Hüttenkoller. Michael Dohr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Michael Dohr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738052060
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als Familienclan zu bezeichnenden Bauerngeschlechts. Familie Trosborg versorgte eine große Zahl an Kühen, Schweinen, Pferden, Hühnern, Gänsen sowie einige räudige Hofhunde. Besonders stolz waren die Trosborgs aber auf ihr fruchtbares Weideland, das von zahlreichen Quellen und kleinen Bächen feinädrig durchzogen war. Der Wasserreichtum sorgte dafür, dass die Weiden der erfolgreichen Bauernfamilie immer etwas grüner waren als die ihrer Nachbarn. Jahrelang ergoss sich das Wasser in Strömen über die Ländereien der Trosborgs.

       Dann kam das Jahr 1925. Alles fing ganz normal an. Viel Regen im April, viel Sonne im Mai. Im Juni blieb dann plötzlich der lang prognostizierte Niederschlag aus, genau wie im Juli und August. Trockene Luft aus Afrika saugte wie ein Schwamm alle Feuchtigkeit aus dem einst fruchtbaren Boden und ließ die Weideflächen und Maisfelder nach und nach vertrocknen. Bald glich das Land einer Wüste. Die Trosborgs kamen zunächst noch mit einem blauen Auge davon, denn die größte ihrer Quellen war nicht versiegt und sie konnten dadurch einen Teil der Bewässerung aufrechterhalten. Schließlich hörte aber auch diese Quelle auf, Wasser zu liefern. Seltsamerweise fing zum exakt selben Zeitpunkt die Quelle des Nachbarn wieder an zu sprudeln. Eine Mischung aus kolportierter Bauernschläue und Blödheit ließ den Nachbarsbauern im einzigen Wirtshaus des Dorfes erzählen (er muss etwas angeheitert gewesen sein), dass seine Quelle seit vergangenem Sonntag sprudle wie noch nie zuvor. Außerdem habe er seitdem bei der Quelle intensiven Rosenduft vernommen und glaube nun fest daran, die Heilige Jungfrau Maria persönlich habe ihm gesegnetes Wasser im Überfluss beschert.

       »Was war geschehen?«, fragten sich die Trosborgs, die dem plötzlichen Wasserreichtum des Nachbarhofes eher skeptisch gegenüberstanden. Die Geschichte mit der Jungfrau Maria kam ihnen ebenfalls ziemlich verdächtig vor und so inspizierten sie ihre Quelle eingehend. Sie folgten dem Verlauf des Wassers und gar nicht weit oberhalb des mittlerweile fast ausgetrockneten Sammelbeckens fiel dem Urgroßvater von Herrn Trosborg ein dickes Rohr auf, das vor Kurzem mit Sicherheit noch nicht da gewesen war. Viel Mühe hatte man sich bei seiner Tarnung nicht gegeben. Lediglich vereinzelt verdeckten schüttere Fichtenzweige den Blick auf die Rohrleitung, deren Verlauf sich mühelos nachvollziehen ließ. Ohne Umwege führte die neue Leitung zum nahegelegenen Hof der Familie Stockbröd. Direkt bei deren Quellbecken fand das Rohr sein Ende und beförderte reichlich Wasser zur Nachbarsfamilie. Somit wurde unumstößlich belegt, dass das Wunder, von dem Herr Stockbröd gesprochen hatte, höchst weltlicher, ja sogar krimineller Natur war.

       Selbst der Rosenduft, der Bauer Stockbröd in der Nase gekitzelt hatte, kam ganz eindeutig vom großen, heftig blühenden Rosenstock, der direkt neben dem Quellbecken gedieh. Als Familie Trosborg ihre Nachbarn im Anschluss an die Entdeckung mit dem Vorwurf des Wasserraubes konfrontierte, waren diese zutiefst empört und drohten umgehend mit gerichtlichen Konsequenzen. Üble Nachrede und Verleumdung lautete die Anklage, die der Anwalt der Stockbröds nun schnell verfasste. Auch Familie Trosborg sah sich gezwungen, einen Anwalt einzuschalten. Bald waren die Fronten vollkommen verhärtet und man traf sich mit beiden Anwälten zur Beweissichtung vor Ort. Sogar die mondäne Richterin Esperanza hatte ihr stilvoll eingerichtetes Büro für den eigenwilligen Fall ausnahmsweise verlassen und war einigermaßen gespannt auf die Aussagen der beiden Streitparteien.

