Hüttenkoller. Michael Dohr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Dohr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738052060
Скачать книгу
schon wieder vergessen und weitermachen wie so oft zuvor. Die Räder würden sich weiterdrehen. Erbärmlich und langsam. Wir würden jeder Veränderung mit Argwohn entgegenblicken und an der Vergangenheit festhalten wie ein Koala-Bär an seiner Mutter. Auch ich mache weiter und starte meinen zweiten Versuch. Diesmal mit dem Anspruch, einen Abenteuerroman zu verfassen.

      Playa de fufu

       Kapitel 2

       Versuch 2

       Huanita conquistador della playa de fufu ist eine annähernd zahnlose Frau. Als Mitglied eines kleinen autonom lebenden bolivianischen Urwaldvolkes ist sie lange nicht mehr mit der Außenwelt in Berührung gekommen. Ihre Zähne hat sie während einer ausgedehnten Reise verloren. Nicht etwa, weil sie ihr von der Fäulnis geraubt worden wären, nein, ganz im Gegenteil, gesund und kräftig waren sie dazumal, die Zähne von Huanita. Es war das Leben, das sie ihr genommen hat. Eine Verkettung von Ereignissen. Ereignisse, die sie auch tief in den Urwald führten.

       Heute ist es ein ruhiges, beschauliches Leben. Ein Leben im Einklang mit der Natur, die, so muss man zugeben, einiges furchtbar Spannendes zu bieten hat. Besonders im Bereich der Katzenartigen. Zu erwähnen wäre hier zum Beispiel die Existenz der drittgrößten Raubkatze der Erde, des majestätischen Jaguar (panthera onca), dem man den Wunsch zu überleben schon lange von den Augen ablesen kann. Er ist Namensgeber eines noblen britischen Automobilherstellers und hat somit seinen Zweck erfüllt. Jetzt kann er nur noch darauf warten sich im Halblicht des Dschungels aufzulösen, wie der Nebel, der ihn auf seinen Streifzügen oft begleitet hat.

       Aber zurück zu Huanita conquistador della playa de fufu. Es stellt sich die Frage, was die liebe Signorita Huanita etwa mit dem wilden Jaguar zu tun habe. Nun, es ist die Sehnsucht, die beide aneinander bindet. Die Sehnsucht nach Leben, die Huanita in den Dschungel und den Jaguar an den Rand des Aussterbens gedrängt hat. Eine Sehnsucht, die die Menschen dazu veranlasst, sich die Natur an die kahlen Wände ihrer Häuser zu nageln, um ihnen eine Kälte und Leere zu nehmen, die an den Tod erinnert. So wandern die Bewohner des Dschungels langsam in die Städte und Vororte, die immer mehr zum Dschungel werden und bald mehr gefährdete Arten beherbergen dürften, als der Dschungel selbst. Den Tapir (tapirus terrestris), den Riesenotter (pteronura brasiliensis) oder eben den Jaguar (panthera onca).

       Unterbrechung Versuch 2

      Irgendetwas scheint mir erheblich zuzusetzen. Blockiert meine Konzentration. Jetzt habe ich doch gerade erst beschlossen, massentauglicher zu schreiben und dann fange ich mit lateinischen Tiernamen an, die wahrscheinlich die drei bis vier Zoologen interessieren werden, die sich unter meiner Leserschaft befinden mögen, sonst aber niemanden. Es fällt mir schwer, die Konzentration zu halten. Mein Geist und mein Körper driften langsam, aber stetig auseinander. Immer mehr leerer Raum schiebt sich dazwischen und es ist zu befürchten, dass die Verbindung über kurz oder lang vollkommen abreißen wird. Ein Seil wäre von Nöten, um beide aneinanderzubinden. Gut, das kann jedem passieren. Ich mache trotzdem weiter. Vielleicht ist es schon morgen leichter. Vielleicht kommt es, das Licht. Es wird mir den Weg weisen und alles wendet sich zum Besseren. Nicht mehr heiß und schwer würde es sich dann anfühlen. Leicht wären die Tage, wie feiner Stoff, durch den man hindurchgreifen könnte, ohne Widerstand, ohne ihn zu zerstören. Ich würde bald die richtigen Entscheidungen treffen und ich würde vorankommen. Irgendwie müsste es schließlich weitergehen. Ob mit oder ohne mich. Das Leben würde weitermachen. Grausam womöglich und ungerecht, aber es würde voranschreiten und daran könnte selbst ich nichts ändern. Es ist der Lauf der Dinge. Egal, wie aussichtslos die Lage, wie verzweifelt die Protagonisten. Weitermachen. Immer weitermachen.

