Marsjahr. Sven Hauth. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sven Hauth
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742783653
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eine Statistenrolle spielte. Seitdem sie dieses Buschmädchen adoptiert hatte, landete er kaum noch einen Stich. Früher hatte Rachel nicht genug von ihm bekommen. Aber seit einem Monat waren sie nie mehr allein - wie ein Kleinkind musste die Dschungellady überall mit hingeschleppt werden. Jeder seiner Annäherungsversuche erstarb unter Rachels gezischten "nicht jetzt", "nicht hier". Sie blockte seine gierigen Hände ab und schob ihn von sich wie ein lästiges Insekt.

      Am Tag an dem Brian von der Ankunft des Buschmädchens erfahren hatte, war die vage Hoffnung auf einen flotten Dreier aufgekeimt. Und wieder zerstoben, als Rachel ihm den Neuankömmling präsentierte. Was als exotische, vollbusige Schönheit durch seine nächtlichen Fantasien gespukt war, entpuppte sich als bleiches Bügelbrett in Pennerklamotten, so prickelnd wie ein Schluck Lebertran.

      Brian hatte die Schnauze gestrichen voll. Das war doch alles Bullshit. Er, ein Mann der Tat, fühlte sich nur noch als Spielball von Kräften, die außerhalb seiner Kontrolle lagen.

      Die Lehrerin betrat das Labor. Eine neue. Auf einmal schöpfte Brian neuen Mut. Wie sie mit zittrigen Fingern ihren Namen auf die Tafel kritzelte, ihre geduckte Statur, das alberne blümchenverzierte Notizbuch auf dem Pult - mit ihr würde er leichtes Spiel haben.

      Um seine Theorie zu testen, spuckte er einen Strahl Kautabak auf den Boden. Die Lehrerin drehte sich nach dem schmatzenden Geräusch um. Ihr Blick fiel erst auf den braunen Fleck am Boden, dann auf Brian. Er sah ihr fest in die Augen. Schon machte sie den Mund auf, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber anders und wandte sich wieder der Tafel zu.

      Also hatte Brian Recht gehabt. Schwäche spürte er instinktiv, und er wusste sie zu nutzen. Ja, man konnte sagen, dass er eine Schwäche für Schwäche hatte. Er musste über sein eigenes Wortspiel lächeln.

      Das Lächeln erstarb, als der Typ hinter ihm gegen seinen Stuhl trat. Brian drehte sich um und sah sich zum zweiten Mal innerhalb einer Minute mit Schwäche konfrontiert. Hinter ihm saß ein hagerer Typ, mit Armen wie ein zwölfjähriges Mädchen. Es war offensichtlich, dass er noch nie das Innere eines Fitness-Studios gesehen hatte.

      Der Schlaks nuschelte eine halbherzige Entschuldigung. Brian wägte kurz ab, ob er ihm eine Lektion in Respekt erteilen sollte, wie er es in solchen Situationen grundsätzlich zu tun pflegte. Seine Faust kribbelte bereits in freudiger Antizipation, aber er entschied sich dagegen. Der Typ schien die Mühe nicht wert. Außerdem hatte Brian Wichtigeres zu tun. Er musste einen Schlachtplan entwerfen, um diesen Kurs zu überstehen. Denn wenn er es diesmal nicht schaffte, konnte er sich das Stipendium mitsamt seiner Zukunft in den durchtrainierten Hintern schieben.

      -

      Im Grunde war es der Wunsch ihrer Eltern gewesen, Ale für ein Schuljahr in die USA zu verfrachten. Es wird gut für deine Englischkenntnisse sein, so ihre Worte, gut für deine Karriere. Der amerikanische High School Abschluss wird dir jede Menge zusätzliche Türen öffnen.

      Ale hatte zustimmend genickt, dabei hatte sie nicht einmal den Ansatz einer Ahnung, was sie nach der Schulzeit mit ihrem Leben anstellen wollte. Aber die Aussicht auf die Freiheit, die ein langer Auslandsaufenthalt versprach, weckte ihre Abenteuerlust, und die Hochglanzfotos in den Broschüren der Vermittlungsagentur taten ihr Übriges und lockten mit dramatischen Weitwinkelaufnahmen von Wolkenkratzern und perlweißen kalifornischen Stränden.

      Schon sah sich Ale in den nie schlafenden Straßenschluchten des Big Apple, und gleich darauf Hand in Hand mit einem wasserstoffblonden Beach Boy Spuren im Sand von Malibu hinterlassen. Ein Beach Boy wie aus Rachels Lieblingsserie entsprungen, in der die Rettungsschwimmer aussahen wie die Chippendales auf Strandurlaub, und alle Frauen Brüste groß wie Volleyballhälften vor sich hertrugen.

      Statt unter der Sonne Malibus landete sie in einem nüchternen Städtchen namens Plainsville, irgendwo im Nirgendwo. Ihre neuen Eltern auf Zeit nahmen sie warmherzig in ihrem Zuhause auf und waren sichtlich bemüht, Interesse an Ales Heimat zu zeigen. Doch mit der Einkehr des Alltags verebbte ihre Neugier auf ferne Kulturen und die Gespräche wurden kürzer. Ihre gleichaltrige Gastschwester Rachel, in der Ale gehofft hatte, eine beste Freundin zu finden, entpuppte sich als oberflächliche Quasselstrippe, die die meiste Zeit mit ihrem klotzigen Boyfriend abhing. Der Kerl folgte Rachel wie ein Schatten und ließ keine Gelegenheit aus, sie zu begrapschen, ohne Rücksicht auf Ales Anwesenheit. Mit stolzer Stimme hatte Rachel ihr erklärt, dass er an der Schule so etwas wie eine sportliche Berühmtheit war, ein begnadeter Footballspieler und Kapitän der Apollo Starfighters. Ihm war es zu verdanken, dass seine Mannschaft im vorigen Jahr irgendein blödes Tournier gewonnen hatte.