       Zunächst wurde am Hof der Stockbröds das Quellbecken besichtigt. Dann wurde das Rohr eingehend in Augenschein genommen. Nach einer guten Stunde des Marschierens und Diskutierens hatte sich Richterin Esperanza einen hinlänglichen Überblick verschafft und sprach letztendlich ein für eine der beiden Familien vernichtendes Machtwort. Sie stellte eindeutig den Tatverdacht des Wasserraubes fest und verpflichtete die Stockbröds zur sofortigen, rückstandsfreien Entfernung des Rohres und zur Zahlung einer nicht unerheblichen Geldstrafe. Rasch breiteten sich blinde Wut und Uneinsichtigkeit bei Familie Stockbröd aus. Urgroßvater Stockbröd verfiel plötzlich und unwiderruflich seinen animalischen Instinkten, sprang wie tollwütiges Getier in Richtung von Urgroßvater Trosborg, verbiss sich knurrend in dessen ohnedies fleischarmen Unterschenkel und untermauerte in expressiver Weise die von Darwin aufgestellte Theorie über die Evolution der Arten, wonach der Mensch vom Affen abstamme. Auch der alte Trosborg begegnete der Attacke in reflexartiger Rückständigkeit und biss sofort zurück. Schlussendlich war selbst die sonst so gefasste und besonnen agierende Richterin Esperanza in ein wildes Gebeiße, Gezanke und Gehaue verwickelt. Ungefähr zwei Wochen später hatten alle das Krankenhaus wieder verlassen. Die körperlichen Wunden waren großteils verheilt, die seelischen jedoch saßen derart tief, dass eine Therapie gänzlich zwecklos erschien. Die einzig vernünftige Lösung war eine Fehde, die nun schon seit vielen, vielen Jahrzehnten andauert und das Schicksal der Familie Trosborg und das der Familie Stockbröd bis heute eng verbindet. Beide Familien waren in weiterer Folge gezwungen, aufgrund der ständig steigenden Anwaltskosten, ihre Höfe zu verkaufen. Sie hätten ein neues Leben beginnen können. Sie hätten voneinander ablassen und, weit voneinander entfernt, neu anfangen können. Sie taten es nicht. Als beide Familien nach dem Verkauf in eine Wohnung zogen, befanden sie sich wiederum in direkter Nachbarschaft und hielten die Fehde durch kleine, perfide Animositäten am Laufen. Während Familie Stockbröd regelmäßig die gesamte Post der Trosborgs stahl, spuckten die Trosborgs jeden Tag beim Morgenspaziergang auf die Windschutzscheibe des weißen Oldtimers von Familie Stockbröd. Generation für Generation wurden diese starren Verhaltensmuster weitergegeben und dauern gänzlich unverändert bis heute an.

       Die Trosborgs und die Stockbröds, eine Geschichte der Feindseligkeiten, der gegenseitigen Anschuldigungen und der gescheiterten Diplomatie. Eine Geschichte von zwei Familien, die Vergeltung suchten und irgendwann schlichtweg vergaßen, einen Schlussstrich zu ziehen. Ende.

      Ein Schlussstrich? Wäre das auch für mich das Richtige? Alles bisher Geschehene abhaken. Eine Exit-Strategie vorbereiten. Der Weg raus sollte vorab geplant sein. Rückzug, wie beim Militär. Das Schlachtfeld verlassen. Vorbei an denen, die den richtigen Zeitpunkt übersehen haben und daliegen in ihren Uniformen, ohne Gliedmaßen, ohne Zukunft. Durchbohrt von Kugeln, die dermaßen glänzen, dass man meinen könnte, sie wären aus Gold. Vorbei an den Geschützen und Panzern, die bald überrollt werden würden von der Natur. Einer Natur, ebenso unbarmherzig wie die Menschen, die die Geschütze und Panzer aus falschem Stolz bedienten. Einer Natur, die dem jungen Leben rechtzeitig signalisiert, es möge sich zurückziehen aus des Mutters Leib und in die Welt fallen ohne Vorbehalt. Einer Natur, die ihren Wesen einen Plan in den Körper brennt, der sie den Weg nach Hause finden lässt, wo sie sich vermehren oder sterben können. Einer Natur, die manchen das Verweilen und anderen das Weiterziehen in die Gene schreibt. Jene, die weiterziehen, sehen die Welt und sehnen sich nach der Heimat. Jene, die verweilen, verdammen die Heimat und sehnen sich nach der Welt.

      Was würde ich zurücklassen? Welchen Plan hatte die Natur für mich vorgesehen? Was war geschehen? Schwierig. Besser, ich konzentriere mich auf das, was vor mir liegt, oder noch vernünftiger: auf das Hier und Jetzt.

      Mit meinem ersten Versuch bin ich grundsätzlich ganz zufrieden. Zumindest rede ich mir das voller Überzeugung ein. Vielleicht etwas mehr Melodramatik und, was nie schaden kann, ein Hauch Perversion. Es könnte tatsächlich sein, dass ich durch Formulierungen wie »die mondäne Richterin Esperanza« oder »edle Maronitorte« das Massenpublikum zur Gänze ausklammere. Vielmehr müsste es doch heißen »die spitzbrüstige Richterin Resi« und allerhöchstens dürfte von einer »fetten, abgefahrenen Maronitorte« die Rede sein. Wenn überhaupt. Wer isst schon eine »Maronitorte«? Kann sich nur um verstaubte Monarchisten handeln. Eher müsste hier zum Beispiel eine »deftige Schwedenbombe« verwendet werden. Die kennt jeder und die ist auch an der Tankstelle nebenan zu bekommen. Dadurch hätte ich erheblich mehr potentielle Leser. Aber gut, es handelt sich um meinen ersten Versuch. Da muss man Lehrgeld zahlen. Das kann schließlich alles noch überarbeitet und verfeinert werden. Ich probiere es einfach noch mal und dann noch mal und ein weiteres Mal, bis ich mich in diesem erdrückenden Kreislauf befinde, den die Menschen lieben. Immer gleich und doch immer anders. Wie der Sternenhimmel. So beständig, so unendlich. Die Dinosaurier haben zu ihm hochgesehen, jetzt tun wir es und bald werden es andere tun. Immer ist er da. So schön. So fern. Und wir sind hier und müssen uns mit den banalen Problemen herumschlagen, die uns unglaublich wichtig erscheinen. Würden wir sie nur öfter mit dem Sternenhimmel vergleichen. Schnell wäre klar, dass wir uns geirrt haben. Dass wir falsch liegen