Es ist unter anderem wohl auf diese Tatsache zurückzuführen, dass es seit geraumer Zeit keine Besucher mehr gibt, was bedauerlich ist, da sich das ästhetische Potenzial des Gartens kaum von der Hand weisen lässt.

       Alles ist in rechteckige Beete unterteilt, welche die exakt gleichen Ausmaße aufweisen. Trittsteine aus poliertem, beigem Naturstein verleihen den Beeten ihr mediterranes Aussehen und lassen die gesamte Anlage noch geometrischer wirken. Auf eine lange und beschwerliche Odyssee quer durch Spanien hat sich Herr Trosborg seinerzeit wegen der Trittsteine begeben und hat damit leichtsinnig die Gesundheit des damals noch jungen Alfredo aufs Spiel gesetzt, dem das mediterrane Klima nicht gut bekommen ist. Besonders die spanische Hundefuttermarke »el calor del sur«, was soviel heißt wie »die Hitze des Südens«, war für den jungen Dackelrüden nur äußerst schwer zu verdauen. Wenn Alfredo heute jemanden spanisch sprechen hört, geht er sofort zum Angriff über und versucht auf diese Weise, sein spanisches Trauma aufzuarbeiten.

       Als Herr Trosborg mit dem Gießen fertig ist, ruft er Alfredo herbei, der in der Zwischenzeit ein kurzes Nickerchen unter dem Hollunderstrauch gemacht hat. Leicht schlaftrunken torkelt er heran und Herrchen und Hund setzen ihren gemütlichen Spaziergang fort.

       Sie schlendern mit Bedacht vorbei am alten Russenfriedhof unweit des Flusses, machen kurz Halt beim kleinen Lebensmittelladen des exotischen Herrn Clerì, der immer ein Stückchen französische Frühstückswurst »extrafein« für Alfredo parat hat und lassen sich schließlich im Café Belvedere nieder, das einen besonders guten Ruf genießt. Herr Trosborg bestellt einen Cappuccino, ein Stück edle Maronitorte mit Sahne und die Tageszeitung, während sich Alfredo mit einem halbvollen Wassernapf zufriedengeben muss. Nur kurz steckt er seine Schnauze hinein und legt sich anschließend, scheinbar beleidigt und schmollend, unter den Tisch.

       Herr Trosborg widmet sich indes der Zeitung und ärgert sich schon auf der zweiten Seite über die für ihn wieder einmal nicht nachvollziehbare Regionalpolitik : Ein Park solle geschlossen werden, da die Erhaltung die Stadt zu teuer komme. In Zeiten wie diesen müsse man sparen und könne nicht vom Steuerzahler erwarten, für ein aufgeblasenes Netzwerk an städtischen Grünflächen aufzukommen. Die Pflege der zahlreichen Blumenbeete sei schlichtweg zu teuer, erklärte der Bürgermeister bei einer kürzlich einberufenen Pressekonferenz nüchtern und merkte an, dass Beton auf lange Sicht günstiger sei, da man diesen eben nicht ständig gießen müsse. Da könne man nichts machen. Herr Trosborg ist wütend, weil der Park auf seiner täglichen Gassirunde liegt und er sich nun einen neuen Weg suchen muss. Eine kleine Umleitung sozusagen. Für die meisten Menschen würde dies wohl kein Problem darstellen, aber Herrn Trosborg bereiten Veränderungen jeglicher Art immense Schwierigkeiten.

       Seinen Anfang nahm das bereits in der frühen Kindheit. Als er von seiner Mutter entwöhnt werden sollte, wäre er drei Mal fast verhungert. Er wollte einfach keine andere Nahrung zu sich nehmen. Noch mit sieben Jahren versuchte er, während die Mutter schlief, immer wieder an ihren chronisch wunden Brüsten zu nuckeln.