      Football. Darum drehte sich hier alles. Ein stumpfsinniges und grobschlächtiges Spiel, in dem es vorwiegend darum zu gehen schien, den Gegner anzurempeln. Ein Spiel wie das Land. Trotz der Namensähnlichkeit hatte es rein gar nichts mit dem ungleich eleganteren Fußball gemeinsam. Rachels Versuche, ihr die komplizierten Spielregeln zu erklären, hatten nicht gefruchtet. Das Einzige, was Ale behalten hatte, war, dass der Stürmer Quarterback genannt wurde. Dies war die Position, auf der Rachels Freund spielte, was sie so oft betont hatte, bis Ale von dem Wort träumte. Die Cheerleaderin und der Quarterback - gab es ein größeres Klischee? Es klang wie von einem schlechten Autoren erdacht.

      Ales neues Zuhause bot sämtliche Annehmlichkeiten, die sich ein Teenager wünschen konnte, inklusive einem beheizbaren Swimming Pool im Garten. Ihr Zimmer besaß ein King-Size Wasserbett und einen begehbaren Kleiderschrank. Purer Luxus im Vergleich zu den fünfzig Quadratmetern, die sie sich daheim mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern teilen musste. Aber auch nach einem Monat war Ale die neue Umgebung fremd wie am ersten Tag. Sie vermisste die Wärme, in der Luft wie in den Menschen. Jedes Mal, wenn sie das Haus verlies, hatte sie das Gefühl, ein Vakuum zu betreten. Die Bürgersteige vor den gepflegten Rasenflächen schienen nur zu Dekorationszwecken gebaut. Fußgänger hatte Ale seit ihrer Ankunft keine gesehen. Nur selten fuhr ein Auto vorbei, und wenn, dann war es der Briefträger, der jeden Tag ein Kilo Werbung hinterließ.

      Bei Ale zu Hause wuselten Menschenmassen zu jeder Tages- und Nachtzeit in den Straßen. Sie war aufgewachsen mit einem Soundtrack aus Hupen und Motorenlärm. Hier dagegen herrschte meist eine derart beklemmende Stille, dass man glaubte, taub geworden zu sein.

      Deshalb hatte Ale das Ende der Sommerferien herbeigesehnt. Der Schulanfang würde alles ändern – sie würde neue Freunde finden, aufregende Dinge erleben, auf Parties gehen, Spaß haben. Am letzten Ferientag konnte sie vor Aufregung kaum einschlafen.

      Natürlich hatte Rachel vergessen, den Wecker zu stellen. Fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn bogen sie in ihrem Cabrio auf den Schülerparkplatz der Apollo High School, ein schmuckloser Klotz aus drei Schichten Ziegel und Beton.

      Zeit, ihre Bücher in den Spind einzuräumen, blieb Ale keine. Im Laufschritt näherte sie sich ihrer allerersten Schulstunde an der Apollo. Obwohl sie genau wusste, was auf dem Programm stand, warf sie einen erneuten Blick auf ihren Stundenplan und schickte gleichzeitig ein Stoßgebet zum Himmel, irgendeine göttliche Fügung möge diesen kurzfristig ändern. Ihr Gebet blieb ungehört. Im ersten Fach der Dienstagsspalte stand unverrückbar: Grundkurs Sport. Ausgerechnet. Nicht amerikanische Geschichte. Nicht englische Literatur. Selbst Mathe wäre okay gewesen, aber Sport? Ale konnte keine hundert Meter laufen, ohne Seitenstiche zu bekommen. Bälle fing sie so schlecht wie sie sie warf, Schwimmen hatte sie nie gelernt, und beim Turnen gelang ihr nicht einmal eine gerade Rolle vorwärts. Sie hatte sich mit ihrem fehlenden Bewegungstalent abgefunden und in ihrer Heimatschule Sport nach der fünften Klasse abgewählt. Nun begegnete sie ihrem Hassfach erneut, denn in diesem Land besaß Sport einen anderen Stellenwert und war Pflichtfach.

      Ale drehte den Stundenplan um und studierte die Karte, die Rachel ihr aufgemalt hatte. Wo verdammt war die Turnhalle?

      Verloren geisterte Ale durch die Flure. Egal, um welche Ecke sie bog, überall sah es gleich aus. Fenster gab es keine, dafür uringelbe Kacheln und dieses grässliche Neonlicht, das die Gesichter auf den Gängen noch fremder aussehen ließ. Als sie zum dritten Mal an derselben Spindreihe vorbeikam, gab Ale auf, schnappte sich eines der Neongesichter und fragte nach dem Weg.

      Kurze Zeit später jagte eine übergewichtige Lehrerin sie mit Kasernentonkommandos durch ein Zirkeltraining das für irgendeine besonders schlagkräftige