Beispielhaft. Claus Karst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus Karst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738073881
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schien, ein Klanginstrument herzustellen und darauf zu musizieren. Wunderschön klang die Melodie in seinen kindlichen Ohren. Musik kannte er bis dato nur vom Gesang seiner Mutter in der Küche und ein paar Kinderliedern, die sie ihm beigebracht hatte. Nach einer Weile fragte Tadek den Jungen, ob er nicht ebenfalls einmal versuchen wolle, auf der Flöte zu spielen. Er zeigte ihm die notwendigen Fingergriffe und wiederholte den Anfang des Liedes, das er zuletzt hatte ertönen lassen. Hermann merkte sich genau, wie sich Tadeks Finger auf den Löchern bewegten, denn er besaß ein gutes Gedächtnis und konnte zu jener Zeit bereits Gedichte aufsagen, die seine Mutter ihm eingetrichtert hatte. Dann steckte er das Mundstück zwischen seine Lippen, um dem Spiel seines Lehrers nachzueifern. Doch gab die Flöte nur ein paar schrille Töne her.

      „Musst legen deine Fingerchen genau mitten auf die Grifflöcher, Jungchen!“, forderte Tadek ihn auf und half ihm, seine kleinen, noch ungelenken Finger richtig zu platzieren. Es dauerte nicht lange, bis es auch dem Jungen gelang, der Flöte reine Töne zu entlocken. Nachdem sie noch ein wenig geübt hatten, konnte er bereits eine erste kleine Melodie auf der Flöte spielen.

      Stolz und glücklich ging er abends mit seiner neuen Errungenschaft heim, erklärte seiner Mutter mit erstaunlicher Bestimmtheit, ein Musiker werden zu wollen, und trug ihr die gelernte Weise vor. Nachdem er auf ihre Frage hin geschildert hatte, wie er in den Besitz der Flöte gelangt war und wer ihn in ihrem Spiel unterwiesen hatte, fuhr sie ihn an: „Dieser Mann ist kein Umgang für dich! Ich verbiete dir jeden weiteren Kontakt mit ihm. Sollte ich dich jemals mit ihm erwischen, gibt es Hausarrest!“

      Hermann fand für ihre Aufregung keine Erklärung und erhielt auf seine Frage nach dem Warum? keine einleuchtende Antwort. Daher ließ er es erst einmal bei dem Verbot bewenden. Er wusste, dass es sich in seiner kleinen Welt kaum vermeiden ließ, Tadek über den Weg zu laufen. Jedes Mal sprach der Knecht ihn freundlich an, wenn sie sich begegneten. So blieb es nicht aus, dass Hermanns Zuneigung zu ihm von Tag zu Tag anwuchs. Tadek beschäftigte sich zu jener Zeit mehr mit ihm als sein Vater, der viel und lange zu arbeiten hatte und dem es an der notwendigen Zeit mangelte.

      Eines Tages zog Tadek eine Mundharmonika aus seiner Jackentasche hervor und entlockte ihr kunstfertig wunderschöne Melodien. Auch sang er mit seiner tiefen Bassstimme dem Jungen schwermütige Lieder aus seiner Heimat vor. Tadek verfügte über ein unerschöpfliches Repertoire und legte – im Nachhinein betrachtet – den Grundstock für Hermanns lebenslange Liebe zur Musik, die in dem kindlichen Wunsch gipfelte, selbst ebenfalls ein Musiker zu werden.

      Ganz ungetrübt blieb das Verhältnis der beiden indes nicht. Dies hing mit einer Begebenheit zusammen, auf die der Junge nicht vorbereitet war. Er schlich einmal wieder in die Scheune auf der Suche nach Abenteuern, als ein heftiges Stöhnen seine Neugier anlockte. Auf Zehenspitzen schlich er sich näher und erblickte hinter einigen aufgeschichteten Strohballen zwei halb nackte Körper, die etwas miteinander taten, wie er es ähnlich einmal bei Pferden gesehen hatte, was ihm trotz seiner nachdrücklichen Fragen niemand hatte erklären wollen: Tadek und Olga! Wie vom Blitz getroffen, verharrte er hinter einem Strohballen, bis er ein kräftiges Niesen nicht unterdrücken konnte. Die beiden fuhren hoch, Olga errötete und bedeckte schamhaft ihre Blöße. Tadek indes meisterte die Situation sofort auf seine Weise.

      „Kleiner Bruder“, so nannte er ihn inzwischen, „komm her!“ Er breitete seine Arme aus. „Du wirst mich doch nicht verraten wollen? Du kannst doch ein Geheimnis bewahren?“

      „Ja, Tadek“, stotterte Hermann verwirrt.

      „Dann darfst du niemandem erzählen, dass du Olga und mich hier gesehen hast. Versprich es mir!“

      „Ja, ich verspreche es.“

      „Großes Ehrenwort?“

      „Großes Ehrenwort!“

      Hermann rannte in den Wald. Er wollte allein sein, denn er fürchtete, dass ihm anzumerken war, was er erlebt hatte. Die Krallen der Eifersucht griffen nach ihm, Eifersucht auf Olga, die seinen Tadek zu dem Unaussprechlichem verführt hatte. Tadek hatte er längst für sich vereinnahmt, konnte sich nicht ausmalen, dass sein Freund auch Interesse für andere Menschen zeigte. Er war nicht bereit, ihn mit anderen zu teilen, obwohl auch Olga immer freundlich zu ihm gewesen war, ihm öfter etwas Leckeres zum Naschen zugesteckt hatte. Groll und Trauer nahmen gleichermaßen Besitz von ihm. In den nächsten Tagen machte er einen großen Bogen um das Gut, um nicht der Gefahr ausgesetzt zu sein, Tadek in die Arme zu laufen.