       Fortsetzung Versuch 2

      Nachdem wir uns einen Überblick der einmaligen Fauna des großen Regenwaldes verschafft haben, kehren wir zurück zu Signorita Huanita conquistador della playa de fufu. Eigentlich heißt sie ja Frederike Wörms. Aufgewachsen im Ruhrpott, absolviert Frederike eine Lehre zur Schweißerin und arbeitet für einige Jahre in einem von Ruß überzogenen, international erfolgreichen Industriebetrieb. Sie schafft es aufgrund ihrer äußerst präzise ausgeführten Schweißnähte zu regionaler Bekanntheit und wird mehrfach nominiert für den »Verschmelzer Impèrial«, den begehrten Oscar der Schweißer-Szene. Trotz ihres beruflichen Erfolges fühlt sich Frederike Wörms innerlich zunehmend leer und schrecklich antriebslos. Sie tritt einer kürzlich gegründeten Selbsthilfegruppe für Schweißerinnen bei und lernt dort Sandra Müller kennen. Nach unzähligen durchzechten Tagen und Nächten sowie einigen pseudopsychologischen Gesprächen über die Bedeutung von Currywurst im urbanen Gesellschaftsgefüge setzt sich langsam aber stetig ein Gedanke in Sandras und Frederikes Köpfen fest, der dem bodenständigen Steuerzahler gleichermaßen unsolidarisch wie bewundernswert erscheint. Die beiden beschließen nämlich, dem tristen und rußig schwarzen Berufsalltag im Pott ein für alle Mal zu entfliehen. Sie kaufen sich ein kleines Boot und an einem besonders düsteren Montagmorgenes muss einer jener Montage gewesen sein, an denen man einfach nur sterben möchtesteigen sie ein und fahren los. Ohne wenn und aber, ohne Reiseversicherung, ohne Ziel und ohne den freundlichen Nachbarn Steffen zu fragen, ob er sich nicht um Smörebröd, den uralten Kater von Frederike kümmern möge. Der wird es schon irgendwie schaffen, denkt sie sich. Ist immer ein harter Knochen gewesen und von allen Katzen in der näheren Umgebung ist er es, der ständig die dicksten Mäuse fängt. Nur beim Kauen hat er schon mit einigen gröberen Problemen zu kämpfen. Nach all den Jahren ist Smörebröd lediglich ein Zahn geblieben. Es ist ein Eckzahn, der ihm bei der Jagd zum Festhalten der Beute dienlich ist, beim Zerlegen derselben jedoch völlig versagt. So muss er, einer Schlange gleich, die Maus in einem Stück hinunterwürgen, was wahrlich keinen besonders schönen Anblick bietet. Bis zu zwei Stunden kann das Spektakel dauern, das aus der Nachbarschaft immer wieder zahlreiche Schaulustige anlockt. Smörebröd windet sich und schnauft, liegt mal auf dem Rücken, mal auf dem Bauch, zuckt mit den Beinen, dann liegt er still, atmet kaum. Für fünf Minuten, zehn Minuten, fünfzehn Minuten oder länger, die Maus immer noch gut sichtbar im Rachen steckend. Oft wurde er für tot erklärt und doch überraschte er die faszinierten Zuschauer stets mit seinem enormen Durchhaltevermögen. Schlussendlich verschwindet die Maus immer im Hals des rötlich getigerten Katers und wenn nur noch die nackte Schwanzspitze des Nagetiers zu sehen ist, wissen die Leute, der alte Halunke hat es wieder einmal geschafft. Sogar das Fernsehen war schon öfters da, um dem Ereignis beizuwohnen. »Der Schlangenkater aus dem Pott«, lautete der reißerische Aufmacher des regionalen Senders, der die Story gleich an drei aufeinanderfolgenden Tagen in den Abendnachrichten brachte. Auch ein Angebot aus Amerika gab es bereits. Ein Zirkus am Stadtrand von Las Vegas wollte Smörebröd in sein Programm aufnehmen. Die Amerikaner würden ihn lieben, schwärmte der Zirkusdirektor entzückt und bot keine schlechte Summe für den alten Haudegen. Frederike wusste allerdings, dass das aufregende und hektische Zirkusleben Smörebröd nicht allzu gut bekommen würde, ist er doch von Natur aus faul und liebt es, in Ruhe gelassen zu werden. Auf Reisen würde er diese Ruhe niemals finden und so ist es für den bequemen Kater vermutlich auch das Beste, zurückzubleiben, um weiterhin den Mäusen in der Nachbarschaft nachstellen zu können. Eines Tages wird er ersticken, das ist so sicher, wie das Amen im Gebet. Irgendwann wird jene Maus kommen, die ihm ebenbürtig ist. Sie wird ihm im Halse stecken bleiben und sein Schicksal wird besiegelt sein. Doch dieses Schicksal ist fern und ungewiss. So ungewiss wie das Abenteuer, das Sandra und Frederike in der Ferne erwartet.

       Zunächst geht es eine Weile die Ruhr hinunter. Sie lassen sich einfach treiben und leben wie junge Vögel unbeschwert in den Tag hinein. Das Wetter ist schön, die Temperaturen meist angenehm. Es ist Mitte Mai. Binnen kurzer Zeit erreicht das Boot der Abenteurerinnen die Ruhrmündung und setzt seine Fahrt im wesentlich größeren Rhein fort. Beeindruckt vom mächtigen Strom werden die beiden Damen demütig, gleichzeitig jedoch auch ein klein wenig ehrgeizig und sie beschließen, dem Verlauf des Rheins bis zur Mündung in die Nordsee zu folgen und anschließend Kurs aufs offene Meer zu nehmen. Zu lange haben sie sich durch Regeln und Einschränkungen, nervige Arbeitszeiten, seelenlose Vorgesetze und das generelle Alkohol- und Rauchverbot während der laufenden Schweißarbeiten massiv unterdrücken lassen. Jetzt wollen