       Als Herr Trosborg dreizehn Jahre alt war, mussten seine Eltern aus finanziellen Gründen die große Wohnung verkaufen, in der sie seit seiner Geburt gelebt hatten, und die Familie zog in eine bescheidenere Unterkunft. Diese Ortsveränderung war für Herrn Trosborg ziemlich schwer zu verkraften. Noch drei Jahre nach dem Umzug besuchte er die Familie, welche die alte Wohnung erworben hatte, jeden Tag und übernachtete öfters – eingerollt wie eine trächtige Katze – vor der Eingangstür.

      Mit sechzehn Jahren begann Herr Trosborg dann eine Lehre als Hutmacher. Nach einer Woche wusste er, dass es nicht das Richtige für ihn war. Die Arbeitsabläufe fand er langweilig, die Hüte gefielen ihm nicht und seinen Chef mochte er auch nicht. Trotzdem hielt er die Lehre durch. Absolvierte sogar die Prüfung zum Hutmachermeister und übernahm den Laden, als sein Chef in Rente ging. Bis zu seiner eigenen Pensionierung wiederum fertigte Herr Trosborg Tausende Hüte an, von denen er einen hässlicher fand als den anderen, arbeitete mit Kollegen zusammen, die er nicht ausstehen konnte und sperrte jeden Morgen einen Laden auf, dessen alleiniger Anblick seinen Magen verrückt spielen ließ. Mehr als ein Mal musste er sich bei Arbeitsbeginn übergeben. Tatsache ist: Hat Herr Trosborg einmal mit etwas begonnen, kann er so einfach nicht mehr damit aufhören.

       Und gerade aufgrund dieses Hanges zu fixen Abläufen und Strukturen lässt auch der Gedanke an eine neue Gassirunde mit Dackel Alfredo seinen Puls nach oben schnellen und Schweißperlen auf seiner Stirn wachsen. Vielleicht lenkt der Bürgermeister ja noch ein, denkt sich Herr Trosborg voller Hoffnung und ruft den Kellner, um zu zahlen. Exakt fünf Euro fünfzig Cent darf es ausmachen. Das war schon immer so, und in der Welt des Herrn Trosborg würde das für immer so bleiben. Herr Trosborg reicht dem Kellner einen Zehn-Euro-Schein und sagt : »Machen wir sechs Euro!« Auch dies ein lang erprobtes Ritual.

       Dackel Alfredo, der mittlerweile schon einige Jährchen auf dem Rücken hat, bewegt seinen von Arthritis versteiften Körper mühsam unter dem Tisch hervor und das eingespielte Team macht sich langsam auf den Weg zurück zur Wohnung, die sich in einer wenig befahrenen Seitenstraße befindet. Neben dem schmalen Gehsteig sind zahlreiche Autos geparkt. Nur wenige Meter vor dem Wohnungseingang bleibt Herr Trosborg mit seinem Dackel vor einem weißen Oldtimer Baujahr Schnee stehen. Er blickt nach links, dann nach rechts, als ob er sich vergewissern wolle, dass er unbeobachtet sei. Plötzlich räuspert er sich gründlich und mit einem Mal spuckt er einen dicken Batzen soliden Schleims auf die Windschutzscheibe des alten Autos und spaziert, als ob nichts gewesen wäre, gemächlich weiter zur Eingangstür. Das macht er schon so, seit er sich erinnern kann. Warum, das weiß er beim besten Willen nicht. Sein Vater hat das auch immer so gemacht und sein Großvater ebenso. Wem der weiße Wagen gehört, das weiß er nicht. Interessiert ihn auch gar nicht. Wenn der Wagen einmal nicht mehr vor seiner Wohnung stünde, das wäre schlimm. Wo sollte er dann hinspucken?

       Rückblick :

       Der Vater von Herrn Trosborg wuchs auf einem Bauernhof auf, den seine Familie bereits seit Generationen voller Hingabe und Überzeugung bewirtschaftete. Es war ein großer Hof mit viel Weidefläche, Wald und Ackerland.