Beispielhaft. Claus Karst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus Karst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738073881
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… als Rigoletto geschminkt … tot …“

      Holtz ließ sie stehen, rannte in die Garderobe und fand Tessis Meldung bestätigt. Fassungslos starrte er seinen toten Freund mit ungläubigem Erstaunen an. Erst nach einer halben Stunde wurde ihm bewusst, dass jetzt einige Dinge zu erledigen waren. Er rief die Polizei und Professor König an. Frieda van Geel erreichte er nicht, nahm sich jedoch vor, sie später zu besuchen.

      Somit war die Premiere ein unwiederholbares Ereignis gewesen. Als Liborio Stupia die Probleme mit seinen Stimmbändern bewältigt hatte, wurde der Rigoletto wieder ins Programm genommen. Der Schatten Wotans drückte jedoch am Abend der Wiederaufnahme auf die Stimmung im Haus. Caroline Bogaert fand auf ihrem Schminktisch einen Fotorahmen mit dem Porträt Wotans vor. Tessi Braun hatte ihn dort aufgestellt und schluchzte: „Warum nur hat er uns verlassen? Warum wollte er nicht mehr für uns singen? Nie war er besser gewesen.“

      Caro wusste darauf keine Antwort, zu tief war sie vom Tod ihres Freundes betroffen. Fragend starrte sie auf das Foto, als könne es ihr eine Antwort geben. Plötzlich beschlich sie das Gefühl, dass Bewegung in das Foto gekommen war. Sie vermeinte deutlich zu sehen, wie sich Wotans Lippen öffneten und er ihr mit einem scheuen Lächeln zuflüsterte: „Sing, Liebes, sing! Sing für mich. Ich bin bei dir, werde immer bei dir sein!“

      Erschrocken fuhr sie hoch, als die letzten zehn Minuten vor Vorstellungsbeginn über den Garderobenlautsprecher angekündigt wurden.

      „Ja“, rief sie, „ich singe für dich, Liebster“, und sie verscheuchte von ihren Stimmbändern die Trauer, die sich bleischwer auf ihnen abgelegt hatte. Sie gab sich der festen Übereugung hin, dass er in den Kulissen dabei sein würde.

      Die Vorstellung reichte nicht an die Premiere heran, so sehr sich Liborio Stupia, Caro und Thomas Armsden auch bemühten. Wotans Schatten war entschieden zu lang. Dennoch entsprach die Qualität des Gebotenen immer noch höchsten Ansprüchen. Johannes Holtz zeigte sich jedenfalls zufrieden.

      Als Caro nach der Vorstellung in ihre Garderobe zurückkam, fand sie einen Rosenstrauß auf ihrem Tisch vor. Auf einer beiliegenden Karte stand zu lesen, und zwar unbestreitbar in Wotans Handschrift: „Sorry, my love, I finally had to do it my way. W.“

      Caro stierte minutenlang auf die Notiz, schaute in den Spiegel, in dem sie nur verschwommen ihr Gesicht wahrnahm, und fragte sich: „Warum? … Warum nur habe ich ihm nie gesagt, wie sehr ich ihn liebe?“

      Auf der stillen Beerdigung in einem kleinen Kreis, worum Frieda van Geel gebeten hatte, vereinbarten Caro und Lara, sich zu einem Gespräch zu treffen. Beide verspürten das Bedürfnis, sich auszusprechen und ein paar Dinge zu klären. Sie trafen sich in einem Café.

      Lara erzählte Caro als Erstes, dass ein Bote ihr zwei Tage zuvor einen Brief ihres Vaters überbracht hätte, der allerdings – nach dem Datum zu urteilen – schon vor längerer Zeit geschrieben worden war.

      „Und was schrieb er dir?“, wollte Caro wissen, „falls ich das wissen darf.“

      Lara überlegte eine Weile, bevor sie antwortete: „Er versuchte, ein langjähriges Missverständnis zwischen ihm und mir auszuräumen. Ich weiß zwar, dass er mich über alles geliebt hat, doch diese Meinungsverschiedenheit hat unser Verhältnis lange Zeit getrübt … Und er fragte, ob ich mich an die Geschichte erinnere von dem alten Elefanten, die er mir als Kind immer erzählt hatte.“

      „Eine Elefantengeschichte?“

      „Ja, von einem alt gewordenen Elefanten, der eines Tages zu seiner Freude erkannte, dass seine Jungen stark und kraftvoll geworden waren, es nunmehr zuwege bringen würden, ohne ihn ihren Weg zu gehen. Daraufhin beschloss er, sich auf seinen letzten langen Marsch zu begeben.“

      „Hast du eine Ahnung, was er damit gemeint haben könnte?“, fragte Caro.

