Beispielhaft. Claus Karst. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Claus Karst
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738073881
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trat ein und umarmte ihn. Ihre weibliche Intuition ließ sie spüren, dass eine nicht greifbare Veränderung mit Wotan vorgegangen war. Besorgt fragte sie: „Ist etwas nicht in Ordnung, mein Lieber?“

      Wotan erwiderte mit einem Stirnrunzeln: „Was lässt dich das denn vermuten? Was soll nicht in Ordnung sein? Ich freue mich auf den Abend, auf unseren Abend.“

      Zärtlich nahm er sie in seine Arme und küsste sie in einem plötzlich aufflammenden Ausbruch seiner unerfüllten Liebe. Caro erwiderte seinen Kuss, etwas mehr als nur freundschaftlich, suchte dann aber, erschrocken über sich selbst, das Weite mit dem Hinweis, sich noch in Ruhe einstimmen zu müssen.

      Die Vorbereitungen hinter dem Vorhang nahmen ihren gewohnt routinierten Gang. Trotz der Bedeutung dieser Vorstellung kam keine Hektik auf. Johannes Holtz, heute Abend Intendant, Regisseur und Dirigent in Personalunion, wünschte allen Beteiligten auf und hinter der Bühne ein gutes Gelingen und klopfte ein letztes Mal laut hörbar auf Holz, bevor er hinunter in den Raum der Musiker ging, um letzte Anweisungen zu erteilen.

      Wotan zeigte sich begeistert, von der Mühe, die Tessi Braun sich mit seiner Maske gab. Sie half ihm in das Kleidungsstück eines Hofnarren des 16. Jahrhunderts – wie auch die übrige Ausstattung der Zeit nachempfunden war. Zum Schluss rückte sie ihm das Buckelkissen zurecht und fixierte es. Sie wusste nur zu gut, welch körperliche Anstrengung Wotan bevorstand, den ganzen Abend in gebeugter Haltung zu gestalten. Abschließend musterte sie ihr Werk noch einmal gründlich und sagte: „Perfetto, Signore, und toi, toi, toi.“

      „Herzlichen Dank, Tessi“, antwortete Wotan. „Was machte ich nur ohne dich? Die Narrenkappe setze ich mir später selbst auf.“

      Während Tessi sich noch um ein paar andere Mitwirkende kümmerte, schloss Wotan sein Einsingen mit ein paar leichten Übungen ab.

      Die Karten für die Galavorstellung hatten zum Teil ausgelost werden müssen, so groß war die Nachfrage gewesen. Ein gut gelauntes Publikum füllte das Theater in Erwartung eines unvergesslichen Opernabends. In einer der Ranglogen nahm eine rotblonde Frau von etwa dreißig Jahren in einem aufregend schwarzen Cocktailkleid Platz. Sie zog die bewundernden Blicke zahlreicher männlicher Besucher auf sich. Ihre leuchtenden Augen und wachen Ohren waren indes nur darauf erpicht, Wotan auf der Bühne zu erleben.

      Als Johannes Holtz pünktlich auf die Sekunde den Orchestergraben betrat und auf sein Podest stieg, wurde er bereits mit stürmischem Applaus begrüßt als Dank für die vielen schönen Abende, mit denen er seine Besucher stets beglückt hatte. Nachdem erwartungsvolle Stille im Auditorium eingekehrt war, hob er den Taktstock. Das Orchester schenkte ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit.

      Schon die Ouvertüre ließ keine Zweifel aufkommen, dass die Musiker in Bestform waren und gewillt, zum Gelingen des Abends ihren Beitrag zu leisten. Im Zuschauerraum sprang sofort der Funke der Begeisterung über. Jetzt konnte eigentlich nichts mehr schiefgehen. Auch der Chor in seinen prachtvollen Kostümierungen wollte nicht nachstehen, was jeder Zuhörer bereits zu Beginn des 1. Aktes beim Fest am Hofe des Herzogs von Mantua vernehmen konnte.

      Der erste große Auftritt war an diesem Abend Thomas Armsden in seiner Rolle des Herzogs von Mantua vorbehalten, einem Weiberhelden par excellence. Nachdem er einigen Schönen den Hof gemacht hatte, immer wieder angestachelt durch seinen Hofnarren, der buckelnd um ihn herumscharwenzelte, setzte der Herzog zu einer Ballade Questa o quella per me sono pari … (Freundlich blick ich …) an. Ein erster donnernder Zwischenapplaus belohnte seine Darbietung.

      Wotan zeigte sich präsent, wieselte von Gruppe zu Gruppe und spielte sein perfides Spiel mit den Höflingen, vergoss dämonisch seinen Hohn und Spott über die Hofschranzen, die ihn wegen seiner Behinderung verlachten. Als der Graf von Monterone auftrat, um vom Herzog Genugtuung für die Verführung seiner Tochter einzufordern, zeigte sich Wotan in seinem Element. In Szenen wie diesen war sein Können als Schauspieler gefragt. Er äffte ihn nach und verhöhnte ihn grausam, woraufhin der Graf ihn verfluchte und Rigoletto betroffen zusammenbrach.