      Erst nach und nach kam er über das Vorgefallene hinweg, zumal er Tadek und Olga nie mehr zusammen sah und er ihm als Spielkamerad fehlte. Seine Musik vermisste er, ebenso die Geschichten von den unsichtbaren Bewohnern des Waldes, den Geistern, den Elfen und Faunen, die Tadek ihm spannend zu erzählen wusste. Er glaubte sie inzwischen hinter jedem Baum und Strauch zu erblicken, wenn er auf Abenteuersuche unterwegs war. Sogar nachts spukten sie durch seine kindlichen Träume.

      Eines Tages fragte Tadek ihn: „Wollen wir bauen einen Windvogel?“

      „Ja, gerne!“, antwortete Hermann begeistert und voller Vorfreude.

      In seiner Kammer hatte Tadek Holzleisten, Papier und Kordel bereitliegen, notwendige Bauteile, die er angesammelt hatte. Die Leisten baute er zu einem Kreuz zusammen, das größer als sein kleiner Freund war und dessen Enden er mit der Kordel verband, sodass eine Raute entstand. Dann befestigte er darauf mit stabilem Packpapier die Segelfläche und beklebte sie mit farbigen Augen, einer dicken, roten Nase wie der des Altbauern und einem Mund, sodass der Vogel ein freundliches Aussehen erhielt. Am unteren Ende wurde ein langer Schwanz mit farbigen Papierschleifen angehängt, der den Vogel im Gleichgewicht halten sollte.

      Bald schon konnten sie erste Flugversuche unternehmen. Gemeinsam ließen sie den Windvogel an einer langen Leine am Himmel schweben. „Weißt du, kleiner Bruder“, sagte Tadek eines Tages nachdenklich, „wenn Krieg ist vorüber, werde ich mit diesem Vogel zurück in meine Heimat fliegen.“

      Wann immer der Bub an diese Worte dachte, wurde ihm traurig ums Herz.

      Wenige Wochen später erfuhr Hermann aus den Gesprächen seiner Eltern, dass der Krieg ein Ende gefunden hatte. Die Tage waren von nun an ungestörter Arbeit vorbehalten, die Nächte vergönnten der Bevölkerung wieder Schlaf und Erholung. Scheinwerferstrahlen leuchteten nicht mehr den Nachthimmel nach feindlichen Bombern ab, die Sirenen hatten aufgehört, die Bevölkerung vor ihrem Herannahen zu warnen. Auch auf die Verdunkelung der Fenster abends konnte verzichtet werden.

      Eines Abends kam sein Vater nach Hause und erkundigte sich bei seiner Mutter, ob sie die entsetzliche Neuigkeit vom Gut schon gehört hätte?

      „Was gibt es denn?“, fragte sie neugierig. Ihr war noch nichts zu Ohren gekommen.

      Hermanns Vater berichtete: „Als das Personal beim Abendbrot saß, kam der Alte völlig betrunken in die Stube getorkelt, sein Gewehr, das er aus Furcht vor flüchtigen Zwangsarbeitern jetzt ständig bei sich trug, unterm Arm. Er legte damit auf diesen Tadek an und soll ihn angeschrien haben: ‚Du verdammtes Russenschwein fährst nicht als Sieger nach Hause. Eher knall ich dich ab. Ich kann dein ewiges Grinsen schon lange nicht mehr ertragen.’ Er beabsichtigte offensichtlich allen Ernstes, Tadek zu erschießen. Der jedoch soll ganz ruhig aufgestanden sein und plötzlich eine Pistole in der Hand gehabt haben … Dann ging alles ganz schnell: Der Alte feuerte hasserfüllt, traf jedoch seines Zustands wegen nur den Schrank an der Wand, in dem das Porzellan zu Bruch ging. Im gleichen Moment stürmte die Jungbäuerin in die Stube, bullerig, wie es ihre Art ist. Die Tür traf Tadek dabei am Arm, ein Schuss löste sich aus seiner Pistole. Der Alte sank getroffen zu Boden, wo er letztlich verblutete, weil die herbeigerufene ärztliche Hilfe nicht mehr rechtzeitig eintraf. Tadek indes nutzte die entstandene Panik und machte sich aus dem Staub. Niemand hielt ihn auf. Obwohl die Behörden nach ihm fahnden, ist bisher noch keine Spur von ihm entdeckt worden. Er wird sich wohl in den Wäldern versteckt halten.“

      „Nun, ich kann nicht behaupten, dass der Alte ein solches Ende nicht verdient gehabt hätte“, meinte die Mutter, errötete schamhaft bei diesen Worten und bekreuzigte sich mehrmals, denn sie war eine fromme Frau. „Aber dieser Tadek besaß kein Recht zur Selbstjustiz. Derlei Zeiten sollten in Deutschland jetzt ein für alle Mal vorbei