      „Nicht wirklich, wenn ich es mir inzwischen auch denken kann … Offensichtlich hat gespürt, dass die Zeit für seinen letzten Weg gekommen war. Er hatte sich zuletzt sehr zurückgezogen. Auch war er nie besonders mitteilsam, was seine Gefühle anging. Aber ich habe nicht mit ihm zusammengewohnt, wie du weißt. Vielleicht weiß meine Mutter mehr. Aber bei ihr sitzt der Schock über den plötzlichen Tod noch zu tief, um über meinen Vater zu sprechen.“

      Nach einer Pause, in der beide an den Toten dachten, nahm Caro das Gespräch wieder auf. „Wir können uns alle glücklich schätzen, ihn noch einmal so auf der Bühne erlebt zu haben, Lara. Er war nie besser als an dem Abend. In dieser Vorstellung hat er alles gegeben, mehr sogar noch, er hat an seine langjährigen Fans seine Künstlerseele verschenkt, hat sie ihnen geradezu geopfert. Weißt du, was ich vermute?“

      „Was?“

      „Er hat für dich gesungen, Lara!“

      „Für mich …? Meinst du nicht eher für dich?“

      „Nein“, sagte Caro, „für dich! Beiläufig hatte er mir mal Andeutungen gemacht über das Problem, das euch belastet hatte – ein Problem übrigens, das nie eins war. Ich habe ihn zwar geliebt, daraus mache ich kein Geheimnis, und du bist erwachsen genug, um dafür Verständnis aufzubringen. Nie und nimmer hätte ich mich freilich in eure Familie gedrängt. Er war mir als Freund und Mentor viel zu wertvoll, als dass ich unsere Beziehung durch eine Affäre einer Gefahr des Scheiterns ausgesetzt hätte. Möglicherweise hast du bis heute nicht das Glück gehabt, sein Wesen richtig kennenzulernen, weil er ständig auf Achse war. Glaub mir, es gab für ihn nur eine Beziehung, die für ihn selbst Erotisches barg: die Musik. Mit ihr war er vermählt, nichts anderes zählte. Er war übrigens stets ein wenig betrübt darüber, dass du seine Liebe zur klassischen Musik nicht teiltest, wenn ich das einmal nebenher erwähnen darf. Du hast ihn allerdings sehr glücklich gemacht, indem du zu der Vorstellung gekommen bist. Ich denke, er hat sich nichts sehnlicher gewünscht. Das hat er mir in der Pause gesagt. Mir ist aufgefallen, wie ein Ruck durch ihn ging, als er dich im Parkett sitzen sah. Danach lief er zu dieser einzigartigen Höchstform auf, die den Abend kennzeichnete. Er hatte so sehr darauf gehofft, dass du erscheinst, wie er mir vor der Vorstellung anvertraute, wollte aber keinen Druck auf dich ausüben. Leider bot sich mir wegen seines Zusammenbruchs danach keine Gelegenheit mehr, mit ihm zu sprechen, was wir uns eigentlich vorgenommen hatten. Heute wissen wir, dass der Vorhang für den großen Sänger Wotan van Geel an diesem Abend gefallen war. Für immer. Endgültig.“

      Nach einer Weile sagte Lara: „Dann verstehe ich jetzt seinen Hinweis auf die Elefantengeschichte. Er hatte an einer Kreuzung seines Schicksalweges gestanden, gespürt, welchen Weg er einschlagen musste. Aber warum hat er nie darüber gesprochen?“

      „Glaub mir, Lara, er hat sich viele Gedanken über sein Leben gemacht. Bei dem letzten Glas Wein, das wir miteinander getrunken haben, hat er mir einen Einblick in sein Seelenleben gewährt. Er ließ durchblicken, schon lange Zeit einen immer stärker werdenden Drang zu verspüren, geradezu eine Besessenheit, seine Lebensbestimmung zu ergründen. Er war, wie viele Künstler, sein Leben lang nicht er selbst. Er erzählte, schon als Kind fremdbestimmt worden zu sein wie alle Kinder, die sich den Zwängen der Schule, des Berufs und der gesellschaftlichen Konventionen unterzuordnen hatten. Nach der Schule hatte er zwar das Glück, den Beruf zu erlernen, der seinen Vorstellungen entsprach, doch merkte er mit jeder neuen Rolle, dass er immer nur spielte. Jetzt spielen …, wie der Bajazzo in der gleichnamigen Oper singt, sagte er. Er hatte zu lachen, selbst wenn ihm nicht nach Lachen zumute war. Er hatte zu weinen, wenn er lieber gelacht hätte. Sein Leben lang ist er in Rollen geschlüpft, musste abends auf den Brettern jemand anderer sein. Gut, die Bretter haben ihm die Welt bedeutet, auch die Rollen, die er verkörpert hat. Dennoch hat er sich immer häufiger die Frage gestellt: Kann das der Sinn meines Lebens sein? Ist es, war es meine Bestimmung, den Hofnarren zu spielen, weil mein Beruf, meine Berufung dies mir auferlegte? Ist es, war es meine einzige Bestimmung, andere mit meinem Gesang, mit meinem Spiel zu erfreuen? Er wusste es nicht, wollte es aber wissen. Damit stellte sich für ihn ergänzend die Frage: Bin ich meiner Bestimmung gerecht geworden oder habe ich gefehlt, mich möglicherweise gar versündigt? Habe ich andere Lebensaufgaben nicht erkannt oder ignoriert, mich vielleicht zu wenig um meine Familie gekümmert? Warten auf mich noch Aufgaben, die zu bewältigen ich bereit sein muss? Er wollte eine