      Als sich der Vorhang am Ende des 1. Aktes senkte, brandete ein erster Beifallssturm auf. In diesem Moment registrierte Wotan, dass Caro sich schon eine Zeit lang in der Kulisse versteckt gehalten hatte. Da nur eine kurze Umbaupause anstand, ging Wotan nicht zurück in seine Garderobe, sondern ließ sich nur eine Flasche Wasser reichen.

      Caro kam auf ihn zugelaufen, umarmte und gratulierte ihm. „Du bist grandios, mein Lieber. Für mich bist du immer noch der Rigoletto schlechthin“, flüsterte sie ihm zu und küsste ihn.

      Der 2. Akt forderte Wotans Schauspielkunst im höchsten Maße heraus. Er fühlte sich, getragen von der Begeisterung, in seinem Element und wurde ihr in allen Belangen gerecht. Jeder Ausdruck auf seinem Gesicht, jeder Ton, den er sang, jeder Schritt, den er machte, jede Bewegung, alles stimmte.

      Thomas Armsden sang und spielte zwar hervorragend mit, doch an diesem Abend konnte er mit Caro und Wotan nicht mithalten..

      Stehend dargebrachter, lang anhaltender Beifall dankte den Akteuren auf der Bühne, bevor sie nach einigen Vorhängen in die Pause entlassen wurden. Caro und Wotan offenbarten durch ihr intensives Spiel und ihren Gesang an diesem denkwürdigen Abend, was aus den dargestellten Figuren herauszuholen ist. Selbst Verdi als Zuschauer wäre erstaunt gewesen, auf welch eindrucksvolle Weise inspirierte Künstler seine Vorlage auszulegen fähig sein konnten.

      Atemlos hatte das fachkundige Publikum das Geschehen auf der Bühne verfolgt, manchem Besucher war ein Schauder den Rücken hinuntergelaufen. Die schöne Frau mit den rotblonden Haaren in der Rangloge hatte aufmerksam durch ihr Opernglas das Geschehen auf der Bühne verfolgt, das innige Zusammenwirken von Wotan und Caroline Bogaert erkannt und gedeutet. Ihre Begegnung mit Wotan sah sie durch diese Erkenntnis nunmehr in einem anderen Licht. Auch sie hatte, wie andere auch, mit Tränen der Rührung zu kämpfen.

      In der Lobby vermerkten die anwesenden Fachjournalisten, dass das Theater, soweit sie sich erinnern konnten, noch nie zuvor eine solch intensive Aufführung erlebt hatte, eine Meinung, die das Publikum voll und ganz teilte.

      Wotan kam sich vor, als schwebe er in musischen Sphären weit über allen Wirklichkeiten. Beim letzten Vorhang hatte er Eileen in der Loge entdeckt. Er erblickte auch seine Frau, die mit steinernem Gesicht dem Geschehen auf der Bühne folgte. Sie hatte die Gerüchte, die sich um ihn und Caro rankten, immer für bare Münze genommen. Auch seine Tochter, die neben seiner Frau saß, hatte die weite Anreise in Kauf genommen, ohne ihm das vorher verraten zu haben, um ihren Vater noch einmal auf der Bühne live zu erleben. Ein Gefühl unendlichen Glücks erfüllte ihn.

      Im 3. Akt stand sein großer Auftritt bevor. Er schwelgte in Vorfreude darauf. Jedermann wartete gespannt darauf. „Cortigiani, vil razza damnata, per qual prezzo vendeste il mio bene? …“ (Hofschranzen, verdammtes, feiges Geschlecht, zu welchem Preis habt ihr mein Gut verkauft? …) schallte seine Stimme durchs Haus. Von jeder Wand, aus jeder Ecke des Hauses hallte seine Verzweiflung wider. Ein jeder spürte und erlebte beim Vortrag dieser Arie, dass Wotan sich inzwischen voll und ganz in Rigoletto verwandelt hatte. Er war nicht mehr der Sänger Wotan van Geel, er war nur noch der bucklige, verzweifelte Hofnarr Rigoletto auf der Suche nach seiner gekidnappten Tochter. Nach der Arie erhob sich das Publikum von den Sitzen und verlangte mit unüberhörbaren Da-Capo-Rufen nach einer Wiederholung. Holtz brach das Dirigat ab, verständigte sich mit dem Orchester und Wotan, der daraufhin die Arie nochmals sang.

      Der 4. Akt trieb das tragische Geschehen dem Höhepunkt zu. Nach der Umbaupause führte Rigoletto seiner Tochter die Treulosigkeit des Herzogs vor Augen, der sich inzwischen an die Schwester des Banditen Sparafucile herangemacht hatte. Er forderte Gilda auf, die Stadt zu verlassen. Sparafucile engagierte er, den verhassten Herzog zu ermorden, der wegen eines Unwetters in der Herberge übernachtete. Die Schwester des Meuchelmörders überredete ihn jedoch, ihr den Liebhaber zu belassen. Sie beschlossen, den ersten Gast zu ermorden, der die Herberge betritt. Gilda hatte gelauscht und opferte sich, da sie den Herzog noch immer liebte. Als das Unwetter abgeklungen war, erschien Rigoletto, um den Sack mit der vermeintlichen Leiche des Herzogs in den nahen Fluss zu werfen. Da jedoch hörte er dessen Stimme, als er singend das Haus verließ. Zitternd öffnete er den Sack und erkannte voller Entsetzen seine im Sterben liegende Tochter, die ihn um